Aufsatz Ein Anwendungsbeispiel für eine Normalformanalyse: Erzählen in der Beratung/ Supervision
   

Im Kapitel 7 habe ich die Normalform des Erzählens in groben Umrissen dargestellt. In den folgenden Abschnitten, die aus dem Buch 'Supervision als Medium Kommunikativer Sozialforschung' (Giesecke/ Rappe-Giesecke, Ffm., 1997) entnommen sind, wird dieses Modell auf einen kleinen Transkriptionsausschnitt einer Gruppensupervision angewendet.

Die Fallstudie mag zugleich auch einen Einblick in das 'schichtenweise' Vorgehen bei Mikroanalysen geben.
 
Die Normalformanalyse: Ziele, Methoden und Anwendungsbeispiele
Ziele und Analyseschritte

Das allgemeine Ziel der Normalformanalyse (NFA) ist immer ein Verstehen von kommunikativen Vorgängen in abgegrenzten Systemen in einem kommunikationswissenschaftlichen Sinn. Verstanden sind die kommunikativen Vorgänge dann, wenn sie entsprechend der Normalformmodelle klassifiziert oder 'kodiert' sind. Die Normalformanalyse ist deshalb eine voraussetzungsvolle Methode. Sie kann nicht mit beliebigem Datenmaterial von beliebigen Gegenständen mit einem beliebigen Aufwand durchgeführt werden. Vielmehr hat sie zur Voraussetzung, daß Transkriptionen des kommunikativen Geschehens eines Systems, über das schon Normalformmodelle gebildet wurden, vorliegen. Die Mindestvoraussetzung für die Analyse von Supervisions- und Balintgruppen ist demnach die Existenz eines institutionellen Normalformmodells dieser Gruppen und einer ausführlichen Transkription.

Meistens ist aber das Ziel der Normalformananlyse nicht bloß ein kodierendes Verstehen sondern man will bestimmte Typen von Informationen gewinnen. Welche Typen dies sind, hängt von der Funktion ab, die das Forschungssystem für seine Umwelt hat. Beispielsweise kann die Normalformanalyse dazu dienen, angehenden Supervisoren in Lehrveranstaltungen die Strukturen von Supervisionen zu veranschaulichen. Sie kann anderen Forschungssystemen, z.B. Sprachwissenschaftlern, die sich mit deiktischen Phänomenen beschäftigen,zuarbeiten. Eine schon angesprochene Funktion der Normalformanalyse in dem Kasseler Projekt war es, systematisch solche Phänomene zu ermitteln, die für die Praktiker und Psychoanalytiker Indikatoren für unbewußte Vorgänge entweder in der Gruppe oder bei einem einzelnen Gruppenmitglied sind.

Die Normalformanalyse führt immer zu einer ausführlichen Fallbeschreibung, die eine intersubjektive Überprüfung und den Vergleich mit anderen Phänomenen ermöglicht.

Nachdem die Sitzung transkribiert und noch zusätzliche Daten über die Situationsdefinition (Selbstbeschreibung) der Gruppe durch Interviews und Aktenanalyse erhoben sind, beginnt die Normalformanalyse mit einer Beschreibung des Settings. Die Daten der ausgewählten Sitzung werden mit den Merkmalen verglichen, die im Normalformmodell als 'Setting' und 'Ziele' der Institution beschrieben sind.

Da die empirischen Phänomene immer mehr oder weniger stark von dem Modell der Art abweichen, können in dieser Forschungsphase schon erste Besonderheiten des untersuchten Systems festgehalten werden. Aus diesen Besonderheiten lassen sich schon Prognosen über mögliche Abweichungen des Ablaufschemas ableiten. Die Überprüfung dieser Prognosen in der nächsten Phase ist zugleich ein Indiz für die Angemessenheit der Setting-Beschreibung.

In der zweiten Phase geht es darum, die Ablaufstruktur, so wie sie in der Transkription dokumentiert ist, zu verstehen und zu beschreiben.

Hierbei müssen sich mikroskopische und makroskopische Herangehensweisen ergänzen. Zum einen wird man im Stile der sequenziellen Analyse versuchen, Äußerung für Äußerung zu verstehen, zum anderen nutzt man seine Feldkompetenz und das institutionelle Normalformmodell, um frühzeitig die generelle Phasenstruktur der Sitzung zu ermitteln und sich eine Vorstellung darüber zu verschaffen, inwieweit sie mit den Normalformerwartungen übereinstimmt. Praktisch sieht das so aus, daß man zunächst die Transkription der gesamten Sitzung durchliest, die Phasen und Sequenzen, soweit sie im ersten Anlauf auffallen, notiert, um dann am Ende eine erste grobe Normalformbeschreibung anzufertigen. Wenn man wie wir das Normalformmodell der entsprechenden Institution selbst rekonstruiert hat, dann geschieht das rasch und problemlos. Wer weniger Feldkompetenz besitzt und das Normalformmodell nicht so gut kennt, wird eher gezwungen sein, mikroskopisch und sequenziell vorzugehen.

Die sequenzielle Analyse geht 'kleinräumig' Äußerung für Äußerung vor und zerlegt diese, falls sie zu komplex werden, noch in einzelne 'Propositionen'. Erst nachdem die Äußerungen bzw. die Teilaussagen der Äußerung verstanden sind, wird zu dem nachfolgenden Turn übergegangen. Weil diese sequenzielle Analyse kontinuierlich, 'linear' fortschreitet, findet sich der Forscher jeweils 'auf der Höhe' der von ihm untersuchten Äußerung ('Sequenz'). Die formale Konversationsanalyse legt aufgrund ihrer axiomatischen Annahme von der turnweisen Verkettung der Äußerungen viel Wert darauf, daß auch die Forscher sich so verhalten, als wenn sie wie die Beteiligten in der beobachteten Interaktion keine Kenntnis über den weiteren Fortgang des Geschehens haben. Ihre Anhänger studieren also die Transkription nicht wie ein gedrucktes Fachbuch, in dem man vor und zurückblättern kann, sie lesen die Transkription vor der Feinanalyse deshalb auch nicht durch, sondern beginnen Schritt für Schritt mit der sequenziellen Analyse.

Wie wir schon ausgeführt haben, glauben wir nicht, daß irgendein Gruppenmitglied und schon gar nicht der Leiter in den Supervisions- und Balintgruppen oder in einer anderen Institution so wenig programmatische Informationen besitzt, wie der sich auf diese Weise bornierende wissenschaftliche Betrachter. Jedes Gruppenmitglied hat weiträumige Ablauferwartungen darüber, was in den folgenden 50, 60 oder 90 Minuten passiert. Natürlich kann er dies im strikten Sinne nicht wissen. Aber er kann überhaupt nur handeln, weil er so tut, als ob er sich darauf verlassen könnte, daß seine programmatischen Annahmen auch eintreffen. Seine Normalformerwartungen sind Idealisierungen und sie haben deshalb oft genau den gleichen Status wie die Normalformmodelle des Kommunikationswissenschaftlers.

