Theoriediskussion Kommunikation als soziale Vernetzung
  Theorieinput
 
1. Vernetzungstypen

Aus kommunikationsanalytischer Sicht lassen sich alle sozialen Systeme: Triaden, Gruppen, Institutionen (organisierte soziale Systeme), Gesellschaften mit ihren Subsystemen (Segmenten, Schichten, funktional ausdifferenzierte Systeme wie z. B. Wirtschaft, Wissenschaft) und mit Einschränkungen auch Dyaden als kommunikative Netze beschreiben. Dies geschieht, indem man den Informationsfluss zwischen den einzelnen Kommunikatoren verfolgt. Es interessiert dabei nicht der 'Inhalt' der Botschaften, sondern nur die Tatsache (ja/nein) des Informationsflusses, seine Häufigkeit und seine Richtung (hin zum/weg vom Kommunikator oder beides).
Jedes Kommunikationssystem mit mehr als zwei Gesprächspartnern zeichnet sich dadurch aus, dass die nur theoretisch mögliche vollständige (all-channel) und gleichwertige (duplex) Vernetzung (vgl. Abb. 1) eingeschränkt wird, oder/und dass die einzelnen Kanäle mit unterschiedlicher Häufigkeit (Frequenz) in den verschiedenen Richtungen in Anspruch genommen werden.

 
Vollständige VernetzungAbb. 1: Vollständige Vernetzung  
Schon vor mehr als vierzig Jahren haben Sozialpsychologen die mit dieser Einstellung an die Analyse von Gruppen und Institutionen herangingen, die folgenden drei Vernetzungstypen als Restriktionen des 'all-channel' Netzes empirisch nachgewiesen. Gegenwärtig tauchen diese Typen auch in den Handbüchern der technischen Informatik und der Nachrichtentechnik auf.
 
 
Kettenförmiges NetzAbb. 2: Kettenförmiges Netz  
 
Kreisförmiges NetzAbb. 3: Kreisförmiges Netz  
 
 
  Abb. 4: Stern- oder baumförmiges hierarchisches oder zentralisiertes Netz
 
Praktisch sind diese verschiedenen Vernetzungsformen in einigermaßen komplexen Kommunikationssystemen immer miteinander verbunden (vgl. etwa die Abbildung 5).
Kombinierte Vernetzungstypen
Kombinierte VernetzungstypenAbb. 5: Kombinierte Vernetzungstypen
 
Die Vernetzungstypen bestimmen die Zugangsmöglichkeiten, die der/die Einzelne zu den Informationen hat, die in dem Sozialsystem zirkulieren und dessen Bestand garantieren. Ähnlich wie die Schaltpläne auf den Chips geben sie Auskunft über die Leistungsmöglichkeiten ihrer Elemente. Aufgrund der Flexibilität sozialer Systeme könnten sich die Vernetzungsformen in ihnen theoretisch je nach den gerade anstehenden Aufgaben ändern. Praktisch tendieren alle Kulturen, Institutionen und Gruppen aber dazu, einmal etablierte Vernetzungsformen lange Zeit auch dann beizubehalten, wenn etwa neue Aufgaben andere Netzeigenschaften erforderten. Solche dysfunktionalen Erstarrungen aufzubrechen, ist ein Bemühen der kommunikativen Organisationsentwicklung.
 
Die Institution aus kommunikationstheoretischer Sicht
 
Als das Musterbeispiel hierarchischer Vernetzung gelten organisierte Sozialsysteme wie Institutionen und Diktaturen.
Sie sind durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
 
Prämierung sprachlicher, schriftlicher oder anderer technisierter symbolischer Informationsverarbeitung geringe Berücksichtigung der Multimedialität und von non-verbalen Formen der Kommunikation.
Starre Fixierung der verschiedenen Instanzen/Aufgaben der sozialen Informationsverarbeitung strikte Trennung von Sensor, Effektor, Speicher, Reflektor etc..
Formal festgelegte Einschränkung der theoretisch möglichen Kommunikationskanäle der sozialen Gruppe soziale Verkabelung, Verlust flexibler Kopplungen.
(Vgl. die Kritik der Soziometrie, Kapitel 10)
Die Möglichkeit des Feedback (der unmittelbaren Interaktion) wird eingeschränkt, was den Aufwand an Planung, Voraussicht etc. vergrößert, die Trennung von ausführender, planender, und kontrollierender Tätigkeit fördert. Die Selbststeuerung wird der Fremdsteuerung untergeordnet.
Alles zusammengenommen führt das zu einer Vernetzung in Form der hierarchischen Informationspyramide. Der Informationsfluss von unten nach oben muss selektiv sein. An der Spitze kann unmöglich alles verarbeitet werden, was unten anfällt.
Umgekehrt müssen die Informationen auf dem Weg von oben nach unten beständig angereichert, konkretisiert werden.
Für das Informationsmanagement sind flache Hierarchien günstiger als Pyramiden:
- Möglichst dort entscheiden, wo die Informationen anfallen.
- Je kürzer der Informationsweg, desto geringer der Reibungsverlust und desto größer die Rückkopplungsmöglichkeiten.
- Die vollständigste und schnellste Rückkopplungsmöglichkeit bietet noch immer die face-to-face Kommunikation.
- Die horizontale Kommunikation muss gegenüber der offiziell prämierten vertikalen besonders gefördert werden.
- Ein solches Informationsmanagement erfordert von der Führungsebene Mut zum 'uninformiert-sein' und in Vertrauen in die Mitarbeiter. Die Arbeitsteilung bei der Informationsverarbeitung (z. B. in Handlungs- und Entscheidungsfunktionen) muss flexibel gehalten werden.
 
