Medien Handreichung für Teilnehmer für die Übung ’Gruppenprozessmodelle’
   
Gruppenprozessmodelle (von Lothar Nellessen)

 

I. Grundmuster des Gruppenprozesses
Gruppenprozess ist ein Begriff aus dem Bereich der Gruppendynamik. Er beschreibt das Phänomen, dass es in allen Gruppen neben den rational – aufgabenbezogenen Vorgängen auch immer zwischenmenschliche Ereignisse, Entwicklungen gibt. Sachebene, (Lernen, Wissensvermittlung, Güterproduktion) und Beziehungsebene (Sympathie, Antipathie, Untergruppenbildung, Stimmungen) beeinflussen sich gegenseitig, stehen in Wechselbeziehung.
Je weniger in Lern- und Arbeitsgruppen Leistung und „Disziplin“ durch Befehl und Anordnung gesichert werden können, um so wichtiger werden die Steuerungs- und Führungsimpulse auf der Beziehungs- bzw. Prozessebene.
 
In Anlehnung an Prozessverläufe in der Persönlichkeitsentwicklung werden immer wieder drei Verlaufsmöglichkeiten herangezogen:
Wellenbewegung
Stufenfolge
Spiralbewegung
 
I.A Wellenbewegung
Wellenbewegungen können wir in allen Gruppen ausmachen. Auf eine intensive Arbeitsphase folgt Ruhe, Unlust. Lernfreude löst Desinteresse ab. Selbsterfahrungsgruppen versacken nicht selten nach einer intensiven, alle befriedigenden Sitzung beim nächsten Mal in irgend einem Loch – während die schon totgeglaubte Projektgruppe wie aus heiterem Himmel plötzlich doch noch arbeitsfähig und produktiv wird. Das Auf und Ab wird von Sättigung und Neugier bestimmt. Wenn man lange genug über einen Konflikt gesprochen hat, dann hat man langsam die Nase voll davon und versucht die Situation (auf) zu lösen. Ein lange vernachlässigtes Thema gewinnt allein deshalb an Reiz, weil es wieder wie neu klingt. Es meldet sich von selbst und verhindert „Entwicklungslücken“. Das gilt selbst für gesamtgesellschaftliche Prozesse. Das heiß umstrittene Autoritätsthema der 68er Jahre lockt heute niemanden mehr hinter dem Ofen hervor; für Bio-Kost, Spiritualismus hatte damals kaum jemand etwas übrig.
Wasserwellen können langlaufend oder steil, rasch oder gemächlich aufeinanderfolgen, sanft rollen oder in sich selbst stürzen – das gilt auch für Gruppenprozesse. Noch eine weitere Parallele hat Gültigkeit: Man erreicht sein Ziel als Schwimmer leichter oder überhaupt, indem man sich den Wellen überlässt bzw. behutsame Richtungsänderungen versucht. Ein Gruppenleiter, der sich dem wellenförmigen Energiefluss seiner Gruppe entgegenstemmt, ist schlecht beraten, steht evtl. auf verlorenem Posten. Er verbraucht dadurch viel zu viel eigene Energie und verzehrt und blockiert die der anderen – die ihn, wenn er sie stört, bei Seite räumen können.
Bei der Analogie zum Wasser gibt es allerdings eine wichtige Einschränkung. Gruppenmitglieder und –leiter können – wenn sie den eigenen Energiefluss, Gruppenprozess beobachten, registrieren und die Gründe dafür erkunden – diesen Prozess selbst beeinflussen und steuern. Eine Gruppe, die ihrer eigenen Lustlosigkeit auf die Schliche kommt, kann diese eher überwinden, als die, die Sie auslebt. Bzw. ihr unterworfen bleibt. Das gilt für Gruppen so, wie für Individuen: Wenn ich meine Angst verspüre, akzeptiere, dass sie da ist, ergründe, was mich ängstigt und all dies als gegeben hinnehme – dann hat die Angst ihr Ziel erreicht: Sie hat mir „klargemacht“, was mich ängstigt, sie hat ihre Warnfunktion erfüllt und kann dann abklingen, verschwinden.
Mit dem Grundmuster der Wellenbewegung können wir gut die Energieverlaufskurve einer Gruppe erfassen. Es eignet sich auch dort, wo die Gruppe immer wieder ähnliche Inhalte zu bearbeiten hat.
 
