Fließtext Soziale Wahrnehmung - Soziale Normen
Der individuelle Charakter unserer menschlichen Wahrnehmung - Selektion, Konstruktion, biographische Determinierung - ist richtig und wichtig. Weil wir so unterschiedlich sind, ist soziale Informationsverarbeitung nichts selbstverständliches, sondern muss gelernt werden. Man kann allerdings auch sagen: Weil unser biologischer und psychischer Apparat (unsere 'Hardware') so ähnlich ist - wir sind eben alle Menschen -, sind ähnliche Formen von Wahrnehmung, Denken und Handeln zu erwarten. Sie sind auch deshalb zu erwarten, weil wir in einer ähnlichen kulturellen Umgebung leben, z. B. von den gleichen technischen Gegenständen umgeben sind, und weil wir häufig mit anderen Menschen zusammenarbeiten und dabei unsere psychischen Prozesse aufeinander abstimmen müssen. So wie wir durch gleiche Computerprogramme auch auf unterschiedlichen Rechnern zu ähnlichen Ergebnissen kommen, so können wir auch unser Handeln und Erleben programmieren, sozialen Normen unterwerfen.

 

 1.   Dies kann weitgehend unbewusst, nebenher durch Gewohnheit und Übung geschehen (z. B. beim Lernen von gesprochener Sprache).

 

 2.   Es kann aber auch bewusst gelenkt werden, indem man sozial anerkannte Normen übernimmt. Meist geschieht dies in speziellen Institutionen unter Mithilfe von Lehrern ( z. B. das Lernen der Standardschriftsprache in der Schule).

 

Es wird davon ausgegangen, dass unsere Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit nicht 'objektiv' ist. Wir sehen die Menschen (und Situationen) um uns herum nicht wie sie sind, wir machen uns ein Bild von ihnen.

 

Versuche, die Vorgänge zu unterscheiden, die ablaufen, wenn wir Personen oder Situationen einschätzen, sind im folgenden unter a) bis e) zusammengefasst. In der Praxis geht das so, dass wir aufgrund von Wahrnehmungen und Informationen anderen Menschen Eigenschaften zuschreiben. Dabei können uns dann verschiedene (zum Teil recht ähnliche) Fehler unterlaufen.

 

 a)   Die Einschätzung 'auf den ersten Blick':
  Der erste Eindruck bestimmt nachhaltig das Bild, das wir uns von einem Menschen machen. Wir sehen die äußere Erscheinung des anderen und fühlen spontan Sympathie oder Antipathie. Von diesem spontanen Gefühl wird dann unsere Wahrnehmung des anderen beeinflusst. Wir übersehen einfach bei Menschen, die uns gefallen, alles, was nicht zum ersten positiven Eindruck passt. Das gilt natürlich umgekehrt genauso. Hier wird die Selektivität unserer Wahrnehmung besonders deutlich.

 

 b)   Stereotype/vorgefertigte Bilder:
  Stereotype steuern die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung von sozialen Gruppen. Der Eindruck entsteht dadurch schneller und rationeller, da wir Personen so in überschaubare Kategorien einteilen können. Nicht jede Person muss als Einzelfall behandelt werden, deren Eigenschaften zunächst bis ins einzelne bestimmt werden müssen, bevor Interaktion möglich ist.

 

Jede Kategorisierung, die den Einzelfall nicht ausreichend beachtet, ist allerdings anfällig für Fehler, und so ziehen wir mit Hilfe von Stereotypen auch ungerechtfertigte Schlüsse. Wenden wir auf eine Person ein Stereotyp an, so nehmen wir sie als Mitglied einer sozialen Gruppe wahr, deren Mitgliedern bestimmte für sie typische Eigenschaften zugeschrieben werden. Das bietet den Vorteil, dass wir aus den unendlich vielen Eigenschaften, die Menschen haben können, bereits eine Vorauswahl getroffen haben. Begegnen wir nun einem Menschen, so können wir diese Vorauswahl nehmen und mit ihrer Hilfe überprüfen, ob dieser Satz von Eigenschaften zutrifft. Bei denen, wo es stimmt, machen wir gewissermaßen einen Haken, und nicht Zutreffendes kann gestrichen und durch Passenderes ersetzt werden. Hätten wir diese Vorauswahl nicht zur Verfügung, so müssten wir notgedrungen alle möglichen Eigenschaften von Menschen durchgehen und würden dazu vermutlich relativ lange brauchen. Einerseits kann also ein Stereotyp verhindern, einen als Individuum wahrzunehmen, und andererseits brauchen wir es, um bei der Begegnung mit einem Menschen nicht jedesmal sämtliche möglichen Eigenschaften durchtesten zu müssen. Beispiele für Stereotype sind: Nationenstereotype (z. B. ein Franzose), Geschlechterstereotype (z. B. eine Frau), Berufsstereotype (z. B. ein Lehrer), politische Stereotype (z. B. ein Rechter). Beispiel: Stereotype - Geschlechtsstereotypen

 

Ein weiteres Wesen der Stereotype und auch ein Gutteil ihrer Attraktivität liegt darin, dass sie uns ermöglichen, nicht nur die anderen einzuteilen, sondern auch uns selbst von anderen abzugrenzen. So wie wir Stereotype über andere Gruppen haben, haben wir auch Stereotype über uns selbst, über die Gruppe, der wir angehören. Das gemeinsame Stereotyp einer Gruppe schafft Zusammenhalt gegenüber anderen Gruppen, die 'so und so' sind.

 

 c)   Halo-Effekt:
  Eine hervorstechende Eigenschaft einer Person bestimmt den Gesamteindruck. Alles andere wird davon überstrahlt und nicht mehr bemerkt (halo <griech.>: 'Hof' um eine Lichtquelle), z. B. "Ein erfolgreicher Mann!" oder "Ein schwacher Schüler." 
Der Halo-Effekt hängt auch mit sozialen Normen zusammen. Ein schwacher Schüler ist nicht derjenige, der in Kunst und Religion schlecht ist. Es sind die zentralen Fächer, wie Mathematik, Deutsch oder Englisch, die den Gesamteindruck bestimmen. Wer hier gut ist, der ist ein guter Schüler. Schwächere Leistungen in anderen Fächern werden dann einfach weniger beachtet.

 

 d)   Logischer Fehler:
  Wir nehmen häufig an, dass bestimmte Eigenschaften einfach zueinander gehören, dass sie logischerweise zusammen auftreten:
   intelligent - kritisch - ehrgeizig;
   dick - dumm - gefräßig;
   sauber - anständig - höflich;
   schmutzig - arm - ungebildet.

 

 e)   Zuschreibungsfehler:
  Grundsätzlich ist es nicht möglich, die Eigenschaften anderer Menschen zu sehen, sie zu beobachten. Was wir tatsächlich sehen, ist das Verhalten von Menschen in bestimmten Situationen. Aus dem beobachteten Verhalten ziehen wir dann Rückschlüsse auf die Person. Sehen wir jemanden, der eine Verkäuferin anschnauzt, so können wir ihn zum Beispiel für streitlustig halten. Als eine andere Interpretation wäre zu denken: der weiß ganz genau, dass man mit Beschwerden nur dann etwas erreicht, wenn man laut wird.


 


 
Beispiel: Determinierung des menschlichen Verhaltens und Erlebens durch Gruppen- und Gesellschaftsstrukturen - Soziale Wahrnehmung als Ergebnis von Konformität / 'Asch-Experiment'

 

www.kommunikative-welt.de WaKoTraining ©Michael Giesecke