2. Analyse und Darstellung der Strukturen kommunikativer Netze: Soziogramme, Soziomatrix und Soziometrie
Kommunikative (u. a.) Netze lassen sich mathematisch als 'Mengen' auffassen: Sie bestehen aus einer bestimmten Anzahl von Elementen (den Kommunikatoren/Knotenpunkten/Entscheidungszentren) und von Relationen. Solche Mengen werden auch 'Graphen' genannt. Die mengentheoretische Bestimmung ist gleichzeitig die einfachste, nämlich strukturelle Definition eines 'Systems'.
 
Graphen und die strukturelle Dimension von Systemen lassen sich in graphischer Form oder als 'Matrizen' abbilden.
In der Praxis ist die Abgrenzung von sozialen Systemen, also die Entscheidung wer oder was zum System gehört, allerdings für die Beteiligten nicht immer einfach. Normalerweise benutzt man für graphische Darstellungen die folgenden Symbole
 
Person, Rolle, Gruppe, die als Element des Kommunikations-, Informations- oder EntscheidungssystemsEntscheidungssystems fungieren.
   
Kommunikative Beziehung. Die Richtung kann ggf. durch Pfeile, die Frequenz durch Ziffern angegeben werden.
   
Die Grenzen des Kommunikationssystems. Häufig gibt es auch Außenkontakte, die zusätzlich durch unterbrochene Pfeile gekennzeichnet werden können.
 
Werden soziale Systeme in dieser Weise abgebildet, spricht man von Sozio-und Organogrammen bzw. von Soziomatrizen. Alle Soziogramme lassen sich in Sozimatrizen überführen (und umgekehrt) und damit den Verfahren der Matrizenrechnung zugänglich machen.
Im Prinzip kann der Forscher frei entscheiden, welche Form des Sozialkontakts er beobachten und damit zum Katalysator der Systembildung machen will.
Bekannt wurden vor allem der Vorschlag von Jakob Levy Moreno (1890 - 1974), die subjektiven Präferenzbeziehungen in Gruppen als Kriterium/Katalysator zu nehmen: Die Mitglieder des Sozialsystems werden aufgefordert, andere Gruppenmitglieder für gruppenrelevante Tätigkeiten auszuwählen oder abzulehnen. Die Anzahl der Wahlen bestimmt den 'soziometrischen Status' des einzelnen. Moreno hat dieses Verfahren 'Soziometrie' genannt. (Die Grundlagen der Soziometrie, Köln 1954, zuerst Washington 1934). Er sah darin weniger ein apartes wissenschaftliches als vielmehr ein gruppendynamisches Instrument: "Der soziometrische Test in seiner dynamischen Form ist eine revolutionäre Kategorie der Forschung. Er stürzt die Gruppen von innen her um" - indem der ihr eine Bestandsaufnahme des eigenen Verhaltens vorlegt - "und verändert ihre Beziehung zu anderen Gruppen; er stellt eine Sozialrevolution kleineren Ausmaßes dar". (Sociometry and marxism. Sociometry 12, 1949: 104 - 143, hier 114). Moreno besitzt insoweit Verdienste für die Gruppendynamik und die 'Aktionsforschung'. Seine Definitionen wurden in der Folgezeit vielfach kritisiert und erweitert, bspw. lassen sich Substrukturen auch indirekt, durch die Ermittlung ähnlichen Wahlverhaltens ermitteln. Die Frage, wie dauerhaft Sympathiewahlen die Gruppenstrukturen beeinflussen, ist umstritten. M. Koskenniemi (Soziale Gebilde und Prozesse in der Schulklasse, Helsinki 1936) hat etwa festgestellt, dass solche Wahlen 'flüchtige' Erscheinungen sind. Bei Wiederholungen von Wahlen an nachfolgenden Tagen, trafen weniger als ein Viertel der Schüler wieder die gleichen Entscheidungen.
 
