Campus:
Warum interessieren Sie
sich als Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Literaturwissenschaft/Medien
für den Tanz?
Giesecke:
Die Kunstentwicklung der Neuzeit ist im wesentlichen ein Spezialisierungsprozess.
Die Literatur liefert selbst das beste Beispiel für eine Herauslösung
der ästhetischen Ausdrucksformen aus dem übrigen Leben. Mittlerweile scheint
der Zenit dieser Differenzierungsbewegung überschritten. Es geht wieder
um Integration der Medien auch um den Einbau sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten
in andere, non-verbale Zusammenhänge. Die gegenwärtige Prämierung multimedialer
Kommunikation wird auch das Monomedium Literatur nicht so lassen, wie
es geworden ist.
Campus:
Aber was hat der Medienwissenschaftler mit dem Körper in Bewegung
zu tun?
Er beschäftigt sich doch mit Schrift, Bildern, Zeitungen, Fernsehen ...
Giesecke:
Das wäre unzeitgemäß und viel zu kurz gegriffen. Körper und leibliches
Verhalten waren, sind und bleiben unumgehbare Medien des Ausdrucks und
der Verständigung mit anderen. Tatsache ist jedoch, dass die Buch- und
Industriekultur Verstand und soziales Verhalten auf- und Affekte und Körperwahrnehmung
abgewertet haben. Aus kulturhistorischer und vergleichender Perspektiven
sind das aber Modeerscheinungen. Es gehört zu den Zukunftsaufgaben der
Medienwissenschaften, solchen ideologischen Verzerrungen wie z.B. der
Fixierung auf Technik und Sprache entgegenzuarbeiten.
Campus:
Und der moderne Tanz trägt dazu bei?
Giesecke:
Ja, praktisch und theoretisch. TänzerInnen äußern sich multimedial und
machen synästhetische Erfahrungen. Sie können sich nicht allein auf ihre
höhere Nerventätigkeit und schon gar nicht auf sprachliche Informationen
beim Memorieren ihrer Solos verlassen. Das Gedächtnis und das Lernen der
Tänzer ist ökologisch.
Willi Dorner und ich kamen vor allem durch unser gemeinsames Suchen nach
einer Erkenntnis- und Kommunikationstheorie in Kontakt, die das Geschehen
im Tänzer und zwischen ihm und dem Publikum sowie anderen Tänzern und
den Choreographen abbilden kann.
Campus:
Eine andere, ganzheitliche Epistemologie?
Giesecke:
Die europäische Neuzeit hat die Augen als Erkenntnis- und die Sprache
als Darstellungsmedium prämiert. Sie hat nur monosensuelle und monomediale
Erkenntnistheorien akzeptiert. Wir bemerken das Bedürfnis nach synästhetischer
Erfahrung und ihrem parallelen Ausdruck in vielen Medien. Die alten Bewertungshierarchien
für die Sinne und den Ausdruck verlieren ihre Autorität. Tanzverbote,
die den Aufstieg aller mir bekannten Schriftkulturen begleitet haben
wenn sie denn nicht den Tanz zur Schrift machten wie die Hindukulturen
vertragen sich nicht mehr mit den Raverparaden.
Campus:
Was haben denn die Raver mit Ballett zu tun?
Giesecke:
Mit dem klassischen Tanz in der Tat wenig. Aber desto mehr mit dem modern
dance.
Campus:
Wie das?
Giesecke:
Im klassischen Tanz geht es um die Darstellung von sozialem Sinn, also
von sprachlich irgendwie aufbereiteten Texten, auch von musikalischen
Partituren natürlich. Entsprechend fragt auch das Publikum nach der Bedeutung
des Tanzes. Selbst die VertreterInnen des Ausdruckstanzes nutzen den Körper
nur als Medium
des Ausdrucks von individuellen - Gefühlen und Gedanken. Tanzkritiker
sind entsprechend enttäuscht, wenn sie keine nachhaltigen psychischen
Sensationen spüren. Dem modernen Tanz sind Begriffe, Tonsprachen und Affekte
zunächst ebenso gleichgültig wie sozial ausgearbeitete Erzählungen. Er
lässt den Körper arbeiten, verfolgt die kinästhetischen Sensationen
und ist am Ende auch gespannt, was diese Bewegungen psychisch und sozial
auslösen. Aber das Ergebnis bleibt offen, wie bei guten naturwissenschaftlichen
Experimenten auch.
Campus:
Und was bleibt dann für den Choreographen zu tun?
Giesecke:
Er kann die Aufgaben stellen, Tanzimpulse geben, z.B.
auffordern, die Bewegungsmöglichkeiten zu erkunden, die sich ergeben,
wenn der rechte Arm am Körper angelegt ist, die Entlastungsbewegungen
betont werden, die Handbewegungen beschleunigt und dabei die des Oberkörpers
verlangsamt werden.
Campus:
Und warum muss dann überhaupt noch reflektiert werden? Wie sah
Ihre Aufgabe praktisch aus?
Giesecke:
In der ersten Phase stand die Selbsterkundung der Tänzerinnen in Form
einer Supervision im Anschluss an die Proben im Vordergrund. Dies läuft
im Prinzip ähnlich wie die Supervision von anderen professionals, Ärzten,
Verkäufern oder Beratern ab. Nur habe ich verstärkt mit Videokonfrontationen
gearbeitet. Also die Tänzerinnen mussten ihre aufgezeichneten Proben kommentieren
und auch diese Kommentare wurden mitgeschnitten und erneut rückgekoppelt.