I.B Die Stufenfolge
Stufenmodelle beschreiben Höherentwicklungen. Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass bestimmte Reifungsschritte (sitzen, laufen, sprechen, trotzen etc.) in bestimmten Zeitphasen auftreten. Der Erwerb dieser Fertigkeiten steht dann im Vordergrund und wird von neuen abgelöst. Die neuen Möglichkeiten bauen auf den vorhergehenden auf. Dieses Muster können wir analog in Gruppen beobachten.
So kann eine Gruppe nacheinander diverse Stufen der Gesprächsführung und Problembearbeitung erobern. In der Selbsterfahrungsgruppe wird ein Thema behandelt, wenn es „dran ist“. Später hat man als Gruppenmitglied/-leiter manchmal gar keine Chance mehr, das Thema erneut anzubringen.
Das Stufenmodell ist aber wohl eher für die Individualentwicklung geeignet als für die Gruppe. Die körperliche Entwicklung erfolgt eben in Reifungsschritten; für die körperlose Gruppe spiegelt das Spiralenmodell die Gegebenheiten besser wieder.
 
I.C Die Spiralbewegung
Die Wellenbewegung umfasst die Abfolge von Impuls und Gegenimpuls, der allen psychischen Phänomenen eigen ist. Die Stufung gibt den schrittweisen Aufbau seelischer Erscheinungen wieder.
In Wirklichkeit sind die Dinge wohl oft komplizierter. Man kann nämlich nie ein zweites Mal in den selben Fluss steigen. Das zweite Mals ist anders. Inzwischen hat es Weiterentwicklung, Rückschritt, Differenzierung, Stillstand gegeben.
Die Gruppe lernt z. B. die Anfangsunsicherheit schneller abzubauen, der Umgang mit Konflikten wird reibungsloser, der Beziehung der Gruppenmitglieder zueinander wird differenzierter, stabiler – oder das genauer Gegenteil davon.
Die Spirale kann sich also nach oben entwickeln, wie eine Wendeltreppe, sie kann aber auch nach unten zeigen; sie kann sich erweitern oder verengern und eine Mischform dieser Bewegungsrichtungen sein.
 
Wellen-, Stufen- und Spiralbewegung enthalten die Grundformen der nun vorzustellenden Gruppenprozessmodelle. In der analytisch-diagnostischen Arbeit mit Gruppen erweisen sie sich als erst globale Annäherungen als hilfreich, weil sie uns rasch orientieren und auch oft schon etwas über den Entwicklungsstand der Gruppe aussagen.
 