Genauso wie die Gruppenteilnehmer vom Allgemeinen der Normalformerwartungen zum besonderen Verstehen der einzelnen Äußerung schreiten und umgekehrt jede einzelne Äußerung wieder als Test für die Richtigkeit ihrer Annahmen über das allgemeine Ablaufschema nutzen, genauso sollte auch der Forscher bei seiner Interpretation das makroskopische mit dem mikroskopischen Herangehen verknüpfen. Das puristische, eindimensionale sequenzielle Vorgehen führt, zumindest bei Institutionen, in die Sackgasse.

Bevor wir unser Vorgehen an einem Beispiel veranschaulichen, wollen wir die wichtigsten Arbeitsschritte bei der Auswertung einer Passage der Transkription kurz skizzieren. (Vgl. a. 2.4)

Der 1. Schritt ist die quellennahme Paraphrasierung einer einzelnen Äußerung des Gruppenmitglieds. Man stellt sich dabei auf den Standpunkt der Zuhörer und versucht, alle denkbaren Bedeutungszuschreibungen aufzulisten. Das Ergebnis dieser Rekonstruktion sind Paraphrasen, sie werden als Hypothesen über die Bedeutungszuschreibungen der Beteiligten behandelt.

Im 2. Schritt werden die Paraphrasenalternativen durch Hinzuziehung von Kontextinformationen reduziert. Zu diesen Kontextinformationen gehören natürlich zuallererst die Normalformerwartungen, die in der betreffenden Situation wirksam sein könnten. Es werden dann Hypothesen gebildet, wie die Zuhörer sich vermutlich verhalten werden, wenn sie die Äußerung des Sprechers im Sinne der wahrscheinlichen Paraphrasen verstanden haben.

In der 3. Phase wird überprüft, ob die Hypothesen über das Verhalten der Zuhörer eintreten. Dazu betrachtet man dann die nachfolgende Äußerungen in der Transkription. Man kann dabei auch davon ausgehen, daß der Sprecher,falls die Rekonstruktionen der Zuhörer seine Intention nicht befriedigend treffen, in den nachfolgenden Sequenzen intervenieren wird.

Auf einer 4. Stufe beginnt man mit der Analyse der Standpunkte und Perspektiven, die die Beteiligten in der betreffenden Sequenz eingenommen haben. Ebenso wird das Modalitätsschema der Äußerung und ihr Referenzraum bestimmt. Ergebnis dieser Analyse sind Hypothesen über die Positionen des Sprechers und eine Zuordnung der Äußerung zu einer Phase und einer Sequenz des Normalformmodells.

Im 5. Schritt wird zunächst bestimmt, welcher Standpunkt und welche Perspektiven ein Sprecher einzunehmen hätte, wenn er entsprechend der Normalformerwartungen in der Phase handelt, in der die Äußerung hypothetisch eingeordnet wurde und welche thematischen Fokussierungen in diesem Fall zu erwarten sind. Die Ergebnisse des vorigen Untersuchungsschrittes werden mit diesen Annahmen verglichen. Von den Ergebnissen dieser Auswertung hängt dann das weitere Vorgehen bei der Untersuchung ab: Ist es möglich, die untersuchte Äußerung einer Phase des Ablaufschemas zuzuordnen und stimmen die Hypothesen über Standpunkte, Perspektiven, Referenzräume und Aktivitäten mit den entsprechenden Normalformerwartungen überein, dann ist die Kodierung abgeschlossen. Andernfalls handelt es sich bei der betreffenden Äußerung vermutlich um eine Abweichung von der Normalform. Diese Abweichung ist dann im einzelnen zu beschreiben.

In einem nachfolgenden 6. Schritt können dann die Hypothesen über die Bedeutungszuschreibung noch einmal überprüft werden. Es wird bei der Analyse der nachfolgenden Sequenzen immer wieder gefragt, ob der Fortgang der Interaktion den Normalformerwartungen entspricht und die 'eingesetzten' Bedeutungen bestätigt werden.

Da eine solche formale Darstellung der Normalformanalyse letztlich recht unanschaulich bleibt, wollen wir im Anschluß unser Vorgehen am Beispiel der Analyse eines konkreten kaum siebenzeiligen Gesprächsausschnitts aus der Balintgruppe demonstrieren.

Das Verstehen von Erzählungen: Ein Beispiel für die
Normalformanalyse institutionalisierter Kooperationsformen

Wir möchten in dem folgenden Abschnitt das Verständnis rekonstruieren, das Gruppenmitglieder und Leiter von einem Abschnitt einer Erzählung haben, die in der von D. Eicke geleiteten Balintgruppe eingebracht wurde. Wir gehen dabei davon aus, daß für die Beteiligten die von uns ausgearbeiteten institutionellen Normalformerwartungen, die Erwartungen über die kommunikative Kooperationsform Erzählen und elementare alltagsweltliche Regeln der Verständigungssicherung handlungsleitend und orientierungsrelevant sind.

Die Analyse wird zeigen, wie die Bedeutungszuschreibungen der Gruppenteilnehmer unter Rückgriff auf diese drei verschiedenen Regeltypen der Reziprozitätsherstellung schrittweise rekonstruiert werden können.

Wir wollen weiterhin zeigen, daß kommunikatives Verhalten, welches von den inkraftgesetzten Normalformerwartungen abweicht, den Beteiligten auffällt und einen Reparaturzwang auf die nachfolgende Interaktion ausübt. Wir werden nachweisen, wie aus solchen Abweichungen Prognosen über den weiteren Fortgang der Interaktion gebildet werden können. Die Identifizierung von Abweichungen und die Bildung und Überprüfung von Hypothesen über den Fortgang der Interaktion sind das wichtigste Instrument zur Verifikation oder Falsifikation unserer Annahmen über die Struktur der Regelsysteme und über die Bedeutungszuschreibungen der Beteiligten. Insoweit hat auch diese Fallstudie den Charakter eines Normalformtests.(Vgl. Abschnitt 3.5)

Die verschiedenen Regeltypen der Reziprozitätsherstellung sollen an dieser Stelle nicht noch einmal erläutert werden. Einzig zum 'Erzählen' sind einige zusätzliche Informationen angebracht. Zunächst sei daran erinnert, daß seine Normalform durch die spezifischen Ziele der Institution überformt wird: Es soll ein dem Erzähler problematisches Erlebnis - und keine 'Siegergeschichte' - in einem zusammenhängenden Text mitgeteilt werden. Zumeist ist sich der Erzähler zum Zeitpunkt der Erzählung noch nicht über sein Erleben des Geschehens und über das Erleben seiner Interaktionspartner im Klaren. Er hat sein Erleben noch nicht verarbeitet. Es scheint uns genau dieser problematische Status der Erlebnisverarbeitung zu sein, welcher sich in der Erzählung ausdrückt, der für diese Institution typisch ist und der das weitere Geschehen in der einzelnen Gruppensitzung bestimmt. Die unzulängliche Verarbeitung des Erlebens drückt sich in der Erzählung aus und wird, wie zu zeigen ist, von den Gruppenteilnehmern bemerkt. Einzelne Aspekte der Erzählung scheinen den Teilnehmern unklar, sie fragen nach und so beginnt die Bearbeitungsphase.

