Fließtext Selbstwahrnehmung und Kongruenz
 

Ziel psychotherapeutischen Handelns ist u. a. die Herstellung einer verlorenen Echtheit. Im Alltag und für die Alltagskommunikation ist es ein großer Gewinn, über Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion zu mehr echtem Selbstausdruck zu gelangen, denn Inkongruenz führt zu Kommunikationsstörungen.

Selbstwahrnehmung bezieht sich zunächst auf die Wahrnehmung der körperlichen Sensationen (oft spüren wir körperlich, wenn etwas nicht stimmt, was wir sagen) und dann auf die Wahrnehmung der wahren Gefühle einem Sachverhalt oder Menschen gegenüber. Schulz von Thun spricht davon, dass wir mitunter dazu neigen, "uns etwas vorzumachen", wenn uns etwas scheinbar nicht "in den Kram" passt.

Selbstwahrnehmung bezieht sich schließlich auch auf die Wahrnehmung der sprachlichen Gewohnheiten. Schulz von Thun unterscheidet zwischen Techniken der Selbstverbergung einerseits und Imponier- und Fassadentechniken andererseits. Beides sind "unechte" Kommunikationsweisen und dienen dazu, die wahren Gefühle und Einstellungen gerade nicht zum Ausdruck zu bringen.

 

Sprachliche Mittel der Selbstverbergung sind zum Beispiel:

 

     "Man"  
" Man wird wütend, wenn man so lange warten muss." anstatt: "Ich bin wütend, weil du mich so lange hast warten lassen."

 

     "Wir"  
"Wir wollen jetzt alle spazierengehen!" anstatt: "Ich möchte gerne spazierengehen."

 

     Fragen   sind oft dazu geeignet, mit der eigenen Meinung hinter'm Berg zu halten:
"Warum trägst du nicht das rote Kleid?" anstatt: "Ich mag dieses Kleid an dir nicht."

 

     "Es"  
"Es war langweilig." anstatt: "Ich habe mich gelangweilt."

 

     Du-Botschaften  , mit denen man eigenes Erleben in ein Urteil über andere übersetzen kann:
"Du bist wirklich albern ..."


Du-Botschaften beinhalten Kampf-Ansagen und rufen zumeist Beziehungskrisen hervor. Wir bedienen uns dieser Kommunikationsform, wenn es darum geht, eigene Gefühle nicht nur vor anderen, sondern auch vor uns selbst zu verbergen. Psychologisch spricht man hier von Projektionen. Oft wird in langer therapeutischer Behandlung am Ursprung von Projektionen gearbeitet - bis der ursprüngliche Ich-Zustand wieder erlebt werden kann und nicht mehr angstbesetzt ist (Vielleicht hat sich der/die SprecherIn in einer vergleichbaren Situation selbst einmal albern gefühlt - vgl. Schulz von Thun, S. 112/113).

 

Imponier- und Fassadentechniken sind z. B. eine schwer verständliche Sprache oder die beiläufige Verpackung hochwertiger Botschaften:
"Ja damals, beim Bau unseres Hauses in Bangkok war das auch so ..." (Schulz von Thun, S. 117 ff.)
Das andere Extrem bilden Selbstverkleinerungs-Techniken, in denen die Botschaft "Ich bin schwach - du bist stark." steckt.

 

Alle Autoren betonen, dass das Lernziel 'Selektive Authentizität oder Stimmigkeit' ein lebenslanger Weg sei, mehr eine Aufgabe als ein Ziel - auf dem Weg bleiben ist wichtig. Man sollte versuchen, auf eigene, persönliche Weise mit der paradoxen Spannung zu leben, einerseits danach zu streben, möglichst viel Echtheit und Selbstkongruenz zu verwirklichen, sich aber andererseits an Rogers zu erinnern, der, in Freundlichkeit mit sich selbst sagt: "Keiner erreicht diesen Zustand völlig." Zu Echtheit und Authentizität gehört es dann auch, in kritischen Situationen diese Spannung und Begrenztheit bewusst zu sehen und anzunehmen - und sie gerade nicht zu überspielen.

 

Aus:  Schulz von Thun,  Friedemann:  Miteinander reden 1 - Störungen und Klärungen.  Rowohlt TB, Reinbek 1981.
 
Übung: Einfühlendes Verstehen und klientenzentrierte Gesprächsführung     Fließtext: Kongruenz und Sprache - Handreichung: Ich-/Du-Botschaften

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