II.A Prozessmodelle der Gruppe
Zuvor einige generelle Aussagen zu Prozessmodellen.
1. Prozessmodelle sind Sehhilfen. Sie beschreiben Abläufe in Gruppen, die uns ohne eine solche Systematik entgehen. Ohne sie, drohen wir in der Fülle der Ereignisse unterzugehen oder falsche Schlüsse aus unseren Beobachtungen zu ziehen.
2. Sie sind idealtypisch. „Eigentlich“ sollte eine Gruppe sich so entwickeln, verhalten, entfalten, wie beschrieben. Natürlich ist es in der Praxis anders. Wenn die Ängste der Anfangsphase übersprungen werden und die Gruppe einen Blitzstart hinlegt, müssen Aspekte der Anfangssituation spätestens dann nachgeholt und bearbeitet werden, wenn dem ersten die Luft ausgeht, und man sich auf ein anderes Tempo einigen muss. Gerade in diesen Fällen entfalten Gruppenmodelle für den Gruppenleiter ihre positive Funktion: Sagen sie uns doch, dass diese Gruppe wohl zu schnell war, dass sie einen Rückfall haben wird, dass wir gut daran tun, das als Merkposten festzuhalten. Der Einbruch, die Krise trifft uns dann eben nicht aus heiterem Himmel, sondern aus einem immer schon leicht bewölkten, und wir können besser reagieren.
3. Die Modelle betonen unterschiedliche Aspekte des Gruppengeschehens. Wenn eines deshalb nicht so recht zu passen scheint, sollte man nicht solange an der Gruppe drehen, bis sie zum Modell passt, sondern prüfen, ob ein anders die vorgefundene Realität nicht besser erfasst.
4. Gruppen entwickeln sich nicht kontinuierlich, sondern „dynamisch“. Es gibt Blitzstart, Spätentwicklung, Blockaden, Marotten, die sich plötzlich als kreative Lösungsansätze entpuppen. Das gibt dem Gruppenleiter – vor allem als Neuling – manche harte Nuss zu knacken. Es durchkreuzt auch unsere Neigung, uns durch genaue Planung abzusichern. Die erforderliche Grobplanung muss immer wieder korrigiert und durch Feinplanung ersetzt werden. Positiv ist daran, dass es in Gruppen nicht langweilig wird, wenn wir sie in ihrer Eigenentwicklung unterstützen.
5. Gruppenprozesse setzen sich aus vielen kleineren Einzelereignissen zusammen. Eine Gruppe kann z. B. ihre Arbeitsfähigkeit dadurch erreichen, dass sie mit Erfolg eine Aufgabe bewältigt, dass sie sich darüber verständigt, wie sie Aufgaben angehen will, oder dass sie aus einem früheren Misserfolg ihre Konsequenzen zieht. Aus diesen oder weiteren Situationen kann die Gruppe Informationen gewinnen, wie sie am besten ihre Aufgaben bewältigen kann. Die Gruppe kann mithin ihr Ziel auf unterschiedlichen Wegen erreichen. Für den Gruppenleiter aber auch für die Mitglieder bedeutet dies zweierlei: Sie können durch ihre Beiträge und Interventionen den Gruppenprozess beschleunigen oder behindern. Im Fall der Beschleunigung verfestigen sie die einmal eingeschlagene Richtung. Im anderen Fall behindern sie. Das bedeutet aber keineswegs, dass die weitere Entwicklung ein für allemal verbau ist. Die Gruppe kann, wenn sie es nur will, ihr Ziel auf unterschiedliche Wege erreichen.
   
Prozessmodelle
Die Grundmuster der Gruppenprozesse beschreiben dieselben auf einem hohen Allgemeinheitsniveau. Die nun folgenden Prozessmodelle sind spezifischer, ihre Geltungsbereiche eingeschränkter: Sie orientieren sich an spezifischen Theorien oder Modellvorstellungen und sie wurden für besondere Situationen formuliert, erprobt und belegt. Es handelte sich oft um Gruppen, die mittelbar oder unmittelbar Einstellungs-und/oder Verhaltensänderungen ihrer Gruppenmitglieder bzw. deren Klientel anzielten (Änderung politischer Einstellungen). Im „Spiegel der Gruppe“ konnten die Teilnehmer sich selbst erfahren (die klassische Trainingsgruppe). Der jeweilige Gruppenprozess war sowohl Gegenstand der Analyse als auch Inhalt von Beeinflussungs- und Steuerungsbemühungen (Das Sensitivity-Training).
 
Auf Lern- und Trainingsgruppe kann man die nun vorzustellenden Prozessmodelle auf jeden Fall anwenden. Aber auch auf betriebliche Arbeitsgruppen, und zwar um so vorbehaltloser, je mehr diese – was heute immer weniger Ausnahmecharakter hat – ihren Eigenen Arbeitsprozess selbst (mit) gestalten.
 
II.B Der Gruppenprozess als Verhaltensänderung
Kurt Lewin, der Begründer der Gruppendynamik, beschrieb den Prozess der Veränderung von Gruppen mit den Begriffen: unfreezing, change, refreezing; auftauen-ändern-festigen. Das klingt so plausibel wie trivial. Im konkreten Gruppengeschehen erweist sich die Selbstverständlichkeit aber immer wieder als Problem.
 