Die einfachste Form, in kommunikationsanalytischer Sicht Soziogramme und Soziomatrizen zu entwickeln, ist die Ermittlung kommunikativer Bahnen und deren Benutzung.
In einer Fünfergruppe beobachtet man z. B. folgendes Gesprächsverhalten: A spricht B an und erhält von ihm eine Antwort; sodann wendet sich B an C. C spricht E an und erhält eine Rückmeldung. B wendet sich dann an D und D an C. Schließlich fragt E B, ohne eine Antwort zu bekommen. Dies Geschehen lässt sich in folgendem Soziogramm darstellen:
 
 
In Matrizenform geschrieben:
 
 
A
B
C
D
E
A
0
1
0
0
0
B
1
0
1
1
0
C
0
0
0
0
1
D
0
0
1
0
0
E
0
1
1
0
0
 
Soziogramm und Matrizen bilden die Grundlage weiterer Reflexion. Z. B.: Während B der kommunikativ aktivste ist, wird er nur durchschnittlich häufig selbst angesprochen. Die meisten 'Ansprachen' erhält C usf....
 
An diesem Beispiel wird im übrigen schon deutlich, dass Systemanalysen ohne die Berücksichtigung der dynamischen Dimension nur begrenzte Aussagekraft besitzen.
 
 
3. Die Messung der formellen Eigenschaften: Der Zentralitätsindex
 
Der 'Zentralitätsindex eines Teilnehmers', 1950 von Bavelas vorgeschlagen, ist das Verhältnis der Summe aller in einem Netz von allen Teilnehmern bei der Kommunikation zu überwindenden Distanzen zu der Summe der vom betreffenden Teilnehmer zu überwindenden Distanzen.
Nehmen wir an, bei einem kettenförmigen Netz kommuniziert der Teilnehmer A vermittelt über die Teilnehmer B und C mit dem Teilnehmer D. Die Maßeinheit der Distanz ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Teilnehmern (= 1). Die Distanz würde also in diesem Fall 3 betragen. Man ermittelt auf diese Art und Weise die Distanzen aller Teilnehmer und addiert sie. Den Zentralitätsindex eines Teilnehmers erhält man, wenn man diese Summe durch das Zentralitätsmaß des betreffenden Teilnehmers teilt.
 
Man kann dann auch den Zentralitätsindex des Gesamtnetzes bestimmen, indem man die Zentralitätsindizes aller Teilnehmer addiert. Den größten Zentralitätsindex hat das sternförmige Netz, den geringsten das kreisförmige.
 
Die Form des Netzes bestimmt für jeden Teilnehmer also den Zugänglichkeitsgrad der Information. In einer zentralisierten Struktur haben die Ausführenden an der Basis der Pyramide keine Möglichkeit, Informationen über die Tätigkeit der anderen zu erhalten, außer wenn der Führer (der über alle Informationen verfügt) sie ihnen zukommen läßt (was für ihn einen enormen Arbeitsaufwand bedeutet). Es läßt sich nun für jeden Teilnehmer ein Zentralitätsmaß angeben. Dazu addiert man für jeden einzelnen die Anzahl der nötigen Zwischenstellen, um einen anderen zu erreichen; diese Zahl wird zum Nenner eines Bruches, dessen Zähler die Gesamtzahl aller Zwischenstufen für das ganze Netz ist. Der Quotient ist der Zentralitätsindex des Teilnehmers. Berechnen wir einmal diesen Index für die Mitglieder A, B und D in einer zentralistischen Struktur:(1)
 
A
B
D



AB = 1
BA = 1
DA = 2
AC = 1
BC = 2
DB = 1
AD = 2
BD = 1
DC = 3
AE = 2
BE = 1
DE = 2
AF = 2
BF = 1
DF = 2
AG = 2
BG = 3
DG = 4
AH = 2
BH = 3
DH = 4
Al   = 2
Bl   = 3
Dl   = 4
Insgesamt:    
14
15
22
 
Die Gesamtziffer für alle Teilnehmer des Netzes ist A (14) + B (15) + C (15) + 6D (6x22)=176
 
sogenanntes "zentralisiertes" NetzSogenanntes „zentralisiertes“ Netz
 
Zentralitätsindex :
des Teilnehmers A:          176/14 = 12,5
des Teilnehmers B:          176/15 = 11,87
der Teilnehmer D,E usw.:176/23 =   7,65
 
Man sieht, wie schnell die ‘Zentralität’ abnimmt, wobei unsere Figur nur drei verschiedene Ränge aufweist!
 
