Excerpt Rollenfunktionen in der Gruppe (Tobias Brocher)
 

"In jeder Gruppe entwickeln sich nun bestimmte Rollenfunktionen, die den unausgesprochenen Zielen der Gruppe dienen, damit diese ihre Arbeit fortsetzen kann. Es lassen sich dabei deutlich eine Reihe von Rollen herauskristallisieren, die sich aus der Bemühung des Einzelnen ergeben, das jeweilige, entstehende soziale System einer Gruppe weiter zu entwickeln. Wir unterscheiden dabei zwischen Aufgabenrollen und Erhaltungs- und Aufbaurollen sowie einer Mischung aus beidem. Darüber hinaus gibt es jedoch auch dysfunktionale Rollen, die gegen jede konstruktive Beteiligung an der Gruppenarbeit gerichtet sind. Sie können verschiedene Gründe haben.

 

Unter Aufgabenrollen verstehen wir Funktionen, die für die Auswahl und Durchführung einer Gruppenarbeit erforderlich sind:

 

   1.   Initiative und Aktivität
Lösungen vorschlagen, neue Ideen vorbringen, neue Definitionen eines gegebenen Problems versuchen, neues In-Angriff-Nehmen des Problems, Neu-Organisation des Materials.

 

   2.   Informationssuche
Frage nach genauerer Klärung von Vorschlägen, Forderung nach ergänzenden Informationen oder Tatsachen.

  

   3.   Meinungserkundung

Versuche, bestimmte Gefühlsäußerungen von Mitgliedern zu bekommen, die sich auf die Abklärung von Werten, Vorschlägen oder Ideen beziehen.

   4.   Informationen geben

Angebot von Tatsachen oder Generalisierungen. Verbinden der eigenen Erfahrung mit dem Gruppenproblem, um daran bestimmte Punkte und Vorgänge zu erläutern.

   5.   Meinung geben

Äußern einer Meinung oder Überzeugung, einen oder mehrere Vorschläge betreffend, speziell eher hinsichtlich seines Wertes als der faktischen Basis.

   6.   Ausarbeiten

Abklären, Beispiele geben oder Bedeutungen entwickeln; Versuche, sich vorzustellen, wie ein Vorschlag sich auswirkt, wenn er angenommen wird.

   7.   Koordinieren

Aufzeigen der Beziehungen zwischen verschiedenen Ideen oder Vorschlägen; Versuch, Ideen und Vorschläge zusammenzubringen; Versuch, die Aktivität verschiedener Untergruppen oder Mitglieder miteinander zu vereinigen.

   8.   Zusammenfassen

Zusammenziehen verwandter Ideen oder Vorschläge; Nachformulierung von bereits diskutierten Vorschlägen zur Klärung.

   9.   Ermutigung

Freundlichsein, Wärme, Antwortbereitschaft gegenüber anderen; andre und deren Ideen loben; Übereinstimmen und Annehmen von Beiträgen anderer.

 10.   Grenzen wahren
Versuch, einem anderen Gruppenmitglied einen Beitrag dadurch zu ermöglichen, dass andere darauf aufmerksam gemacht werden, z. B.: "Wir haben von X noch gar nichts zu diesem Thema gehört." Begrenzung der Sprechzeit für alle, um damit allen eine Chance zu geben, tatsächlich gehört zu werden.

 

 11.   Regeln bilden
Formulierung von Regeln für die Gruppe, die für Inhalt, Verfahrensweisen oder Entscheidungsbewertungen gebraucht werden sollen; Erinnerung der Gruppenmitglieder, Entscheidungen zu vermeiden, die mit diesen Regeln kollidieren.

 

 12.   Folge leisten
Den Gruppenentscheidungen folgen, nachdenklich die Ideen anderer annehmen und anhören, als Auditorium während der Gruppendiskussion dienen.

 

 13.   Ausdruck der Gruppengefühle
Zusammenfassung, welches Gefühl innerhalb der Gruppe zu spüren ist. Beschreiben der Reaktionen der Gruppenmitglieder, Mitteilung von Beobachtungen und unbewussten Reaktionen von Gruppenmitgliedern, geäußerten Ideen oder Lösungen gegenüber.

 

 

 

Es gibt gleichzeitige Aufgaben- und Erhaltungsrollen:

 

   1.   Auswerten
Überprüfen der Gruppenentscheidungen im Vergleich mit den Regeln; Vergleich der Bemühungen im Verhältnis zum Gruppenziel.

 

   2.   Diagnostizieren
Bestimmen der Schwierigkeitsquellen und der situationsgerechten nächsten Schritte; Analysieren der Haupthindernisse, die sich dem weiteren Vorgehen entgegenstellen.

 

   3.   Übereinstimmung prüfen
Versuchsweise nach der Gruppenmeinung fragen, um herauszufinden, ob die Gruppe sich einer Übereinstimmung für eine Entscheidung nähert. Versuchsballons loslassen, um die Gruppenmeinung zu testen.