1. Auftauen
Auftauen meint die Bereitschaft sich/etwas zu verändern. Im Falle von Wissenserwerb genügt die vorhandene Neugier; fehlt sie, kann die Motivationsphase das Interesse für den Gegenstand wecken. Je mehr nun das Erlernte mit unseren Gewohnheiten, Überzeugungen, Grundhaltungen zu tun hat, um so diffiziler wird es. „Natürlich will ich mich verändern“ – dieser Satz geht vielen glatt und flott von den Lippen. Aber wenn es ernst wird, melden sich Widerstände, Beharrungsvermögen und Zweifel: Wer sagt mir denn, ob es wirklich nötig ist, mir nutzt, gut tut? In der Psychotherapie gibt es dazu ein Bonmot: Der Entschluss, eine Therapie zu beginnen, ist der letzte Versuch, sich nicht zu ändern. Mit dem Eingeständnis, Therapie zu brauchen, meint man genug getan zu haben. Auftauen kann also einmal bedeuten, die Ängste, die Widerstände zu bearbeiten, die die Änderung blockieren.
Zum Auftauen gehört auch die Einsicht, dass die alten Verhaltensmuster unangemessen sind. Mehr noch, dass sich so etwas wie Leidensdruck mit den alten Zuständen einstellt. Eine Lerngruppe muss den Wissens-, Kenntnismangel ein- und zugestehen. Das tut man nicht gern. Denn dann ist man je unfertig, unperfekt, dem Dozenten und anderen unterlegen.
Auftauen ist also mit viel Unsicherheit verbunden. Die alte Sicherheit geht dahin, die neue ist allenfalls als Versprechung in Sicht.
Beim Erlernen neuer Techniken (etwa Netzplantechnik) ist das Unbehagen vielleicht am besten mit der generellen diffusen schullernbezogenen Fragen „ob ich es wohl schaffe“ zu umschreiben. Eine Trainingsgruppe, ein Arbeitsteam, die ihre Konflikte bereden wollen, mobilisiert tiefergehende Ängste: Werde ich als Person überhaupt bestehen?
Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Teilnehmer das Auftauen schnell hinter sich bringen wollen. Dem muss der Leiter entgegentreten und die Ausgangslage abklären. Dabei kommt es natürlich einmal mehr nicht auf Vollständigkeit an, sondern auf optimale Offenheit. Was muss hier und heute besprochen werden, was später. Lässt der Leiter sich von einer Gruppe einwickeln, treibt ihn die Angst zum nächsten Schritt, so hat er bald ein doppeltes Problem. Es bewegt sich nicht. Die Teilnehmer sind enttäuscht, dass sich nichts tut. Dem Leiter werfen sie Erfolglosigkeit vor. Spätestens hier muss man dann das Auftauen nachholen. Das wird schwieriger. Unterbleibt das Auftauen zu Beginn, dann gewinnt das leicht das leicht den Charakter eines Versprechens: Die Ziele sind auch ohne Wirkliche Veränderung, ohne mehr oder minder tiefgehende Verunsicherung erreichbar. Manche sind dann enttäuscht, weil der Leiter sie über die tatsächliche Situation im Unklaren ließ, andere kehren nun den Spieß um. Sie machen den Leiter zum Sündenbock. Er ist schuld, dass sich die Teilnehmer ändern müssen, er verursacht ihrer Änderungsängste.
2. Ändern
Die eigentliche Veränderung, der Erwerb neuer Fertigkeiten, kann auf unterschiedliche Weise erfolgen: Information, Beratung, Training, Rollenspiel, Fallanalyse etc. Vom Leiter der Gruppe fordert diese Phase den Einsatz der ihm zur Verfügung stehenden Techniken und Hilfsmittel. Wenn das Auftauen in der nötigen Tiefe erfolgte, die Lernziele und –wege klar sind, dann ist diese Phase oft ein Selbstläufer. Wichtig ist es, die Lernschritte so zu wählen, dass sie weder Resignation durch Überforderung schaffen, noch Desinteresse durch Sätting.
3. Festigen
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Das neue Wissen, die neuen Fertigkeiten müssen verfestigt werden – das wurde früher oft übersehen. Der Rückfall durch Misserfolg war vorprogrammiert. Das Verfestigen der neuen Fertigkeiten und Fähigkeiten sollten noch in der Lern- bzw. Änderungsphase beginnen. Die am Arbeitsplatz zu erwartenden Schwierigkeiten können vorab in Fallanalyse oder Rollenspiel angegangen werden. Flankierende Interventionen wie Aufbauveranstaltungen, Beratung vor Ort, training on the job, Beratungsketten etc. tragen dem heute immer mehr Rechnung. Auftauen-ändern-festigen sind nicht einmalige Aktivitäten, sondern Punkte, eines Spiralmodells. Gefestigte Fertigkeiten erlauben es, andere ebenfalls aufzutauen und zu verändern. Das geschieht oft ohne ausdrückliche Beteiligung des Leiters, spontan durch die Teilnehmer. Wir können also anhand dieser drei Begriffe Gruppenprozesse planen, sie aber auch zur Diagnose nutzen, welche Phase gerade ansteht.
 