Um Auffälligkeiten oder fehlende Teile einer Erzählung feststellen zu können, müssen die Gruppenmitglieder Erwartungen darüber haben, wie eine vollständige Erzählung aussieht. Wir nehmen an, daß diese Erwartungen einen sehr allgemeinen Charakter besitzen und sich deshalb unabhängig von den besonderen Inhalten einer jeden Erzählung beschreiben lassen.

Unsere Vorstellungen von den Normalformerwartungen des Erzählens werden wir im Abschnitt 4.1 ausführlich darlegen. Für den Moment mag folgende kurze Erläuterung ausreichen:

Nach einer Problemankündigung und der Andeutung der Relevanz dieses Problems für seine eigene Person liefert der Erzähler eine Orientierung über Zeit, Ort, Personen und ggf. institutionelle Bedingungen des Geschehens, über das er sprechen möchte. Danach schildert er das Geschehen in Form einer Ereigniskette, wobei er sein eigenes Verhalten und das seiner Interaktionspartner hervorhebt. Diese Ereigniskette enthält meist einen 'Ereignisknoten', einen Punkt maximaler Detaillierung desjenigen Geschehens, auf das es dem Erzähler ankommt.

Zu wichtigen Etappen der Ereigniskette teilt der Erzähler sein Erleben mit und liefert nachträgliche oder situationsgebundene Interpretationen des Geschehens. Den Abschluß der Erzählung bildet normalerweise eine Problemverdeutlichung, in der er den Gruppenmitgliedern den Stand seiner Verarbeitung des Geschehens mitteilt.

Da wir Erzählen als eine kommunikative Interaktionsform verstehen, ist die Rezeption der Erzählung, das Nachfragen und ggf. die Vervollständigung von Elementen der Ereigniskette durch die übrigen Gruppenteilnehmer ebenfalls ein Gegenstand der Erzählanalyse. Wie eine solche Erzählung im Laufe der Sitzung vervollständigt wird, schildern wir im Abschnitt 4.2. Aus dem Grade der Vollständigkeit der eingangs von dem Erzähler abgelieferten Erzählung kann man auf mögliche Probleme der Gruppenarbeit schließen.

Diese theoretischen Erläuterungen mögen zunächst ausreichen.

Das Fallbeispiel

Bei einer gründlichen Normalformanalyse müßten an dieser Stelle die Daten präsentiert werden, aus denen wir ersehen können, ob das Setting der untersuchten Gruppe den Annahmen im Normalformmodell entspricht. Es handelt sich in unserem Beispiel um die 2.Sitzung der Kontrollsupervision, die D.Eicke mit den Lehrsupervisoren des Studiengangs durchgeführt hat. (Vgl. die vollständige Transkription im Anhang, 10.3) Diese Gruppe weicht sowohl von den Standardvorstellungen einer Balintgruppe ab, die i.d.R. mit frei praktizierenden Ärzten durchgeführt wird, als auch von den üblichen Supervisonen, die Professionals beraten. (Vgl. Abb.1) Wir werden diese Besonderheiten hier zurückstellen, weil sie für die Bewertung der ausgewählten Passagen nicht so wichtig sind. Andererseits sei darauf hingewiesen, daß der Gruppenleiter seine Kontrollsupervision vermutlich nicht zufällig als 'Balintgruppe' ausgeschrieben hat. Man hätte hier zu überprüfen, inwieweit er seine Maximen, die er für die Ärztegruppe z.B. in dem Aufsatz 'Die Technik der Balintgruppenteilung' (1974) dargelegt hat, auch auf die vorliegende Kontrollsupervision ausdehnt - und welche Folgen diese 'Übertragung' nach sich zieht. Wir stellen diese Frage bis zum Abschnitt 4.4 zurück, überspringen auch die Analyse der Komplexität und der Selbstbeschreibung der Institution und wenden uns gleich der dynamischen Dimension zu.


Der zu interpretierende Transkriptionsausschnitt gibt den Redebeitrag eines Mitglieds der Balintgruppe, Herrn Gallas, wieder. Die Äußerung fällt nur wenige Minuten nach Beginn der Gruppenarbeit.

Gallas:

8 Das war also nur eine Sache die (.) ich bisher noch nie erlebt

9 hatte ..

10 Das war letzte Woche/ ich muß dazu sagen/ zwei Studenten kommen

11 zu mir/ Sibylle Lühr und Heinz Wöhler/ sie sind Ihnen vielleicht

12 bekannt .. im vierten Semester/ wenn ich mich nicht irre/ und sie

13 bringen ihre Fälle/ erörtern sie bei uns in einer (k) zu dritt/

14 ich weiß nicht/ ob man da schon von (lachend gesprochen)Gruppen-

15 supervision sprechen kann/ wir machen es jedenfalls zu dritt(,)

16 und äh nachdem wir (-)


Wir werden uns in der nachfolgenden Analyse auf diesen Gesprächsausschnitt konzentrieren. Herr Gallas wird dann von einem Gesprächspartner unterbrochen, setzt wenig später aber seine Darstellung weiter fort. Um einen besseren Eindruck von seiner Falleinbringung zu geben, teilen wir den Fortgang seiner Äußerung ebenfalls mit:

Gallas:

Nachdem wir .. über eine Stunde mit Sibylle Lühr über ihren Fall gesprochen hatten/ wollte Heinz Wöhler seine Sache einbringen/ er war (.) also sehr daran interessiert das vorzutragen und wir waren auch in einer entsprechenden Erwartungshaltung/ er erzählte/ daß er in U. eine Familie betreue (') der .. Ehemann stehe unter Bewährungsaufsicht/ er hatte sich aber (.) mit der ganzen Familie zusammengetan/ war auch schon mehrere Male dort gewesen/ und dann sagte er/ er müsse es einfach loswerden/ er sei(,) wenige Tage davor in diese Familie gekommen (ahmt den Studenten nach) und stellt euch vor/ die haben sich gefreut als ich reinkam(.) haben mich wie einen Freund der Familie betrachtet (k) behandelt/ haben mich zum Essen eingeladen/ ich war also wie überwältigt +/ (.) und dann schwieg er und wir sagten/ und/ oder ich sagte (k)../ da meinte er/ und ist das nichts(`)

