Theoriediskussion Kurt Lewin und die gruppendynamische Perspektive auf Mehrpersonengespräche
 

Kurt Lewin und die Anfänge gruppendynamischer Analysen

Um die Struktur und Dynamik von Gruppen, also z. B. die Auswirkung unterschiedlicher Führungsstile in militärischen Einheiten, zu untersuchen, führte Kurt Lewin in den 30er und 40er Jahren in Iowa und dann am MIT (Massachusetts Institute of Technology) die von ihm so genannten 'gruppendynamischen Laboratorien' durch. Er war gar nicht in erster Linie an der einzelnen Person und an den klassischen Formen des Beratungsgesprächs, das ja immer in einer Zweipersonen-Situation ablief, interessiert. Vielmehr richtete sich seine Aufmerksamkeit auf größere soziale Gruppen, und er suchte die Vorteile kollektiven Arbeitens zu erkennen und auszunutzen. Bei seinen Experimenten kam er recht bald zu ähnlichen Ansichten wie Freud. Der Vorzug der Minimalstrukturierung beispielsweise, also die Vermeidung einer Instruktion der Teilnehmer über ihr genaues Verhalten und ihre Rollenaufgaben, wurde von ihm durch einen Zufall 'wiederentdeckt': Ein wenig erfahrener Gruppenleiter mochte oder konnte die zuvor abgesprochenen experimentellen Konzepte während eines Trainingslaboratoriums nicht durchsetzen und überließ die Gruppe sich selbst. Zum Erstaunen von Lewin und der anderen Betrachter verstanden es die Gruppenteilnehmer trotzdem, ihre Beziehungen zu organisieren und sich phasenweise unterschiedliche Normen, darunter auch die anvisierten, zu geben. Die Struktur war also nicht 'direktiv', sondern im Gegenteil als Resultat von Selbstbeobachtung und Selbstorganisation entstanden.
Im engeren Sinne 'selbstreferentiell' wurden diese Trainings allerdings erst von dem Moment an, in dem sich nicht mehr nur die Gruppenleiter im Nachhinein und aus mehr oder weniger wissenschaftlichen Interessen mit der Auswertung des Gruppenprozesses beschäftigten, sondern die Teilnehmer selbst diese Aufgabe übernahmen. Historisch wurde diese Wende wiederum durch einen Zufall eingeleitet: Teilnehmer eines Training kamen unerwartet und ungeplant zu einer Auswertungssitzung, in der die Trainer versuchten, sich über die Strukturen des gerade beendeten Trainings klarzuwerden. Die Gruppenmitglieder beteiligten sich an der Diskussion, und dies geschah in so fruchtbarer Weise, dass man auf die Idee kam, sogenannte 'T-Gruppen' durchzuführen, deren einziges Ziel die Erforschung ihrer eigenen Dynamik, ihrer eigenen Autopoiesis war. In diesen Gruppen trat von Anfang an viel deutlicher als in jener, typischerweise 'Einzeltherapie' genannten Veranstaltung hervor, dass die Selbstreflexion sozialer Systeme auch eine soziale, und nicht nur eine individuelle Leistung ist.

Das Menschenbild der Gruppendynamik

Die Erfahrungen in den Trainingslaboratorien haben das Menschenbild von Lewin geprägt. Für ihn ist der Mensch zunächst ein Gruppenwesen. Hier entfalten sich seine Leistungen, und von diesem Setting war Lewin, anders als Freud und Rogers anfänglich, immer wieder fasziniert.1)  Wegen dieser Orientierung auf die Gruppe bezeichnet man Lewin und seine Nachfolger auch als 'Gruppendynamiker'.
Ihre Grundannahmen seien hier kurz zusammengefasst:

 

 1.   Der Mensch ist ein Gruppenwesen.

 

 2.   In allen Gruppen bilden sich Strukturen, Programme und Werte heraus, die das Verhalten und Erleben des einzelnen Mitglieds bestimmen. Die Gruppe weist ihm z. B. (offizielle und inoffizielle) Rollen und Status zu.

 

 3.   Der Einzelne kann von seinen biographisch akkumulierten Informationen/Verhaltens-/Erlebensweisen nur so viele nutzen, wie es die Gruppe erlaubt (Dies ist eine beständige Konfliktursache!). Andererseits lockt die spezielle Gruppendynamik jeweils bestimmte Verhaltens- und Erlebensweisen mit besonderer Intensität hervor.

 

 4.   Wer den Einzelnen (oder auch größere soziale Zusammenhänge, die aus Gruppen aufgebaut sind) ändern will, der muss folglich dessen Bezugsgruppen ändern.