II.C. Der Gruppenprozess als Problemlösung
 
Wenn Gruppen Aufgaben bewältigen, dann durchlaufen sie unterschiedliche Schritte. Eine frühe Einteilung stammt von Miles. Er nennt die Etappen
Problemstellung,
Strategiewahl,
Strategieausübung,
Feedback,
Generalisierung.
 
1. Problemstellung
Die Gruppe stößt auf ein Problem, für das keine abrufbare Lösung existiert. Dabei kann es sich um inhaltliche Schwierigkeiten handeln oder um Unzufriedenheit mit eigenem oder fremden Verhalten. Durch die Situation entsteht ein Verhaltensvakuum, dass zunächst einmal erkannt und dann als Problem anerkannt werden muss, das eine Bearbeitung erfordert. Dabei muss die Gruppe gegen die Neigung ankämpfen, die neue Situation mit anderen, bereitliegenden, gekonnten Lösungsschritten zukleistern zu wollen. Das Mehr von – Selben – ist der Grund dafür, dass viele Gruppen Problempflege statt Problemlösung betreiben; weil die Situationsdiagnose unterblieb, fehlt die Voraussetzung zur Weiterentwicklung.
2. Strategieauswahl
Wenn die Gruppe darüber Konsens erreicht, dass es ein ungelöst, aber zu lösendes Problem gibt, ist der erste wichtige Schritt getan. Jetzt ist die Kreativität der Grünlichtphase des brainstormings angesagt. Ideen sollten produziert werden, ohne sie gleich auf Durchführbarkeit zu überprüfen (Im Arbeitspapier „Erleichterung und Behinderung des Informationsaustauschs in Gruppen“ finden Sie dazu methodische Hinweise). Aus der Vielzahl der Ideen ist dann die optimale Vorgehensweise herauszufiltern. Im Glücksfall ergibt sich das aus der Logik der Sache. Schwieriger ist es, wenn hier die Gruppendynamik zuschlägt – also Interessen, Vorlieben, die Machtstruktur. Mit Hilfe von Einzelbewertung der aufgelisteten Punkte kann man noch die relativ unbeeinflusste Gruppenmeinung erfassen. Gelingt das nicht, dann muss man das Thema der unterschiedlichen Interessen offen behandeln. Das erfordert viel Gespür, Geschick, methodische Kenntnisse und Beharrungsvermögen. Die Gruppe kann hier natürlich auch falsch entscheiden.
3. Strategieausübung
Die getroffene Entscheidung wird ausgeführt. Das kann im Probelauf eines Rollenspiels geschehen oder aber direkt in der Realsituation.
4. Feedback
Es gibt keine Garantie dafür, dass der eingeschlagene Weg richtig ist. Das verleitet viele dazu, um so beharrlicher an ihm festzuhalten. Bevor man sich erneut dem Unbehagen der Problemstellung aussetzt, macht man lieber weiter wie bisher. Auch Zweifel, ob die anderen die einen bewegenden Fragen überhaupt aufgreifen, Trägheit, verleiten zum Mehr-vom-Selben. Gerade weil das so ist, ist die Feedbackphase so immens wichtig. Waren Strategiewahl und Art der Ausführung richtig, oder wo müssen sie verändert, angepasst werden? Dies sind die Fragen, mit denen die Gruppe ihre eigene Leistung kontrolliert.
5. Generalisierung
Hier wird im individuellen und Gruppengedächtnis festgehalten, was man von der eingeschlagenen Lösung verwenden kann. Auch diese Phase gehört notwendig zum Prozess der Problemlösung. Meist kommt es nämlich zur Über- oder Untergeneralisierung. Es gilt für alles, es gilt nur selten. Der unvermeidliche Reinfall bei der ersten Alternative legt es dann später nahe, den Ansatz ganz zu verwerfen; fehlende Übung bei der letzten – warum eine verworfene Alternative erneute ausprobieren – sorgt für sanftes Vergessen.
 
