Die modernen Naturwissenschaften entstanden in Europa in Koevolution mit den
typographischen Medien. Ihr Realtiätsbegriff: visuell wahrnehmbare
und nach abstrakten Kriterien meßbare Umwelt – ihre Ziele:
allgemeingültige Aussagen/ Gesetzen sowie ihre methodischen Prinzipien:
Fixierung in Schrift, Zahl und bestimmten Formen von Bildern, Kontextunabhängigkeit,
Überprüfbarkeit von Jedermann u.a. tragen den Erfordernissen
interaktionsarmer Massenkommunikation Rechnung. Auch die später entstandenen
Sozialwissenschaften übernahmen dieses Ideal. Es war beim damaligen
Stand der Medienentwicklung praktisch die einzig geeignete Form, um im
Maßstab größerer Gesellschaften (Nationen) Wissen zu
akkumulieren, zu überprüfen und möglichst verlustarm und
breit zu verteilen.
Eine zeitgemäße Wissenschaft wird ihre Programme an die Möglichkeiten
neuer Kommunikationsformen und elektronischer Medien anpassen. Insbesondere
wird sie der wachsenden Bedeutung rückkopplungsintensiver Vernetzung
bei der Wissensschöpfung und –verbreitung Rechnung tragen.
Die kommunikative Sozialforschung stellt sich genau diese Aufgabe. Sie
ist auf elektronische Aufzeichnungsgeräte von Ton- und Bild von Anbeginn
angewiesen. Sie fängt an, die elektronischen Speicher und Netze
einzusetzen. Vor allem jedoch, orientiert sie sich nicht mehr ausschließlich
und nicht in erster Linie an den Idealen und Werten, die die neuzeitliche
Wissenschaft in den vergangenen 500 Jahren entwickelt und zum Maßstab
genommen hat. Vielmehr geht sie davon aus, dass nicht nur ein zufälliger,
sondern ein funktionaler, struktureller, dynamischer und genetischer Zusammenhang
zwischen der traditionellen Wissenschaft und der Form der Arbeitsteilung,
Technik und Kommunikation der Gesellschaftsformation besteht, die sie
hervorgebracht hat. Die neuzeitliche Wissenschaft ist Kind und Voraussetzung
standardisierter Warenproduktion und der industriellen Massenkommunikation,
die durch die Vernetzung von Buchdruck, Informationsverbreitung über
den freien Markt, durch Theorien visueller Erkenntnis und ihrer bildhaften
und standardsprachlichen Beschreibung seit der Wende zum 16. Jh. möglich
wurde. Die Wahrnehmungs- und Beschreibungstheorie des Buchdruckzeitalters
löste das Problem interaktionsfreier Informationsverarbeitung in
großen sozialen Systemen. Sie macht die Wiederholung von (visuellen)
Wahrnehmungen und die Parallelverarbeitung von Informationen zwischen
Menschen möglich, die sich nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen
und die keine Möglichkeit zu Nachfragen haben. Wer sich an die standardisierten
Wahrnehmungs- und Darstellungsprogramme hält, kann allein auf das
Medium Druck vertrauend, also im einseitigen monomedialen Informationstausch,
Erfahrungen und Gedankengänge des Gegenübers wiederholen. Hierin
liegt ihre welthistorische Leistung – und ihre Grenze, die gerade
in unserer Gegenwart merklich wird.
Zum erstenmal eröffnet sich gegenwärtig in der Kulturgeschichte
die Möglichkeit, rückkopp-lungsintensive Formen der Informationsverarbeitung
und Kommunikation in allen Phasen technisch zu verstärken. Die neuen
elektronischen Netze lösen im Verein mit Programmen das Problem interaktionsintensiver
Informationsverarbeitung im globalen Maßstab.
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