 

   4.   Vermitteln
Harmonisieren, verschiedene Standpunkte miteinander versöhnen, Kompromisslösungen vorschlagen.

 

   5.   Spannungen vermindern
Negative Gefühle durch einen Scherz ableiten, beruhigen, eine gespannte Situation in einen größeren Zusammenhang stellen.

Diese Rollen sind keineswegs fest auf ein und dieselbe Person verteilt. Vielmehr wechseln sie ähnlich wie Führung, Aktivität und Widerstand. Sie jedoch zu kennen, zu beobachten und die jeweiligen Rollenwechsel wahrzunehmen, bedeutet rein handwerklich eine große Hilfe im Umgang mit Gruppen." (S. 148-153)
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"Von Zeit zu Zeit, jedoch öfter als man meint, verhalten sich Menschen auf eine dysfunktionale Weise, die nicht nur keine Hilfe darstellt, sondern mitunter die Gruppe und ihre Arbeitsbemühungen ernsthaft stört.

 

Dysfunktionale Rollen:

 

   1.   Aggressives Verhalten
Arbeiten für den eigenen Status, indem andere kritisiert oder blamiert werden; Feindlichkeitsäußerungen gegen die Gruppe oder einzelne Mitglieder; Herabsetzen des Selbstwertes oder des Status anderer Mitglieder; Versuch ständig zu dominieren.

 

   2.   Blockieren
Die Weiterentwicklung der Gruppe durchkreuzen durch Ausweichen auf Randprobleme; Angebot persönlicher Erfahrungen, die nichts mit dem vorliegenden Problem zu tun haben; hartnäckige Argumentation zu einem einzigen Punkt; Abweisung von Ideen ohne jede Überlegung aus affektiven Vorurteilen.

 

   3.   Selbstgeständnisse
Benützen der Gruppe als Resonanzboden für rein persönliche, nicht an den Gruppenzielen orientierte Gefühle oder Gesichtspunkte.

 

   4.   Rivalisieren
Mit anderen um die produktivsten oder besten Ideen zanken, ständig am meisten sprechen, die größte Rolle spielen, die Führung an sich reißen.

 

   5.   Suche nach Sympathie
Versuch, andere Gruppenmitglieder zur Sympathie mit den eigenen Problemen und Missgeschicken zu verleiten; die eigene Situation verwirrend darstellen oder die eigenen Ideen so erniedrigen, dass auf diese Weise Unterstützung durch andere erreicht werden soll.

 

   6.   Spezialplädoyers
Einführung oder Unterstützung von Vorschlägen, die mit eigenen, eingeengten Bedenken oder Philosophien verbunden sind. Hierher gehört auch das Lobbyistenverhalten.

 

   7.   Clownerie
Jux veranstalten, witzeln, nachäffen, um die Arbeit der Gruppe möglichst immer wieder zu unterbrechen.

 

   8.   Beachtung suchen
Versuche, die Beachtung auf sich zu ziehen, durch lautes und ausgiebiges Reden, extreme Ideen oder ungewöhnliches Verhalten.

 

   9.   Sich zurückziehen
Überwiegend indifferentes, passives Verhalten, beschränkt auf äußerste Formalität; Tagträumen, Unsinn machen; mit anderen flüstern, vom Thema weit abweichen.

 

Diese formalen Klassifizierungen, die nur als Hilfe für die Beobachtung gedacht sind, dürfen keineswegs als starre Rollen angesehen werden, sondern als ein möglichst wechselndes Verhalten. Bei den dysfunktionalen Rollen muss man sich vor der Tendenz in jeder Gruppe hüten, andere oder sich selbst zu beschuldigen, bei denen vorübergehend dieses Verhalten auftritt. Es ist sinnvoller, solches Verhalten als Symptom dafür wahrzunehmen, dass es um die Fähigkeit der Gruppe schlecht bestellt ist, individuelle Bedürfnisse ausreichend durch gruppenzentrierte Arbeit zu befriedigen." (S. 151-153)


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"Als Regel kann man annehmen, dass jede Gruppe besser und erfolgreicher arbeiten kann, wenn ihre Mitglieder

sich der jeweils erforderlichen Rollenfunktion besser bewusst werden,
sensibler und bewusster das Erforderliche tun, um das Gewünschte tatsächlich zu erreichen, und
ein Selbsttraining beginnen, um den Umfang ihrer Rollenfunktionen zu prüfen und die Fähigkeit einzuüben,
             sie tatsächlich zu erfüllen." (S. 153)

 

 

 
Aus: Tobias Brocher: Gruppenberatung und Gruppendynamik. Leonberg (Rosenberger Fachverlag) 1999, zuerst Frankfurt a. M. 1967, S. 148-153.

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