II.D
Weil es so einprägsam formuliert ist, seien noch die Phaseneinteilung für Problemlösegruppen von Lawrence (1968) wiedergegeben.
 
forming: Die Gruppe bildet sich, setzt sich zusammen, formiert sich.
storming: Konflikte um die Macht, die einzuhaltenden Normen, Lösungswege brechen auf.
norming: Das Normgefüge stabilisiert sich. Die Gruppe entwickelt ihre Gruppenidentität.
performing: Die Gruppe ist arbeitsfähig und produktiv.
informing: Sie ist stabil genug, mit anderen Gruppen Kontakt aufzunehmen,
ohne dabei zu befürchten, ihre Identität zu verlieren. Sie kommuniziert über ihr Produkt mit der Außenwelt.
 
Die Prozessmodelle kann man sowohl auf Gruppensitzungen, ein Training oder einen Ausbildungsabschnitt anwenden.
 
Wenn man berücksichtigt, dass alle Autoren von sich wiederholenden bzw. aufeinander aufbauenden Veränderungsabfolgen ausgehen, ist unmittelbar einleuchtend, dass die Modelle auch langwellige Gruppenprozesse wiederspiegeln können. Ob kurz- oder langfristig: Es beeinflusst die Arbeitsfähigkeit und Produktivität von Gruppen immens, wenn sie diese Schritte im klaren Bewusstsein und planvoll nacheinander durchlaufen und durch Feedback ihre Angemessenheit überprüfen.
 
II.E
 
 
 
II.F Abwehr im Gruppenprozess
 
Bion (1968), ein englischer Psychiater, hat die Grundverhaltensweisen beschrieben, die in allen Gruppen auftauchen. Er benennt drei kollektive Grundeinstellungen:
Kampf – Flucht;
Paarbildung;
Abhängigkeit.
 
1. Kampf – Flucht
Die Gruppe sucht sich – allerdings nicht als bewusste Suche – einen gemeinsamen Feind (vornehmlich den Leiter, das Programm, die konkrete Aufgabe). Dieser wird angegriffen oder vermieden – oder beides zusammen. Es ist der Versuch, der realitätsgerechten Auseinandersetzung mit der Aufgabe auszuweichen.
2. Paarbildung
Man schließt sich an einen anderen an, um der Verlorenheit in der Gruppe zu entfliehen. Die Paar, aber auch die anderen neigen dazu, die Paarbildung zu idealisieren. Man ist überrascht, wie gut man zueinander passt und tut alles dagegen, das genauer unter die Lupe zu nehmen. Man befürchtet nämlich zurecht, enttäuscht zu werden. Es ging nämlich nicht um den konkreten anderen, sondern um den anderen als Abwehrmöglichkeit gegen die als bedrohlich empfundene Gruppe und das Alleinsein in der Gruppe.
Die Gruppe widersetzt sich ebenfalls der Entzauberung der Paare allerdings aus einem anderen Grund. Die oft getrennt geschlechtlichen Paare beleben nämlich alte Phantasien, die sich an die lebensspende Funktion von Eltern heften. Geboren werden, alles noch einmal neu und anders machen könne, Phantasien um Erlösung lauten die (Heils)-erwartungen. Solange die Paare bestehen, können diese Träumen aufrechterhalten bleiben.
3. Abhängigkeit
Die Gruppe erwartet Orientierung und Hilfe vom Leiter. Ihre Kritikfähigkeit ihm gegenüber ist erheblich vermindert. Eigene Autonomie und Selbständigkeit werden verleugnet.
Bion hat in seinen drei Phasen in Gruppen immer wieder beobachtbare Abwehrmechanismen beschrieben. Bearbeitbar werden sie dadurch, dass sie angesprochen werden bzw. dadurch, dass die Gruppe durch erfolgreiche Arbeitsbewältigung an Sicherheit dazugewinnt.
Ihre Kenntnis kann dem wenig bzw. gar nicht psychoanalytisch Geschulten hilfreich sein, sonst schwer verständliche Reaktionsweisen einzuordnen. Allerdings bleibt das immer eine heikle Gradwanderung. So kann man Abhängigkeit der Gruppe als freiwillige Unterordnung unter eine anerkannte Autorität ebenso missdeuten, wie berechtigte Kritik am Leiter als Kampf-Flucht. Das schränkt die Verwendbarkeit des Modells für den Laien erheblich ein.
 
