Excerpt Ziele von Sensitivity Trainings
 

In den späten 60er und 70er Jahren entwickelte sich in der Bundesrepublik eine alternative Trainingsszene, die auch die Ausbildung im Hochschulbereich mit Selbsterfahrungsangeboten und gruppendynamischen Trainingslaboratorien ergänzen wollte.
Adolf Martin Däumling, einer der Protagonisten dieser Bewegung, fasste in einem Aufsatz 1973 Grundprinzipien des Sensitivity Trainings zusammen, die bis heute Bestand haben:

"Die Erfahrungen, die seit über 20 Jahren mit gruppendynamischen Verfahren in aller Welt, vorab aber in den USA, gewonnen wurden, erlauben es, deren Zielsetzung als übereinstimmende Auffassung der Experten zusammenzufassen. Gewiss finden sich unterschiedliche Akzente sowie nähere oder fernere Ziele angegeben, aber gemeinsam dürfte doch der relativ hohe Anspruch hinsichtlich der Möglichkeiten des Trainings sein. Und dies wirkt auf die skeptischen Zeitgenossen besonders herausfordernd. Zunächst betrifft es zwei definitorische Ansätze:


 a)  "Sensitivity Training ist eine Methode zu lernen, eigene und fremde Verhaltensweisen subtil aufeinander abzustimmen" [Däumling, A. M.: Sensitivity Training. In: Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik. Bd. 2, Göttingen]. Diese Feststellung enthält bereits den unausgesprochenen Vorwurf, man habe es nötig, etwas zu lernen, was doch eigentlich selbstverständlich sei, nämlich zwischenmenschlichen Kontakt herzustellen und auf die Besonderheit eines Partners einzugehen. Bei näherem Zusehen zeigt sich indessen, dass gerade bei engem Kontakt in Beruf, Ehe und Familie die emotionalen Schwierigkeiten der Auseinandersetzung zunehmen. Je mehr die individuellen Belange voneinander abweichen bzw. die Tendenz zur Selbstrechtfertigung einsetzt, desto schwerer wird es, auf das Verhalten eines Gegenübers differenziert einzugehen. Die eigene Befangenheit in Triebansprüchen und Abwehrmechanismen hindert bereits daran, dem anderen jeweils aufmerksam zuzuhören und das genau aufzufassen, was er, selbst bei geschickter Ausdrucksweise, eigentlich meint. Erwachsene in exponierten und angesehenen Positionen lernen nicht gerne etwas anderes als erfolgversprechende Kenntnisse oder Fertigkeiten. Es bedarf also einer gewissen Aufforderung, sich mit eigenem und fremden Verhalten zu beschäftigen, die in den Zielen des Sensitivitäts-Trainings zugängig gemacht werden muss.


 b)  Sensitivitäts-Training ist ein gruppendynamisches Verfahren, das Bewusstseinserweiterung und Verhaltensänderung intendiert. Neben der Einsicht in bestimmte Zusammenhänge psychologischer Art zwischen gewohnten und bislang unbeachteten Verhaltensweisen tritt die Einübung neuer, vielseitiger Rollen und Verhaltensmuster. Dieser proklamierte Übungsfaktor fordert immer wieder dazu auf, sich zur Änderung des bislang fraglosen Verhaltensstils bereitzufinden. Ohne Anregung durch entsprechende Ziele bzw. ohne erlebbare Effektivität des Trainings würde sich wohl niemand den Dauereinflüssen und der notwendigen Verunsicherung durch den Gruppenprozess aussetzen. Herausforderung ist insoweit eine Grundkomponente des auf Verhaltensänderung gerichteten Trainings.
Die folgenden, gewiss hochgesteckten Ziele beziehen sich zunächst auf Veränderungen im individuellen Verhalten des Trainingsteilnehmers; darüber hinaus erstrecken sie sich auf allgemeine Gruppengeschehen und gesellschaftliche Gegebenheiten."


 1.  Reifung durch Selbstkonfrontierung
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Jeder Mensch bildet von Kindheit an Verhaltensmuster aus, die durch vielfältige Reaktionen auf Erziehungs- und Milieugegebenheiten das eigene Antriebs- und Steuerungssystem in bestimmten Richtungen festlegen. Die T-Gruppe fordert nun diese habituellen Verhaltensweisen heraus und macht sie mittels Fokussierung und Feedback-Technik erkennbar. (----)
Sie fördert damit den Prozess der Persönlichkeitsreifung in Richtung auf eine Gewinnung größerer seelischer Elastizität. Das Verhalten entspricht dann besser jener Fülle, der inneren und äußeren Wirklichkeit, wenn es - ohne Indentitätseinbuße - "so und auch anders" erfolgen kann bzw. ein "sowohl - als auch" kennt.
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 2.  Verbesserung der Sozialwahrnehmung
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Die Konsequenz aus der unmittelbar erfahrenen Begrenztheit des eigenen Kommunikationsspielraums ist die Ausbildung einer verfeinerten Beobachtung des Verhaltens anders gearteter oder gesonnener Menschen. (----)
Das Sensitivitäts-Training gibt reichlich Gelegenheit, freischwebende Aufmerksamkeit einzuüben. Zugleich wird aber die Begrenztheit und Unzulänglichkeit der eigenen Fremdwahrnehmung, vor allem unter emotionalen Einflüssen, erkennbar und damit das Bedürfnis ausgelöst (challenge), nicht nur Äußerungen aufzunehmen, sondern die dahinter liegenden Intentionen zu erspüren. Erst das "Hören mit dem dritten Ohr" (Th. Reik) erlaubt ein differenziertes Verstehen dessen, "was eigentlich gemeint ist". Dies dürfte auch die beste Umschreibung des Begriffes Sensitivität darstellen.


 3.  Fundierung der Kooperation
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Das Sensitivitäts-Training will keine Rezepte ausgeben für effektive Partnerschaft in allen Lebensbereichen, sondern die Grundlagen zu schaffen helfen, aus denen heraus "wie von selbst" erfolgreiche Zusammenarbeit resultieren kann. Angefangen bei der durch die T-Gruppe vermittelten Widerspiegelung eigenen Verhaltens und dessen Wirkung auf andere, über die differenzierte Beobachtung fremder Verhaltensweisen bis hin zu den verschiedenen wechselseitigen Einflussmöglichkeiten lässt das Training ein breit angelegtes Orientierungsschema für vielgestaltige Interaktionen entstehen.
Herausgefordert wird durch das Miterleben des Gruppenprozesses die Erkundung, welche Möglichkeiten des Einwirkens auf andere bestehen.
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 4.  Neubegründung von Autorität
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Die T-Gruppe legt nun nahe (challenge), verschiedene Rollen zu erproben, da hiermit keine ernsthafte Gefahr folgenreicher Blamage verbunden ist. Was im Beruf als unmöglich erscheint, nämlich die angeblich allein erfolgversprechende, fest einstudierte Führungs- oder Unterwerfungs-Rolle auszuwechseln oder gar anderen zu überlassen, das wird im Training systematisch angestrebt. Die Laboratoriumsform erlaubt es, mit Rollen zu experimentieren. So können Verhaltensweisen wie Sich-Durchsetzen und Nachgeben, Helfen und Sich-Helfen-Lassen, Recht-Behalten und Fehler-Zugeben mit ihren Vorzügen und Schattenseiten erfahren werden.
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Quelle: A. M. Däumling: "Sensitivity Training". Aus: Annelise Heigl-Evers (Hg.): Gruppendynamik. Göttingen 1973, S. 7-24.

 


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