Das Gespräch als unausgeschöpfte Ressource in der Berufswelt

 

 
In vielen anderen Professionen, bei den Lehrern, den Pastoren und den helfenden Berufen hat die Technisierung ohnehin niemals eine magische Bedeutung gewinnen können. Dort sah und sieht man weiterhin in der Pflege der Interaktionsbeziehungen die Grundbedingung für eine erfolgreiche Arbeit.
Wenn freilich das 'Gespräch' als unausgeschöpfte Ressource des beruflichen Alltags gelobt wird, dann ist damit nicht jener Kampfplatz gemeint , auf dem sich zwei oder mehrere Parteien mit den Waffen der Rhetorik niederzuringen trachten. Ebenso ist im Zeitalter elektronischer Medien und Vernetzungen das Interesse an jenem Typ von 'Gesprächen' zurückgegangen, in denen fertige Informationen lediglich weitergegeben werden. Die Praxis hat längst erkannt, daß Gespräche nur dann ein informatives Mehrprodukt bringen, wenn sie als eine kooperative Veranstaltung geführt und definiert werden, in der sich die Beiträge der verschiedenen Parteien synergetisch ergänzen. Kreative Lösungen entstehen dort, wo sich die Interaktion nicht im Abspulen vorab geplanter Handlungen der beteiligten Individuen erschöpft. Wenn von der 'Kommunikation' als Produktivkraft die Rede ist, dann geht es folglich um Systeme, die gemeinschaftliche Erfahrungen schaffen, die jeder für sich nicht hätte produzieren können. Es geht um das Gespräch als einen Ort sozialer Informationsgewinnung und -verarbeitung, an dem die beteiligten Individuen, jedes für sich, eigene Erfahrungen sammeln kann. Dieses setzt die Respektierung des Gegenübers als gleichberechtigtem Partner, die Herstellung einer vertrauensvollen Sozialbeziehung und die Suche nach Konsens statt nach der Durchsetzung eigener Definitionen voraus.
Im krassen Widerspruch zur Bedeutung des Gesprächs steht unser Wissen über seine Strukturen und 'Betriebsweisen'. Nach welchen Programmen läuft die kollektive Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Selbstreflexion ab? Wie speichern Institutionen ihre kommunikativen Erfahrungen und welche Mechanismen entwickeln sie für die Lösung von Verständigungskrisen?
Über die Funktionsweise der elektronischen und der psychischen informationsverarbeitenden Systeme besitzen wir jedenfalls weit genauere Vorstellungen als über die sozialen Informationssysteme.
Aber vielleicht sollte man hier genauer formulieren: 'Objektives' Wissen im Sinne der neuzeitlichen beschreibenden Wissenschaft fehlt uns. Als Beteiligte sind wir dagegen in der alltäglichen Praxis oftmals gut in der Lage, befriedigende Gespräche zu führen. Wir verfügen also über die entsprechenden Programme, aber sie sind uns 'unbewußt', wir können sie anderen nicht sprachlich ausbuchstabieren.
Wir ähneln insoweit dem Handwerker, der seine Kunstfertigkeit täglich mit seinen Produkten unter Beweis stellt, aber uns nicht sagen kann, wie genau er sein Ziel erreicht hat.
Diese Parallele läßt sich in einer sozialhistorischen Perspektive noch weiter verfolgen. Ähnlich wie die Technisierung in der frühen Neuzeit durch die Reflexion der 'Künste' der Handwerker und deren Beschreibung und Veröffentlichung in Büchern angeschoben wurde, so setzt auch die Optimierung des Gesprächs in der Gegenwart die Reflexion von professionellen Interaktionen voraus. Es geht weniger um die Schaffung von neuem Wissen als vielmehr um die Transformation der vorhandenen latenten Programme in eine Form, die ihre Übertragung auf andere Bereiche, ihre Kombination mit anderen Programmen und die Möglichkeiten zu einer abgekürzten Anleitung erleichtert.

 

aus: Michael Giesecke, K. Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung - Die Integration von Selbsterfahrung und distanzierter Betrachtung in Beratung und Wissenschaft. Frankfurt/ Main (Suhrkamp) 1997










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