 
II.G. Autorität und Intimität im Gruppenprozess
Autorität und Intimität sind zwei wichtige Dimensionen einer jeden Gruppe. Wer hat die Macht und wie nah bzw. fern sind sich die Gruppenmitglieder?
 
Bennis und Shephardt (1956) untergliedern folgendermaßen:
DEPENDENZ
1. Abhängigkeit – Flucht
Die Anfangsphase jeder Gruppe ist durch Unsicherheit und Angst bestimmt. Explizit oder implizit erwarten die Teilnehmer, dass der Leiter diese verringert. Zur Bewältigung der Anfangssituation greifen sie auf Verhaltensweisen zurück, die sich im Umgang mit Autoritäten bewährten. Man wendet sich Informationen, Aufklärung und Orientierung suchend an den Leiter und erhofft von ihm Lösungen. Die Gruppenmitglieder sind, bzw. fühlen sich vom Leiter abhängig und fliehen davor zurück, diese Abhängigkeit aufzudecken.
2. Gegenabhängigkeit – Kampf
Der Leiter kann – selbst wenn er es wollte – nicht die an ihn gerichteten Erwartungen erfüllen. Es sind zu viele und sie widersprechen sich. Die Enttäuschung der Gruppenmitglieder mit dem unrealistisch überschätzten Leiter schlägt um. Er wird für alle Übel, die der Gruppe wiederfahren verantwortlich gemacht und deswegen angegriffen. Hat man vorher seinen Worten blindlings Glauben geschenkt, so gelten sie nun gar nichts mehr. Befolgte man vorher seine Hinweise, Ratschläge peinlich genau, so tut man nun gerade das Gegenteil.
3. Auflösung der Abhängigkeit
Gegenabhängigkeit und Kampf lösen die vorher herrschende lähmende Abhängigkeit und Flucht ab. Je mehr dies geschieht, um so mehr erkennen die Gruppenmitglieder ihre eigenen Fertigkeiten und Fähigkeiten als Leiter. Der Leiter muss nicht länger überhöht, aber auch nicht herabgesetzt, entwertet werden. Zunehmend zählt, was jemand sagt, nicht bloß, wer es sagt. Führungsrollen wechseln je nach Befähigung der Teilnehmer ab, der Leiter übernimmt bzw. behält seine Sonderrolle.
Diese Auseinandersetzungen können wir in allen Gruppen beobachten. Sie vollzieht sich manchmal dramatisch, oft auch fließend und wenig auffällig. Diese Entwicklung ist unterlässlich, soll die Gruppe ihre Potenzen entfalten können. Als Gruppenleiter ist man gut beraten, sich dem sog der Verherrlichung zu widersetzen. Die Funktion ist gemeint, nicht die Person. In der Gegenabhängigkeit hilft diese Perspektive manchen harten Angriff auszuhalten.
4. Bezauberung – Flucht
Wenn die Machtfrage vorläufig geklärt ist, breiten sich oft Ausgelassenheit und Fröhlichkeit aus. Die erste Probe ist bestanden, weitere braucht man nicht. Die Gruppenmitglieder rücken näher zusammen und verschanzen sich hinter einem Bollwerk von Solidarität und Gleichheit. Die unterschiedlose dichte Nähe stiftet aber neue Abhängigkeit – diesmal von der Sympathie und dem Wohlwollen aller. Der Preis dafür ist zunehmende Handlungsunfähigkeit.
5. Ernüchterung – Kampf
Handlungsunfähigkeit und Enge werden zunehmend als Behinderung erfahren. Die Gruppenmitglieder protestieren gegen die Forderung, bedingungslos in der Gruppe aufzugehen. Zwischen denen, die Intimität befürworten und fordern und denen, die diese fürchten und ablehnen, beginnen klärende Auseinandersetzungen.
6. Realistische Einschätzung der Beziehung
Die Gruppe erkennt an, dass die Teilnehmer unterschiedliche Nähebedürfnisse haben und dass es ein Fließgleichgewicht zwischen Machtanspruch und Intimität geben muss, um sowohl arbeits- als auch genussfähig sein zu können. Die Gruppe steuert diese beiden Prozesse zunehmend selbständig. Die Sonderrolle des Leiters bezüglich Autorität und Intimität wird zunehmend selbstverständlicher.
 