Leiter:

mhm

Gallas:

und darin erschöpfte sich das ganze (.) aus seiner Sicht/ na ja und daß die Fragestellung jetzt der beiden anderen dann erst losging/ darüber war er sehr enttäuscht/ er wollte uns dieses Erlebnis dieser (.) totalen Anerkennung als Sozialarbeiter als etwas Besonderes vermitteln .. und war dann sehr enttäuscht/ weil (.) die (.) Fragestellung (.) dann begann einfach nach der Ursache/ was steckt dahinter(?)/ weshalb..äh.ist er in dieser Weise(.)dieser Familie begrüßt worden/ wie ein Freund behandelt worden(-)

Leiter:

mhm

Gallas:

was hat sich danach abgespielt(') auch in seiner Rollenfunktion als Bewährungshelfer (') das hat ihm fast weh getan/ daß diese Sache dann hinterfragt wurde/ obwohl er wirklich das Bedürfnis hatte die Sache einzubringen/ und die Supervisionsstunde/ die in ersten (k) in den ersten zwei Dritteln sehr interessant verlaufen war sehr dynamisch/ endete dann mit dieser Blockierung/ er stand zum Schluß auf und ging weg/ weil er es nicht ertrug/ daß (.) er genau da/ wo er ein .. eine ganz große Leistung vollbracht zu haben glaubte/ plötzlich in Frage gestellt worden war/ das heißt nicht er selbst/ aber es war versucht worden/ dahinter zu kommen/ was die Familie bewegt/ und (.) dieses Erlebnis bewegt mich jetzt auch ja (') was da (.) vorgefallen ist bei ihm/ bei der Familie und (.) bei mir (,) 5

Im nächsten Arbeitsschritt bestimmen wir den Stellenwert der zu untersuchenden Äußerung im Rahmen der verschiedenen Ablauferwartungen und Regelsysteme.

Institutionelle Normalformanalyse

Vor dem Hintergrund der Normalformerwartungen über den Ablauf von Supervisions- und Balintgruppen können wir die Äußerung von Herrn Gallas (Z.8-16) als Beginn einer 'Falleinbringung' identifizieren. Wir befinden uns also am Anfang der Falleinbringungsphase. Der Erzähler weicht aber in zweifacher Hinsicht von den normalen Erwartungen einer Falleinbringung in dieser Gruppe ab. Einmal beabsichtigt er nicht, eine Geschichte aus seiner Lehrsupervision - also der Supervision von Studenten des Supervisionsstudiengangs - zu erzählen, sondern er möchte über seine Praxisberatung mit Studenten des Studiengangs 'Sozialwesen' sprechen. Diese Art von Supervision ist jedoch nicht Gegenstand der Balintgruppenarbeit. Der Erzähler ist Mitglied der Balintgruppe, weil er, wie alle anderen Teilnehmer, Lehrsupervisor ist und nicht, weil er Praxisberatung mit Studenten der Sozialarbeit macht. Insofern verletzt er also die Erwartungen der Gruppe an den Gegenstand der Falleinbringung, an das Setting. (Vgl. Abschnitt 3.4). Damit hängt eine andere Abweichung zusammen, die sich auf die Darstellung seiner eigenen Person richtet: Er präsentiert sich nicht als Lehrsupervisor, sondern als 'einfacher' Supervisor. Die normale Selbsttypisierung der Gruppenmitglieder ist aber aufgrund ihrer Profession die eines Ausbilders von Supervisoren und nicht die eines Supervisors von Praktikern oder von Studenten anderer Fachrichtungen.
 

Erzählanalyse

Die Abwicklung des Beginns der Falleinbringung entspricht ganz den Erwartungen: Herr Gallas, der Erzähler, beginnt mit einer kurzen Relevanzandeutung: "Das war also nur eine Sache die (.) ich bisher noch nie erlebt hatte ..."(Z 8/ 9). Nach einer Orientierung über den Schauplatz des Geschehens (Z 9-15) teilt er anschließend seine Erlebnisse mit.

Wir haben es hier also mit einer Erzählung zu tun, derjenigen Kommunikationsform, in der üblicherweise die Fälle in die psychoanalytisch orientierten Supervisions- und in Balintgruppen eingebracht werden. In einem zweiten Auswertungsschritt kann diese Passage mit den Mitteln der Erzählanalyse untersucht werden.


Die Orientierung über das Geschehen, das der Erzähler "bisher noch nie erlebt hatte", beginnt mit einer Zeitangabe "das war letzte Woche" (Z lo). Danach erfolgt der Hinweis, daß noch weitere Momente der Orientierung nachgeliefert werden sollen: "Ich muß dazu sagen" (Z lo): "Zwei Studenten kommen zu mir, Sibylle Lühr und Heinz Wöhler/ sie sind ihnen vielleicht bekannt .. im 4.Semester/ wenn ich mich nicht irre" (Z lo-12). Durch diese Information macht der Erzähler seine Zuhörer mit den Figuren des Geschehens bekannt. Er nennt die Anzahl und typisiert die Personen: Zwei Studenten der Sozialarbeit und er selbst werden im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Im folgenden Satz wird durch die Angabe 'bei uns' der Ort der Handlung, also der Supervision, näher bezeichnet. Die Studenten kommen, wie spätere Erläuterungen des Erzählers zeigen, in sein Büro in der 'Bewährungshilfe', bei der er neben seiner Tätigkeit als Lehrsupervisor beschäftigt ist. Dies ist insofern außergewöhnlich, als normalerweise die Supervision mit Studenten in der Hochschule stattfindet.

Nach einer Zwischensequenz beginnt der Erzähler mit der Schilderung der Ereigniskette (Z 22).

Betrachtet man die hier vorliegende Orientierung vor dem Hintergrund der Normalformerwartungen des Erzählens, so sind drei Momente auffällig:

1. Der Gegenstand, die besondere Thematik der Supervision, über die der Erzähler berichten möchte, wird nicht benannt. Normalerweise braucht dies nicht zu geschehen, weil die Gruppenmitglieder davon ausgehen, daß über Probleme der Lehrsupervision bzw. der Supervision berichtet wird. In diesem Fall stellt der Erzähler aber eine ganz andere Gruppe, eine ganz andere Art von Supervision, vor. Der Falleinbringer kann nicht davon ausgehen, daß die übrigen Gruppenmitglieder das Setting dieser Gruppe kennen und wissen, welche berufliche Thematik hier behandelt wird. Der Satz: "Und sie bringen ihre Fälle" (Z 12/ 13) müßte in diesem Sinn ergänzt werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Orientierung also unvollständig. Nimmt man die Informationen, die der Erzähler in späteren Phasen der Gruppenarbeit nachliefert, zu Hilfe, so könnte man die Orientierung wie folgt vervollständigen: Zwei Studenten kommen zu mir in die Supervision, sie arbeiten als Praktikanten bei uns in der Bewährungshilfe und werden dort auch supervisiert. Sie besprechen mit mir dort ihre beruflichen Erfahrungen, die sie mit Praktikanten in der Gerichtshilfe, die ihnen zur Betreuung zugeteilt sind, in ihrem Praktikum gemacht haben.

