Beispiel Mikroanalyse ambigener Äußerungen in einer Forschergruppe
   

Exemplarisch für mikroanalytische Verfahren werden hier die Rekonstruktion von Bedeutungszuschreibungen und die Auflösung von Korrekturen in Verbaltranskripten vorgeführt.

Setting: Sitzung einer Forschergruppe mit 8 Mitgliedern (anwesend sind 5) und dem Dozenten. Die studentische Forschergruppe möchte mit narrativen Interviews Berufsmotivationen von Berufsschullehrern herausarbeiten. In der vorigen Sitzung sollte sie zu diesem Zweck einen Interviewleitfaden entwerfen. Dieser Entwurf ist Gegenstand der aktuellen Diskussion. Der Dozent zeigt sich unzufrieden mit der Arbeit. Die Tonaufzeichnung setzt mitten in der Diskussion an:
 

Marion ich frag mich sowieso gerade wer hier analysiert wird (.) denn äh die Fragen die wir stellen die sind doch eigentlich (..) äh (..) so rein impulsiv also so ausm Bauch heraus eigentlich (..) man kann doch eigentlich keine Fragen stellen die so tiefgreifend überlegt sind (..) finde ich so (.) also wir sollen doch ihn eigentlich (k) und nur das was (k) nur das was zwischen den Zeilen steht(,)
Dozent (lacht) jaa ja ja ja und das (k) und das lese ich hier (lachen)
Anke ja was Herr [Dozent] was was fehlt ihnen denn jetzt oder was hätten sie denn gerne (')
Sabine ja genau(,) ja ehrlich also ich komme (-)
Arno ja meine Sache (-)
Dozent also hier(-) hier wird überhaupt nicht draus deutlich daß sie sich überhaupt schon zwei Stunden mit diesem (k) mit dieser (k) mit diesem Problem beschäftigt haben sondern (-)
Sabine doch das steht da doch alles
Arno Das ist es ja (-)
Dozent (u) Ausbildung wie lange warum (.) wann ist die Entscheidung zum Grundschul (k) äh zum Berufsschullehrer gefallen (..) ne (´) welche Kontakte haben sie zu Praxisfeldern äh es sind doch äh (..)
Stefan finden sie das nicht interessant (.) die Fragen (´)
Dozent (k) doch aber das äh (k) es ist sone typische Art irgendwie das dann gleich wieder auf diese rationalen Informationskerne zu reduzieren und da jedes persönliche Interesse herauszutreiben (,) und das ist jetzt (-)
Stefan aber ich find daf dafür sind wir doch ne Gruppe wir hatten da wirklich Schwierigkeiten uns nur darauf zu einigen (,)
Dozent ja das ist das ja das ist (lacht, klatscht in die Hände)
Stefan Denn wir können ja nicht jeder als Einzelperson (.) unsere Fragen stellen/deswegen müssen wir uns doch auf ein Schema
Dozent ja wir können das sagen ja ja da ja aber (-)
Stefan einigen das eben so kurz gefaßt (,)
Zusammenfassung
Rekonstruiert wird im Folgenden der Beitrag “hier wird überhaupt nicht draus deutlich daß sie sich schon zwei Stunden”

Paraphrasenbildung zu 'hier’
 

1. An diesem Interviewleitfaden
2. In dieser Sitzung
3. An den Beiträgen, die sie im Seminar leisten
4. An den Fragen, die sie an mich stellen
5. An dem, was sie über Berufsschullehrer erfahren wollen
6. An den Fragen, die sie sich stellen
7. An den Fragen, die sie den Lehrern stellen wollen
8. Daran, wie sie hier miteinander diskutieren
9. An dem Entwicklungsstand ihrer Arbeit
 
Ordnung der Paraphrasenalternativen
 
a) an ihren Arbeitsergebnissen
b) an ihrer Zusammenarbeit als Gruppe
c) an den Fragen des Interviewleitfadens
 
Vermutungen über den Fortgang des Gesprächs
 
a) Die Gruppe diskutiert die Ergebnisse ihrer bisherigen Arbeit
b) Die Gruppe betreibt (mit dem Dozenten) Selbstreflektion ihrer Gruppendynamik, thematisiert die Probleme der Zusammenarbeit
c) Die einzelnen Fragen des Interviewleitfaden werden diskutiert, evtl. verbessert
 