Für den Leiter sind vor allem die Phasen 2 und 5 kritisch, wenn ein Teil der Gruppe ihn unbarmherzig bekämpft bzw. gnadenlos vom emotionalen Leben der Gruppe ausschließt. Dann rasch aufflammende Ängste, Panik und Verzweifelung gehen um so eher vorüber, wenn er diese Entwicklungsregelmäßigkeiten kennt und anerkennt. Er hat dann gute Chancen, sich nicht selbst in den Auseinandersetzungen zu verstricken und die Übersicht und damit seine Leiterfunktion zu verlieren.
 
Diese Themen spielen in Gruppen sehr unterschiedliche Rollen. Das hängt damit zusammen, ob die Rahmenbedingungen eine Auseinandersetzung fordern, fördern oder unterbinden. In einem Training, einer Ausbildungsgruppe kann man die Leiterautorität eher kritisch überprüfen, als in einer Abteilungskonferenz mit großen Statusunterschieden. Im ersten Fall ist die Auseinandersetzung oft offener, auch impulsiver, im anderen oft verdeckter und verschleierter. Die klare Konfrontation ist vielen lieber als die schwelende, diffuse Feindseligkeit. Erstere macht Entwicklung leichter möglich.
 
Eine Besonderheit unserer Tage ist die Vermischung der beiden Hauptphasen. Viele Gruppen setzen die Intimität als Waffe in der Abhängigkeitsthematik ein. Manche Gruppe entmachtet den Leiter durch ein sanftes aber beharrliches Du. Die Nähe um jeden Preis wird selbst dann aufrechterhalten, wenn darüber Effektivität und Arbeitsfähigkeit verloren gehen. Fragen der Autorität und Intimität sind nie abschließend zu lösen. Einmal mehr gilt das Spiralenmodell. Das Gleiche kehrt in gewandelter Form wieder und erfordert eine neue Lösung.
 
II.H Der Nutzen von Gruppenmodellen

Gruppenmodelle erlauben es, Gruppen differenziert und vielschichtig wahrzunehmen und zu beschreiben. Das geht nicht von heute auf morgen. Zunächst wird man sich damit begnügen müssen, im nachhinein Etappen und Phasen zu identifizieren. Dabei begleitet die Unsicherheit, ob das nun Abhängigkeit oder Gegenabhängigkeit oder sonst etwas war. Hat man darin einige Übung, dann stellt man plötzlich in einer laufenden Gruppe fest, dass einem etwas Vertrautes auffällt. Man beginnt ablaufende Ereignisse als Stücke eines Prozesses wahrzunehmen und zu verstehen. Wenn man Situationen richtig versteht, steigt die Chance, richtig zu intervenieren. Es wird wahrscheinlicher, dass man Gruppenentwicklungen unterstützt, vorantreibt, anstatt sie zu behindern oder ihr Opfer zu werden.

 
Literatur
  Bennis, W. G.; Shephardt, H. A.: A theory of group development, Human Relations 9, 1956, 415 – 457.
  Däumling, A. M.; Fengler, J.; Nellessen, L.; Svensson, L. J.: Angewandte Gruppen-Dynamik, Stuttgart 1974.
  Fengler, J.: Soziologische und sozialpsychologische Gruppenmodelle. In: Petzold, H.: Frühmann, R. (Hrsg.): Modelle der Gruppe in Psychotherapie und psychosozialer Arbeit, Bd. 1. Junfernmann – Verlag, Paderborn 1986, S. 33 –108.
  Lawrence: Miles, M.B.: Learning to work in groups. New York 1965.
   
 

 
Vgl. auch Widerstand

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