2. Auffälig ist weiterhin, daß die Anzahl der beteiligten Personen dreimal benannt wird: "Zwei Studenten kommen zu mir" (Z 10/ 11), "zu dritt" (Z 13) und "zu dritt" (Z 15). Da die angegebene Anzahl der Personen von niemanden bezweifelt wurde, sind die beiden Wiederholungen zumindest auffällig und wohl erklärungsbedürftig.

3. Auffällig ist weiterhin der Einschub: "Ob man da schon von Gruppensupervision sprechen kann" (Z 12-13). Normalerweise benennen die Erzähler nur kurz die Anzahl der Supervisanden oder beugen Mißverständnissen über das Setting dadurch vor, daß sie angeben, ob es sich um eine Einzel- oder Gruppensupervision handelt, von der sie in der Folge berichten möchten. Genau dies hat Gallas auch getan: Man weiß, daß zwei Supervisanden von ihm supervisiert werden. Praktisch handelt es sich bei dem Einschub um eine Problematisierung des Settings; Herr Gallas fragt, ob es sich bei seiner Supervision "schon" um eine Gruppensupervision handelt. Insofern muß man den Einschub eher als eine Problemankündigung denn als eine Orientierung über die Interaktionsform auffassen. Eine vorgreifende Verdeutlichung des Problems des Erzählers wird auch zu Beginn einer Erzählung in den Supervisions- und Balintgruppen erwartet, es ist aber in diesem Fall eher zweifelhaft, ob Herr Gallas tatsächlich über das Problem sprechen möchte, ob eine 'Supervision zu dritt' 'Gruppensupervision' genannt werden kann. Diese Zweifel kommen, weil es sich bei der Frage um eine 'Zwischensequenz', einen Einschub handelt, der, wie die vorangehende Korrektur nahelegt, ursprünglich gar nicht geplant war. Selbst wenn man diese Passage aber als Problemverdeutlichung ansieht, bliebe erklärungsbedürftig, warum der Sprecher ausgerechnet bei der Benennung des Problems das Modalitätsschema wechselt und "lachend" vorträgt.
 
Man kann zusammenfassend feststellen, daß der Beginn der Erzählung von Herrn Gallas in einigen Punkten nicht den Normalformerwartungen über das Erzählen entspricht: eine notwendige Information fehlt, die Orientierung über die Person ist überdetailliert und die 'Problemverdeutlichung' fehlt oder ist zumindest merkwürdig 'verpackt'.

'Korrekturen': Beispielhafte Mikroanalysen kleinräumiger Gesprächsregeln

Bei der kleinräumigen konversationsanalytischen und sprachwissenschaftlichen Auswertung des ausgewählten Transkriptionsausschnitts (Z 8-16) sind wir mit Unklarheiten im Satzbau, einer Korrektur und einer Reihe von vagen Ausdrücken und Pronomen konfrontiert.

Diese Verständnisschwierigkeiten konzentrieren sich auf die Passage: "und sie bringen ihre Fälle/ erörtern sie bei uns in einer (k) zu dritt/ ich weiß nicht/ ob man da schon von (lachend gesprochen) Gruppensupervision sprechen kann/ wir machen es jedenfalls zu dritt (,)".

Betrachten wir zunächst die Korrektur: Bevor Herr Gallas seinen Satz durch die Angabe des Ortes oder der Institution, wo die Fälle erörtert werden, vollendet hat, bricht er ab und fährt dann mit der Bestimmung "zu dritt" fort. Es handelt sich hier um eine Änderung des Satzplanes, die wir in den Transkriptionen durch ein "(k)" kennzeichnen. Derartige Umstrukturierungen, die wir Korrekturen nennen, sind in der gesprochenen Sprache nichts Ungewöhnliches. Für konversationsanalytische und textlinguistische Untersuchungen bringen sie allerdings eine Reihe von Problemen mit sich, die bislang von der Fachwissenschaft kaum bearbeitet sind. Es soll deshalb in einem kurzen Exkurs mit unserem Umgang mit diesen 'Passagen' vertraut gemacht werden.

Die Kennzeichnung von Korrekturen in den Transkriptionen wird von den Transkribenten oder von uns nach dem 'Sprachgefühl' vorgenommen. Nach Begründungen für diese Markierungen suchen wir erst nachträglich und nur bei Bedarf. Die Übereinstimmung, die zwischen unterschiedlichen Transkribenten und Auswertern bei der Identifizierung von Korrekturen erreicht wird, stützt unsere Vermutung, daß diese Identifizierung regelgeleitet geschieht. Uns interessiert in der Folge aber nur der Umgang des Hörers mit den Korrekturen, insbesondere die Frage, nach welchen Regeln er in diesen Fällen eine Bedeutungszuschreibung vornimmt. Wir arbeiten gegenwärtig mit den folgenden Regeln, um Sätze, in denen syntaktische Korrekturen vorkommen, zu verstehen - und nehmen an, daß die Beteiligten in alltäglichen Gesprächen ebenso verfahren:

1. Normalerweise besagt das Korrekturzeichen '(k)': 'Lösche die vorangehenden Worte aus und setze stattdessen diejenigen Worte ein, die nach dem Korrekturzeichen folgen!'

Die Frage ist nun, wieviel Worte jeweils vor dem Zeichen durch den Leser/ Hörer gelöscht werden sollen. Hierzu lautet die zweite Regel:

2. 'Lösche soweit, bis ein syntaktisch kohärentes Gebilde entsteht, indem Du die Wortfolge, die nach dem Korrekturzeichen steht, anstelle der gelöschten Wortfolge einsetzt!'

Eine dritte Regel spezifiziert die Anzahl der zu löschenden Worte: Sie lautet:

3. `Lösche soweit, bis das erste Wort, das nach dem Korrekturzeichen steht, in dem vorhergehenden Text wieder auftaucht!'

Diese Regel kann an einem einfachen Beispiel veranschaulicht werden:

"... in der ersten (k) in den ersten". In diesem Transkriptionsausschnitt ist die Präposition 'in' dasjenige Wort, bis zu dem zu löschen ist. Handelt es sich nur um ein einziges Wort, das verbessert werden soll, so gilt diese Regel nicht. Die vierte Regel lautet:

4. 'Wird nach dem Korrekturzeichen kein Wort aus dem vorhergehenden Satz wiederholt und handelt es sich auch nicht um die Verbesserung eines einzelnen Wortes, dann lese zurück bis zum nächsten syntaktischen Knoten (Satzbeginn, Nebensatzbeginn, Attribut o.ä.)!'