4. Hypothesen über die sozialpsychologischen Auswirkungen der verschiedenen Vernetzungstypen
 
Der "Typ des Netzes beeinflusst das Verhalten der Mitglieder, vor allem was die Gewissenhaftigkeit, die allgemeine Aktivität, die Zufriedenheit angeht; und im Hinblick auf die Gruppe determiniert der Typ des Netzes die Rolle des Leiters ebenso wie die Organisation der Gruppe."
(Harold J. Leavitt: Managerial Psychology. Chicago 1964)
"Die peripheren Individuen, die end-men (die Männer am Ende der Kette) gelangen nur schwer zur Mitarbeit und besitzen nur geringe Gruppenmoral. Eine möglichst 'egalitäre' Kooperation geht auf Kosten der Zeit, lässt aber die Moral der Gruppe steigen. In einem Satz: Zentralismus und Hierarchie in einer Gruppe haben positive Auswirkungen auf Ertrag und Effektivität einer Gruppe bis zu einem bestimmten Punkt, der tiefer liegt, als man gemeinhin annimmt. Wird diese Grenze überschritten, steigt die Unzufriedenheit der 'Basis', während die Masse der Arbeit den Chefs über den Kopf wächst."
(Roger Mucchielli: Kommunikation und Kommunikationsnetze. Salzburg 1974: 64)
 
"Der Teilnehmer mit dem höchsten Zentralitätsindex wird automatisch zum Leader, zumindest wird seine spontane Leadership-Rolle begünstigt. Auf der anderen Seite kann ein Teilnehmer mit schwachem Zentralitätsindex praktisch nicht Leader sein. Die Gruppenmoral (ausgenommen die der bewussten Führungspersönlichkeit, wenn es eine gibt) ist umgekehrt proportional zum Zentralitätsindex des Netzes." (Mucchielli 1974: 62)
Nach dem gleichen Muster lassen sich auch noch eine Reihe von weiteren Indizes ermitteln. Der sogenannte 'Verknüpfungsindex' beispielsweise ist die Zahl von Kanälen, deren Schließung die Isolation oder die Desintegration eines Teilnehmers bewirkt. Bei kettenförmigen Netzen beispielsweise reicht es, einen einzigen Kanal zu schließen, um einen Teilnehmer zu isolieren. Der Verknüpfungsindex beträgt also hier unabhängig von der Teilnehmerzahl immer 1. In einem kreisförmigen Netz beträgt er demgegenüber 2. Am schwierigsten ist die Isolierung selbstverständlich in einem 'all-channel-Netz', wo es 'n-1' Kanäle (wobei n die Anzahl der Teilnehmer ist) bedarf, um irgendeinen Teilnehmer zu isolieren.
Je geringer der Verknüpfungsindex ist, umso leichter zerfallen die entsprechenden Sozialsysteme.
Leavitt hat dann noch den Index der 'relativen Peripherität' eines Mitglieds eingeführt: Er berechnet sich aus der Differenz zwischen dem Zentralitätsindex des betrachtenden Teilnehmers und dem Zentralitätsindex des zentralen Teilnehmers des Netzes. Diese Differenz ist in einem all-channel-Netz immer null (weil alle Teilnehmer gleichmäßig vernetzt sind); er steigt mit jeder Verzweigung.
Der Peripheritätsindex ist also umgekehrt proportional zur gleichberechtigten Teilnahme der einzelnen Mitglieder des Netzes an Informationen und Entscheidungen.
 
*Auswirkungen des Zentralitätsindex auf Arbeit und Moral der Gruppe: die "Zentralität" beeinflusst das Verhalten: jemand, der leichten Zugang zu Informationen hat und sie verwerten kann, befindet sich in einer psychologisch und materiell verschiedenen Situation von einem, dem dieser Zugang verwehrt ist.
Daher erzeugt die Stellung des Bestinformierten in diesem:
größere Unabhängigkeit,
größeres Verantwortungsbewusstsein,
größere Befriedigung;
umgekehrt fühlt sich das "Ende der Kette" unterdrückt, unverantwortlich und unbefriedigt.
Das Zentralitätsmaß einer bestimmten Stellung hat Konsequenzen im Bereiche der Arbeit:
Beschleunigung bei der Zentralperson - Verlangsamung an der Basis,
geringere Irrtumswahrscheinlichkeit - größere Irrtumswahrscheinlichkeit,
Initiative - Bequemlichkeit,
Dynamik - Verbitterung, Aggression.
So sind Verhaltensweisen, persönliche Reaktionen, Moral, Befriedigung durch die Arbeit und Ausmaß der Zufriedenheit mit der Gruppe Funktionen des Netzes und der Bedingungen, die es schafft.
 
 
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(1)
Berechnungsbeispiel nach: R.Mucchielle: Grupendynamik, Salzburg 1972: 51 f

 

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