Schema Die kommunikative Interaktionsform Erzählen
   
Wenn es zu einer prototypischen erzählenden Interaktion kommt, dann ist die Erzählung des Erzählers nur ein Beitrag. Sowohl der Erzähler als auch die Zuhörer haben vielfältige Aufgaben zu erfüllen, damit die eingebrachten Informationen gut verarbeitet werden können.
Im folgenden stelle ich zunächst das ideale Programm vor, nach dem der Erzähler seine Informationen darstellt. Natürlich ist dieses Programm nicht nur beim Erzähler, sondern auch bei seinen Zuhörern mehr oder weniger vollständig repräsentiert.

Programm der Darstellung selbsterlebter Interaktionserfahrungen in sozialen Systemen:
 

1. Problemverdeutlichung/Themenankündigung
("Da ist mir doch neulich folgendes passiert...")
2. Relevanzandeutung
("Und das hat mich ganz schön durcheinander gebracht")
3. Orientierung über
a) den Ort (die Institution) des Geschehens
b) die beteiligten Personen und ihre Beziehungen
c) die Zeit (in Abhängigkeit von der Biographie des Erzählers)
d) ggf. wichtige Umweltbedingungen/übergreifende Handlungszusammenhänge
4. Schilderung
a) des eigenen Verhaltens
b) des eigenen Erlebens und
c) der Gedanken und Reflexionen der eigenen Person zum Zeitpunkt des Geschehens.
5.

Schilderung
a) des fremden Verhaltens und der Eigenschaften des Gegenübers,
b) der Annahmen über die Gefühle und das Erleben des Gegenübers und
c) der Annahmen über die Gedanken und Strategien des/der Interaktionspartner

6. Schilderung der nachträglichen (intrapsychischen)
a) gefühlsmäßigen Verarbeitung und der
b) verstandesmäßigen, reflexiven Verarbeitung des Geschehens.
  (4c, 5c und 6 lassen sich nicht immer gut voneinander trennen. 6b meint vor allem die nachträglichen Theorien, die der Erzähler über das Geschehen entwickelt, seine Deutungen, die erst die Relevanz der Ereignisse für den Erzähler zum Ausdruck bringen!)
7. Schilderung der Schlußfolgerungen, die der Erzähler aus der Verarbeitung des Erlebnisses für sein Selbstbild und für sein zukünftiges Verhalten und Erleben zieht. Hier kann man unterscheiden zwischen
a) der individuellen Bewertung (persönliche Maximen, Selbstbild) und
b) der sozialen Bewertung, der Formulierung einer Moral (Über-Ich!)
8. Eingehen auf den Zuhörer und die Erzählsituation, Entschuldigung wegen unvollständiger Darstellung, Hinweise auf die Erwartungen an die Zuhörer.
 

In keiner mir bekannten Erzählung wird dieses Programm vollständig abgewickelt. Im Gegenteil: Wäre der Erzähler in der Lage nach diesem Programm seine Erlebnisse zu verarbeiten, so hätte er keinen Anlaß mehr, zu erzählen. Er wendet sich eben deshalb an Zuhörer, weil er einzelne Programmpunkte nicht alleine bearbeiten kann. Die Aufgabe der Zuhörer ist es demnach, Lücken im Programm zu vervollständigen. Diese Aufgabe kann der Zuhörer nur deshalb erfüllen, weil er selbst ein entsprechendes Programm im Kopf hat.

Diese Interaktion zwischen dem Erzähler und seinen Zuhörern beginnt selbstverständlich nicht erst nach Abschluß der mehr oder weniger langen Erzählung. Vielmehr wird der Zuhörer schon während der Erzähler mit seiner Geschichte beginnt, nachfragen, wenn ihm relevante Informationen fehlen. Allerdings gibt es hier gewisse Einschränkungen, die verhindern sollen, daß der Erzählfluß zu sehr unterbrochen wird. Typischerweise interveniert der Zuhörer genau dann, wenn einer der o.g. Programmpunkte abgewickelt ist - und nicht zwischendurch.