In dem Beispielsatz: "und/ .. oder ich sagte (k) da meinte er" ist nach dieser Regel zu streichen: "oder ich sagte" und stattdessen einzusetzen: "da meinte er". Die Konjunktion 'und' markiert hier den syntaktischen Knoten.

Es gibt aber eine ganze Reihe von Korrekturen, die nicht eindeutig aufzulösen sind, die ambig bleiben. Diese Eigenschaft teilen 'korrigierte' Sätze aber mit vielen anderen Textstellen aus Transkriptionen der gesprochenen Sprache.

In unserer Transkriptionspassage: "erörtern sie bei uns in einer (k) zu dritt" ist die Korrektur ambig. Es kann nach unseren Regeln nicht eindeutig entschieden werden, ob nur: "in einer" oder: "bei uns in einer" gelöscht werden soll. Nach der ersten Lesart würden die Fälle "bei uns" (in der Institution) "zu dritt" erörtert, nach der zweiten Lesart würden die Fälle "zu dritt" erörtert. Wir nehmen an, daß aufgrund der Anforderungen an Orientierungen die Angabe der Institution ("bei uns") eine notwendige Information bildet, die nicht gelöscht werden soll.

Demnach lautet der korrigierte Satz:

"und sie bringen ihre Fälle/ erörtern sie bei uns zu dritt/ " Danach beginnt ein neuer Satz.

Der Satzbau in dieser korrigierten Passage ist aber nicht eindeutig. Wenn wir eine grammatische Analyse vornehmen, so können wir ein Satzgefüge annehmen, allerdings fehlt das Subjekt des zweiten Satzes und eine Verknüpfung zwischen den beiden Sätzen durch eine Konjunktion. Die Konjunktion könnte entfallen, wenn es sich an dieser Stelle um eine Aufzählung gleichartiger Satzglieder handelte und der zweite Satz nicht der Schlußsatz dieser Aufzählung wäre. Dies ist aber nicht der Fall: Herr Gallas zählt keine weiteren Aktivitäten mehr auf. Wir müssen demnach die Passage durch eine Konjunktion ergänzen, und zwar setzen wir die Konjunktion `und' ein. Das Subjekt zu 'erörtern' könnte (im zweiten Satzteil) entfallen, wenn es mit dem Subjekt im ersten Satz identisch wäre.

Das Subjekt des ersten Satzes kennen wir, es handelt sich um die Supervisanden S. Lühr und H. Wöhler. Das "erörtern" erfolgt aber "zu dritt", so daß diese beiden Supervisanden als Subjekt ausgeschlossen werden können. Wir müssen demnach den zweiten Satz durch ein Pronomen ergänzen. Dies kann entweder die erste ('wir') oder die dritte Person Plural ('sie') sein, wenn wir die Konjugation des Prädikats berücksichtigen.

Wir fassen die Ergebnisse der Untersuchung in einer kohärenten Paraphrase zusammen, wobei wir die Wahl des Pronomens offen lassen:

"Und sie bringen ihre Fälle und wir bzw. sie erörtern sie bei uns zu dritt/ ich weiß nicht/ ob man da schon von (lachend gesprochen) Gruppensupervision sprechen kann/ wir machen es jedenfalls zu dritt ."
 
In der Paraphrase sind die Pronomen und Bestimmungen unterstrichen, die uns unklar erscheinen. Es handelt sich um die folgenden Ausdrücke:

- wir bzw. sie

- bei uns

- zu dritt

- da

- wir

- es

- zu dritt.

Wir wollen nun versuchen, die möglichen Interpretationen dieser Ausdrücke aufzuführen.

Die semantische Interpretation des grammatischen Subjekts von 'erörtern' führt zu folgenden Lesarten:

- S. Lühr, H. Wöhler und eine weitere Person ('sie')

- S. Lühr, H. Wöhler und Herr Gallas ('wir'1)

- S. Lühr, Herr Gallas und eine weitere Person ('wir'2)

- H. Wöhler, Herr Gallas und eine weitere Person ('wir'3)

Von der Entscheidung für eine dieser Interpretationen hängt auch die Entschlüsselung der drei Personen ab, die durch den ersten Ausdruck 'zu dritt' bezeichnet werden.

Spätestens an dieser Stelle wird eine Unklarheit in der Äußerung von Herrn Gallas unübersehbar: Lediglich bei der zweiten Entschlüsselung ('wir'1) kennen wir alle genannten Personen.

Bei allen anderen Lesarten müssen wir davon ausgehen, daß noch eine weitere Person, die von Herrn Gallas nicht benannt wird, in der Supervision, von der er spricht, anwesend ist. Wer ist diese vierte Person? Welche Funktion hat sie in der Gruppe? Wenn wir von den üblichen Verhältnissen in den Supervisions- und Balintgruppen ausgehen, dann kann diese Person eigentlich nur ein weiterer Supervisand oder aber ein Ko-Supervisor sein. Die vierte Person scheint aber zumindest kein 'normaler' Supervisand zu sein, weil Herr Gallas nur davon spricht, daß Sibylle Lühr und Heinz Wöhler Fälle einbringen, die vierte Person aber erst beim Erörtern der Fälle in Erscheinung tritt. Andererseits gehört das Erörtern der Fälle nicht zu den eigentlichen Aufgaben eines Ko-Supervisors. Die Rolle der vierten Person läßt sich demnach nicht eindeutig festlegen, wir müssen sie an dieser Stelle offen lassen.

Wichtig ist die Bestimmung der Rolle der vierten Person aber, weil sie Auswirkungen auf das 'Setting' der Supervisionsgruppe von Herrn Gallas hat. Folgende Vermutungen lassen sich aus unseren bisherigen Überlegungen über die Zusammensetzung und die Rollenverteilung in der Gruppe ableiten:

1. Herr Gallas leitet die Supervision von 2 Supervisanden.

2. Herr Gallas leitet die Supervision von drei Supervisanden.

3. Herr Gallas und ein Ko-Supervisor leiten die Supervision von zwei Supervisanden.

Je nachdem, welches `Setting' wir unterstellen, liest sich die Frage von Herrn Gallas in dem folgenden Satz unterschiedlich:

Kann man schon bei zwei Studenten und einem Supervisor von einer Gruppensupervision sprechen? Kann man bei drei Studenten und einem Leiter von einer Gruppensupervision sprechen? Oder kann man bei zwei Studenten und zwei Leitern von einer Gruppensupervision sprechen?