 

 5.   Da Gruppen selbstorganisierte Systeme sind, die sich nur selbst verändern können, muss die interventionsbereite Person zu einem Element der Gruppe werden und ihre Überzeugung dort zur gemeinsamen Erfahrung werden lassen. Gruppen kann man nicht von Aussen ändern.

Von den Therapien Freuds unterscheiden sich die Laboratorien Lewins zum einen dadurch, dass in ihnen eben Gruppen und nicht nur zwei Individuen experimentieren. Als Vorteile kollektiven selbstreflexiven Arbeitens stellen die Gruppendynamiker heraus:

Verschiedene Standpunkte, Perspektiven und Informationen kommen zum Tragen;
dadurch Möglichkeit der Korrektur von Einseitigkeiten der Wahrnehmung bei den Teilnehmern;
Steigerung der Problemlösungsintensität durch Wettbewerb;
Psychische Stabilisierung der Teilnehmer durch den Gruppenrückhalt.
 

Ein zweiter Unterschied zu Freuds therapeutischem Ansatz lag darin, dass die Trainingslaboratorien Lewins zunächst eine vorrangige Funktion als Instrument der Forschung für Dritte besaßen. Es waren ursprünglich keine therapeutischen, sondern wissenschaftliche Institutionen. Lewin spricht in diesem Zusammenhang dann auch von 'Action - Research', Aktionsforschung. Diese Einbettung macht die T-Gruppen zu einem direkten Vorläufer der kommunikativen Sozialforschung. (Vgl. zu diesen historischen Entwicklungslinien: Ronald Lippitt: Kurt Lewin und die Anfänge der Gruppendynamik. In: Annelise Heigl-Evers (Hg.): Sozialpsychologie, Band 2: Gruppendynamik und Gruppentherapie (Psychologie des 20. Jahrhunderts), Weinheim/Basel 1984; sowie Manfred Sader: Das Aktionsforschungsmodell der T-Gruppen und des T-Laboratoriums, ebenfalls in Heigl-Evers (Hg.) 1984.)

Lewin und sein Anhänger haben ihre Trainingsgruppen aber schon sehr bald aus den übergeordneten Forschungszusammenhängen herausgelöst. Sie wurden dann als sogenanntes 'Sensitivity-Training' ausgerichtet, deren erstes Ziel nicht die Lösung irgendeines Problems, sondern eben die Sensibilisierung der Teilnehmer für interaktive und vor allem gruppendynamische Prozesse ist.

Es lassen sich also zusammenfassend zwei Grundtypen selbstreferentieller Erfahrungsgewinnung unterscheiden: auf der einen Seite die Trainingslaboratorien (T-LABs), die immer eine Funktion für ihre Umwelt zu erfüllen haben. Hier ist die Aufmerksamkeit auf die Lösung von zuvor klar formulierten Aufgaben gerichtet. Diese sollen unter Ausnutzung des Gruppenvorteils gelöst werden.
Auf der anderen Seite stehen die Sensitivity-Trainings, die eine Funktion für die (psychischen Systeme der) einzelnen Gruppenmitglieder erfüllen sollen. Es geht darum, das Erleben der Teilnehmer zu ermitteln und ggf. zu verändern, die Selbstwahrnehmung durch Konfrontation mit Fremdwahrnehmungen zu fördern, psycho- und gruppendynamische Prozesse in den Dienst der eigenen Selbsterfahrung zu stellen.

 

Zusammenfassung: Maximen der Gruppendynamik  Fließtext: Historische Gruppenprozessmodelle  Zusammenfassung: Gruppenprozessmodelle   Literatur: Literatur zur Gruppendynamik
 
1)  Rogers hat zwar schon seit 1945 die sogenannte 'personenzentrierte Gruppenarbeit' praktiziert, aber eben mit dem Fokus nicht auf der Gruppendynamik, sondern auf der 'Person'. Erst mit 68 Jahren veröffentlichte er seine Vorstellungen über die 'Encounter'-Gruppen - und hatte damit publizistisch seinen größten Erfolg. In diesem Buch (On Encounter Groups, New York 1970, dt. Encounter-Gruppen. Das Erlebnis der menschlichen Begegnung. München 1974) findet sich auch der Satz, dass "die intensive Gruppe ... eine der ganz großen sozialen Erfindungen dieses Jahrhunderts und vermutlich die potenteste überhaupt" ist (S. 9). Vgl. Peter F. Schmid: Personenzentrierte Gruppenpsychotherapie - Ein Handbuch, Köln 1994.
 

 

 

 

 

 


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