Einseitige Empfangsgewohnheiten (Schulz von Thun)

 

Einseitiger Empfang auf dem Sachohr kann zum Beispiel zu folgendem Dialog zwischen Mutter und ihrer Tochter führen:
 

 

Mutter:   

 

"Und zieh dir 'ne Jacke über, ja! - Es ist kalt draußen."

 

 

Tochter (in patzigem Tonfall):   

 

"Warum denn? Ist doch gar nicht kalt!"

 

 

Mutter:   

 

"Aber Moni, wir haben nicht einmal 10 Grad, und windig ist es auch."

 

 

Tochter (heftig):   

 

"Wenn du mal auf das Thermometer geguckt hättest, dann wüsstest du, dass es sehr wohl 10 Grad sind - es sind sogar 11,5 Grad."

 

 

In dieser Diskussion reagieren beide, Mutter und Tochter, scheinbar nur auf den Sachinhalt der Nachricht. In Wirklichkeit geht es hier vermutlich um ein Beziehungsproblem, das auf der Sachebene behandelt wird. Die Tochter fühlt sich durch die Aufforderung, eine Jacke anzuziehen, wahrscheinlich 'wie ein kleines Kind' behandelt, reagiert deswegen mit einer patzigen Antwort und behauptet, dass es nicht kalt sei. Entscheidend hierbei ist, dass sie eigentlich nicht den Sachinhalt der Botschaft ablehnt, denn der Unterschied zwischen 10 und 11,5 Grad ist nicht gerade groß, und die meisten Menschen würden bei diesen Temperaturen wohl eine Jacke anziehen. Die Botschaft, die die Tochter ablehnt, ist die Beziehungsbotschaft: sie will nicht bevormundet werden. Statt diese Beziehungsbotschaft zu thematisieren, handeln Tochter und Mutter diesen Beziehungskonflikt auf der Sachebene ab.

 

Das Beziehungsohr, das in dieser Situation geholfen hätte, ist allerdings genauso wenig zu gebrauchen, wenn es ausschließlich benutzt wird. Einseitiger Empfang auf dem Beziehungsohr heißt quasi auf 'Beziehungslauer' zu liegen. Man neigt dazu, alles auf sich zu beziehen. Guckt mich jemand an, fühle ich mich beobachtet; guckt jemand weg, fühle ich mich ignoriert. Wer sich dann überhaupt noch wohl fühlen möchte, muss sich schließlich eine dicke Hornhaut zulegen, damit alles an ihm abprallt. Vielleicht nicht einfacher, aber effektiver dürfte es sein, die anderen Ohren (z. B. das Selbstoffenbarungsohr) zu schärfen, so dass man nicht mehr alles auf sich bezieht.Übung: "Ich habe fünf Mal bei Dir angerufen" ('Die vier Seiten einer Nachricht' von Friedemann Schulz von Thun)

 

Die Beziehungsbotschaft und die Selbstoffenbarungsbotschaft liegen oft nah beieinander. Gerade in Beziehungsbotschaften kann ein hoher Anteil an Selbstoffenbarung stecken. Beispiel für eine solche Nachricht eines Seminarleiters an die Seminarteilnehmer:

 

    "Ihr versteht das ja alles nicht, was ich hier sage, und das hat sowieso keinen Zweck!"

 

Die Beziehungsbotschaft dieser Nachricht an die Seminarteilnehmer könnte lauten:

 

    "Ihr seid nicht intelligent genug um zu verstehen, was ich sage".

 

Und darauf reagiert man dann verständlicherweise gekränkt. Auf der anderen Seite könnte hinter dieser Nachricht auch die Selbstoffenbarung des Referenten stecken, dass er schlicht und einfach nicht weiß, ob er den Sachinhalt klar und verständlich darbringt. Wer diese Selbstoffenbarungsbotschaft versteht, hat natürlich keinen Grund, gekränkt oder beleidigt zu reagieren.

 

Die Gefahr eines einseitigen Empfangs auf dem Selbstoffenbarungsohr ist dagegen, dass man nichts mehr auf sich bezieht. Wird man kritisiert, dann ist das das Problem des Gegenübers und nicht das eigene. Was auch immer der andere sagt, man wird immer nach den tieferen Beweggründen des Senders forschen und landet im Extrem bei dem Motto: "Wer auf mich böse oder anderer Meinung ist, der offenbart sein krankes Hirn". Mit einer solchen Einstellung kann einen nichts mehr betreffen oder gar bekümmern.

 

Appellohrige Empfänger sind solche Menschen, die es kaum abwarten können, den Appell in einer Nachricht zu hören und ihn auch sofort zu befolgen. Als Beispiel bietet sich die Mutter an, die, kaum dass der Familienvater in die Richtung der Kaffeekanne guckt, schon fragt, ob er noch Kaffee habe, ob sie ihm noch welchen einschenken solle, und dabei schon aufgesprungen ist, um die Kaffeekanne zu holen. Wer immer derart auf dem Appellsprung ist, hat oft wenig Gespür für seine eigenen Bedürfnisse und ist permanent damit beschäftigt, die anderen zu beobachten, um deren Wünsche möglichst noch vor ihnen selbst zu erkennen. Das Erkennen der eigenen Wünsche kommt dabei dann zu kurz.
 

 
Fließtext: Einleitung - Die vier Seiten einer Nachricht (F. Schulz von Thun)

 

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