Wir sind bei unserer Interpretation also davon ausgegangen, daß sich der Ausdruck 'da' auf die Zusammensetzung und Rollenverteilung in der Gruppe, auf das 'Setting' bezieht.

Den Ausdruck 'bei uns' hatten wir aufgrund des Kontextwissens mit 'in unserer Institution, der Bewährungshilfe' oder kurz 'in der Bewährungshilfe' übersetzt. Die Interpretation 'bei mir und einer weiteren Person X' kann für den korrigierten Text ausgeschlossen werden, weil in diesem Fall das Subjekt des zweiten Satzes im Plural stehen müßte, weil mehr als 'drei' Personen an der Erörterung der Fälle beteiligt wären. Es sind aber nur drei Personen an der Erörterung beteiligt. Wir kommen auf diese Lesart aber in einem anderen Zusammenhang noch einmal zurück. Das Subjekt des letzten Satzes 'wir' läßt sich bei einer formalen Analyse nicht eindeutig bestimmen. Sicher ist nur, daß es sich hier um Herrn Gallas und zwei weitere Personen handelt. Die Bestimmung dieser Personen und damit auch die Entschlüsselung des Ausdrucks 'zu dritt' - hängt von den Hypothesen ab, die wir über den Referenzraum des Pronomens 'es' haben: Falls beispielsweise das Subjekt des zweiten Satzes als 'wir1' interpretiert wird, sind die Referenten dieses Pronomens und des Pronomens 'wir' im letzten Satz identisch. Die Tätigkeit, auf die mit dem Pronomen 'es' Bezug genommen wird, wäre in diesem Fall das 'Erörtern von Fällen'.

In allen anderen Fällen bezieht sich Herr Gallas vermutlich auf die im vorangehenden Satz angesprochene 'Tätigkeit', von der er nicht genau weiß, ob man sie als 'Gruppensupervision' bezeichnen kann. Man kann unter diesen Umständen das Pronomen 'es' durch 'das Supervisieren' ersetzen - wobei aber offen bleibt, welche Tätigkeiten hierunter im einzelnen verstanden werden.

Es ist nicht ganz klar, warum Herr Gallas hier nicht das Pronomen 'sie' verwendet. In diesem Fall wäre der anaphorische Bezug zu 'Gruppensupervision' eindeutig. Die Tatsache, daß Herr Gallas durch seine Formulierung den Zuhörern einen Interpretationsspielraum darüber offen läßt, was nun 'zu dritt' 'gemacht' wird, mag immerhin als Indiz dafür gewertet werden, daß er eine eindeutige Aussage über das 'Setting', die Aufgabenverteilung in seiner Gruppe, vermeidet. Diese Interpretation deckt sich mit den Ergebnissen der Erzählanalyse: Hiernach waren die Äußerungen von Herrn Gallas über das Setting weniger als 'Orientierung' denn als 'Problemankündigung' für die Erzählung aufzufassen.

Wir brechen die 'Entschlüsselung' der Pronomen und vagen Ausdrücke an dieser Stelle ab, weil sich mithilfe 'kleinräumiger' sprachwissenschaftlicher Verfahren kaum mehr eine genauere Klärung der Lesarten erreichen läßt. Die Unklarheiten im Satzbau und die Vagheiten der Ausdrücke konzentrieren sich in der analysierten Passage, so läßt sich zusammenfassen, auf die folgenden Momente:

- Die Anzahl der beteiligten Personen ist nicht deutlich.

- Ihre Rollen in der Gruppensupervision lassen sich nicht eindeutig ablesen.

Nach unseren Erfahrungen in der Entschlüsselung von Pronomen und vagen Ausdrücken ist eine derartige Häufung von Unklarheiten und ihre Konzentration auf wenige miteinander zusammenhängende Aspekte auffällig.

Die Rekonstruktion von Bedeutungszuschreibungen durch Einsetzübungen, Paraphrasieren, Reduktion der Lesarten und ihre Überprüfungsmöglichkeiten

Im folgenden Schritt unserer Analyse bilden wir Hypothesen über die Bedeutungszuschreibungen, die die Zuhörer, also die Teilnehmer der Balintgruppe und der Gruppenleiter, zu der Äußerung von Herrn Gallas vornehmen. Das Ziel ist eine verständliche Paraphrase des Textausschnitts. Bei der Rekonstruktion wenden wir die Ergebnisse der vorangegangenen Auswertungsphase, vor allem die Entschlüsselung der vagen Ausdrücke und Pronomen, systematisch an und berücksichtigen darüberhinaus ein wichtiges Verfahren der Verständigungssicherung, die 'Einsetzübungen'.

Aufgrund der aufgewiesenen Ambiguitäten des Textes ist von vornherein mit mehreren Paraphrasen, sogenannten 'Paraphrasenalternativen' zu rechnen. Wir möchten an dieser Stelle betonen, daß die zu bildenden Paraphrasen den Status von Hypothesen über das Verstehen der Zuhörer haben. Deren Verstehen besitzt aber selbst wiederum hypothetischen Charakter: Sicheres 'Wissen' darüber, was Herr Gallas mit seiner Äußerung ausdrücken wollte, ist auch den Gruppenmitgliedern zu jenem Zeitpunkt verwehrt. Insofern unterscheidet sich der Status unserer Rekonstruktionen kaum von demjenigen der Annahmen der authentischen Zuhörer. Allerdings hat die Gruppe im Verlauf der Bearbeitungsphase die Möglichkeit, ihre Hypothesen auszusprechen und mit dem Erzähler in eine Aushandlung der Bedeutung seiner Äußerung einzutreten. Wir müssen den Fortgang des Gesprächs 'passiv' abwarten, um zu sehen, welche Entschlüsselung und Paraphrase an Wahrscheinlichkeit gewinnt und welche ausgeschlossen werden kann.

Außerdem ist es uns natürlich nicht möglich, alle Lesarten, die ein Gruppenteilnehmer bei der Rezeption der Erzählung bildet, zu erfassen. Wir können uns bei der Rekonstruktion nur auf einen idealtypischen Standpunkt eines Gruppenmitglieds (bzw. eines Erzählers) stellen und eine Perspektive einnehmen, die die Äußerung vor dem Hintergrund der anstehenden institutionellen Ablauferwartungen (bzw. vor dem Hintergrund der Normalformerwartung des Erzählens) sieht. Die Paraphrasen, die wir bilden, kommen also unter der Voraussetzung eines derartigen idealen Standpunktes und einer idealen Perspektive zustande. Wir haben diese Voraussetzungen eingangs durch die Darlegung der institutionellen Normalformerwartungen über den Ablauf der Interaktion und des Erzählens in der gebotenen Kürze bezeichnet. Berücksichtigt man diese Erwartungen, so scheiden von vornherein Paraphrasen aus, die in anderen Kommunikationssituationen vielleicht möglich gewesen wären. Man kann anmerken, daß sich auch hinsichtlich dieser Unterstellungen über die Standpunkte und Perspektiven die Lage des wissenschaftlichen Auswerters, der mit dem historischen Gruppenprozeß vertraut ist, nicht prinzipiell von derjenigen der Gruppenteilnehmer unterscheidet. Auch diese müssen wechselseitig Annahmen über die Standpunkte und Perspektiven machen, die sie bei der Produktion und Rezeption von Äußerungen einnehmen. Nur in den seltensten Fällen dürften diese Annahmen mehr sein als - vorläufige - Unterstellungen.