In dem gleichen Beitrag des Dozenten findet sich noch eine Selsbtkorrektur, bevor die eben gebildeten Hypothesen überprüft werden, soll zunächst als weiteres Beispiel eines mikroanalytischen Verfahrens die Korrekturauflösung demonstriert werden. Dabei geht man so vor, daß man den Teil des Beitrages bis zur Korrektur (markiert durch das Transkriptionszeichen (k) ) versucht zu einem syntaktisch und semantisch kohärenten und sinnhaften Satz zu vollenden. Man versucht so, zu rekonstruieren, was der Sprecher zunächst sagen wollte, sich denn aber doch entschieden hat, nicht zu sagen.

“hier wird überhaupt nicht draus deutlich daß sie sich schon zwei Stunden mit diesem (k1) mit dieser (k2) mit diesem Problem beschäftigt haben”

(k1):
 

mit diesem Problem
mit diesem Interviewleitfaden
mit diesem Thema
mit diesem Fragenkomplex
 
(k2):
 
mit dieser Fragestellung
mit dieser Methode
mit dieser Frage
mit dieser Arbeit
mit dieser Gruppe
 
Auch diese Vervollständigungen lassen sich in Gruppen ordnen, die inhaltlich denen der Paraphrasierung gleichen:
 
mit ihren Arbeitsergebnissen
mit ihrer Gruppenarbeit
mit den Fragen des Interviewleitfadens

 
Der gesamte Beitrag des Dozenten ist also mehrdeutig – die Ambivalenz wird von ihm nicht aufgelöst.

Überprüfung des Lesarten
 
Der erste Beitrag, der gleichzeitig mit dem Beitrag des Dozenten gesprochen wird

“Sabine: doch das steht da doch alles”
hält die Mehrdeutigkeit noch weiter aufrecht, Substituionen für das “das” entsprechen den oben aufgeführten.
Erst im nächsten Beitrag wird die Mehrdeutigkeit aufgehoben, der Dozent liest die Fragen des Interviewleitfadens vor:
Dozent: (u) Ausbildung wie lange warum (.) wann ist die Entscheidung zum Grundschul (k) äh zum Berufsschullehrer gefallen (..) ne (´) welche Kontakte haben sie zu Praxisfeldern äh es sind doch äh (..)
Mit dieser Aussage hat er dem 'hier' und dem 'das' von Sabine die Bedeutung c) 'die Fragen des Interviewleitfadens’ zugeschrieben.
Stefan bestätigt diese Zuschreibung des Dozenten:
Stefan: finden sie das nicht interessant (.) die Fragen (´),
thematisiert dann aber mit seinem nächsten Beitrag die Gruppenarbeit bzw. Gruppendynamik, was als Fortgang des Gespräches für die Paraphrasenalternative b) die Gruppenarbeit erwartet wurde.
Auch diese Zuschreibung wird nun wiederum vom Dozenten bestätigt – und zwar mit Nachdruck:
Dozent: ja das ist das ja das ist (lacht, klatscht in die Hände)

Mithin haben sowohl der Dozent – als Sprecher der ersten hier analysierten Mehrdeutigkeit - als auch die einzelnen Teilnehmer der Studentengruppen beide Lesarten des 'hier' vorgenommen, die Ambivalenz wurde zunächst aufrechterhalten und dann wurden beide Lesarten explizit genannt.
Betrachtet man den Anfang des hier aufgezeichneten Gespräches, so zeigt sich schon im ersten Beitrag eine ähnlich 'unklare' Lokalisierung:
Marion: ich frag mich sowieso gerade wer hier analysiert wird (.)
Die möglichen Substitutionen für Marions 'hier' ähneln den oben beschriebenen. Bereits dort sind die Mehrdeutigkeit vorhanden, die erst mit dem Vorlesen der Fragen und der Thematisierung der Gruppenarbeit eben nicht aufgelöst aber benannt wird. (Die ersten Beiträge einer Mikroanalyse zu unterziehen, bietet sich als Übungsaufgabe an!)