Dies ermöglichte sehr genaue Mikroanalysen.
Campus:
Ist dabei mehr herausgekommen als das, was die Tänzerinnen schon wussten?
Giesecke:
Wie bei jedem anderen, der seinen Beruf länger gut ausübt, ist vieles
automatisiert. Und dies in Formen, die irgendwann für die Lösung von Aufgaben
vorteilhaft war. Unter anderen Konstellationen wird so eine Routine unter
Umständen zu einem Hemmnis. Kreative neue Eroberungen des Raumes fallen
schwer. Wir sind in den Supervisionen gemeinsam zahlreichen solcher Stolpersteinen
für alternative Bewegungsabläufe begegnet.
Campus:
Zum Beispiel?
Giesecke:
Vermutlich gibt es niemanden, der völlig symmetrisch gebaut ist und
sich rechts und links, nach vorne und hinten, nach unten und oben ...
gleichgut bewegen kann. Wer gewohnt ist, sich die Impulse für Bewegungen
eher mit dem Oberkörper und da eben mit dem rechten Arm zu geben, wird
nicht alle Ressourcen des linken Armes und der Beine und Füße nutzen.
Ziel der Supervision war dann, andere Impulse zu setzen und zu sehen,
was dann passiert. Typischerweise führen solche Verschiebungen zu anderen
Affekten, manchmal gibt es minimale Widerstände, die gleichwohl für die
Zuschauer interessant sein können.
Campus:
Im ersten Schritt also eine Sensibilisierung für Bewegungsmöglichkeiten
und der Versuch, ihre individuelle Spezifik und dann deren Stärken
und Schwächen zu erkennen.
Giesecke:
Ja, und dann natürlich gleich Alternativen auszuprobieren. Dies hatte
unmittelbare Auswirkungen auf das Selbstbild der Tänzerinnen. Im zweiten
Schritt haben wir dann aus dem Videomaterial zu den Themen Der Tanz
im Gedächtnis von TänzerInnen und des Publikums, Die Wahrnehmung
des Tanzens und Resonanz und Distanz zwischen Tänzer und Publikum
kurze Videoclips gestaltet. Sie sollten vor, während und nach der Aufführung
die Aufmerksamkeit der Zuschauer fokussieren.
Campus:
Kam es an?
Giesecke:
Zu Technik, Design und Präsentation gibt es noch viele Verbesserungsmöglichkeiten.
Da ließ sich die gewünschte Lösung bei diesem ersten Anlauf nicht erreichen.
Campus:
Sie sagten eingangs, es sei der Festspielleitung auch um die
Einbeziehung des Publikums gegangen?
Giesecke:
Nach der Aufführung habe ich im Tanzraum jeweils mit einer Zuschauergruppe
von etwa 10 Personen darüber gesprochen, welche körperlichen Reaktionen
die einzelnen Passagen bei ihnen ausgelöst hatten. Diese straff moderierten
Gruppendiskussionen wurden ebenfalls aufgezeichnet und dienen TänzerInnen
und allen anderen Beteiligten als Feedback.
Campus:
Solche Nachbesprechungen sind nicht gerade neu?
Giesecke:
In dieser vorbereiteten und geregelten Form schon. Es galt die Regel,
auf alle Bewertungen des Tanzes zu verzichten und sich ganz auf die Resonanz
zu konzentrieren, den die performance im Körper und Psyche auslöste. Meinungen/Empfindungen
der anderen Teilnehmer sollten stehen gelassen bleiben. Gesucht
wurden subjektive Verarbeitungsregeln, nicht angelesen
oder gelernte Lehrmeinungen. Ohne gruppendynamische und selbstreflexive
Techniken funktioniert eine solche Besprechung in der Tat nicht, selbst
wenn es durch gute Beispiele auf den Videomonitoren unterstützt ist.
Campus:
Was waren die für Sie wichtigsten Ergebnisse der Stuhlkreise?
Giesecke:
Dass und wie die Verständigung zwischen Publikum und den TänzerInnen
unter Umgehung von höheren Bewusstseinsformen und Sprache funktionierte.
Diejenigen Körpersensationen: z. B. Aufrichten und Verlängerung der Wirbelsäule;
Kribbeln von Hautpartien; Zusammensacken; Gefühle wie beispielsweise Gekreuzigt
sein, Assoziationsketten usf., die in den Supervisionen und Triangulationen
schon thematisiert wurden, tauchen bei dem einen oder anderen Zuschauer
wieder auf. Es stellten sich also Gemeinsamkeiten zwischen den Tänzern
und dem Publikum her; und zwar immer nur zeitweise, häufig zwischen den
Personen wechselnd. Man wird solche Effekte, die nicht einmal an Blickkontakt
geschweige denn an irgendwelche verbalen, mimischen oder gestischen Rückkopplungen
gebunden sind, wohl nicht mit monomedialen Kommunikationskonzepten, wie
sie gegenwärtig noch favorisiert werden, erklären können. Wohl aber mit
Spiegelungs- und Resonanzkonzepten, mit denen ich auch sonst in der interpersonellen
Kommunikation arbeite.
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