Einsetzübungen

Ein unmittelbares Verständnis der Äußerung von Herrn Gallas scheint kaum möglich. Zuviele Ausdrücke sind vage, und die fehlenden Informationen lassen sich durch praktisches Schließen und logische Deduktionen nicht ohne weiteres ermitteln. Nimmt man die Hypothesen zuhilfe, die wir im vorigen Kapitel unter Rückgriff auf institutionelle Normalformerwartungen über die Bedeutungen der Ausdrücke 'bei uns', 'da' und 'es' gebildet haben, so bleiben immer noch eine Reihe von Lesarten bestehen: Wir wissen nicht, wieviele Personen an der Supervision von Herrn Gallas beteiligt sind, welche Funktion ggf. möglicherweise die 'weitere Person' besitzt und welche 'Dreiergruppe' jeweils beim 'Erörtern der Fälle' und beim 'Supervisieren' beteiligt ist.

Unsere Annahme ist nun, daß unter diesen Bedingungen die Zuhörer zunächst versuchen werden, durch 'Einsetzübungen' ein Verständnis der Äußerung des Erzählers zu erlangen: Sie 'setzen' probeweise die wahrscheinliche Anzahl von Gruppenteilnehmern - also entweder drei oder vier Personen - in den Text 'ein' und überlegen, ebenfalls unter Zuhilfenahme von 'Setzungen', welche Personen Herr Gallas in den beiden fraglichen Sätzen: 'sie bzw. wir erörtern sie bei uns zu dritt' und 'wir machen es jedenfalls zu dritt' gemeint haben könnte.

Ein solches Verfahren erspart unter Umständen weitere Nachfragen und sichert dem Zuhörer unter Vorbehalt der Richtigkeit seiner 'Setzung' ein fortlaufendes Verständnis der Redebeiträge.

Paraphrasenbildung

Nehmen wir zunächst an, daß nur drei Personen in der Supervision anwesend sind, so können wir unter Benutzung der Entschlüsselungen von 'bei uns', 'da' und 'es' folgende Paraphrase bilden:

1. "Das war also nur eine Sache, die ich bisher noch nie erlebt hatte. Das war letzte Woche. Ich muß dazu sagen: zwei Studenten kommen zu mir, ihrem Supervisor, zur Supervision: Sibylle Lühr und Heinz Wöhler. Sie sind Ihnen vielleicht bekannt. Sie sind im vierten Semester, wenn ich mich nicht irre. Sie bringen ihre Fälle ein und wir, Sibylle, Heinz und ich, erörtern sie in der Bewährungshilfe zu dritt. Ich weiß nicht, ob man bei dieser Gruppenzusammensetzung mit nur zwei Supervisanden schon von einer Gruppensupervision sprechen kann.Wir machen das Supervisieren jedenfalls zu dritt."
 
Bei dieser Lesart haben wir zwar einen kohärenten Text vorliegen, wir berücksichtigen aber nicht die 'auffällige' Betonung des ' zu dritt'. Merkwürdig ist die Supervisionskonzeption von Herrn Gallas: Es scheint, als ob das 'Erörtern der Fälle' und das 'Supervisieren' identisch ist. Normalerweise betrachtet man auch das Einbringen der Fälle als Teil der Supervision. Dabei ist der Leiter, Herr Gallas, aber ausgeschlossen und diese Tätigkeit wird somit nicht 'zu dritt' ausgeführt. Insofern verwischt die Betonung des gemeinsamen Tuns im letzten Satz die Besonderheit der Rolle des Leiters. Außerdem hat der Leiter einer Supervisionsgruppe natürlich auch noch spezielle Aufgaben, die er nicht mit den Teilnehmern gemeinsam ausführt. Man weiß unter diesen Umständen nicht genau, um was sich bei der gemeinsam ausgeführten Tätigkeit handelt, und es wird zweifelhaft, ob die Entschlüsselung von 'es' im Sinne von 'das Supervisieren' tatsächlich richtig ist. Eigentlich kann nur eine andere Beschäftigung,aber gerade nicht das 'Supervisieren' von allen drei Rollen, Falleinbringer, zwei Supervisanden und Gruppenleiter gemeinsam ausgeführt werden. Entschließt man sich zu einer Problematisierung des Pronomens 'es', wird auch die Entschlüsselung von 'da' wieder fragwürdig. Ist es tatsächlich die Zusammensetzung und Rollenverteilung in der Gruppe, die Herrn Gallas problematisch ist oder sind hiermit Beziehungen angesprochen, die mit der Rollenverteilung in einem normalen Supervisionssetting nichts zu tun haben? Bei diesen Unklarheiten müßte man als Zuhörer zunächst noch etwas über diese besonderen Beziehungen erfahren, bevor man die Äußerung von Herrn Gallas verstehen kann.

In ähnliche Verstehensschwierigkeiten kommt der Zuhörer auch, wenn er von der Anwesenheit von vier Personen in der Supervision von Herrn Gallas ausgeht. Wir haben neun Lesarten seiner Äußerung gefunden, wenn wir die Rolle dieser vierten 'weiteren Person' außer acht lassen und die Personalpronomen 'ersetzen': Das Subjekt zu 'erörtern' kann entweder als 'sie' oder 'wir1', 'wir2' oder 'wir3' interpretiert werden. Wir kürzen unsere Analyse an dieser Stelle ab und stellen lediglich drei Paraphrasen aus dieser Reihe zusammen, an denen die Probleme, die bei diesen Interpretationen auftauchen, ausreichend abgelesen werden können.

Da der erste Teil der Äußerung von Herrn Gallas unproblematisch ist und bei allen Paraphrasen übernommen wird, werden wir ihn hier nicht noch einmal wiederholen. Die folgenden Paraphrasen gehen alle von der aufgeführten Entschlüsselung von 'bei uns', 'da' und 'es' aus.

2. Paraphrase

"Sie bringen ihre Fälle und Sibylle, Heinz und eine weitere Person erörtern sie bei uns in der Bewährungshilfe zu dritt. Ich weiß nicht, ob man bei diesem Setting schon von einer Gruppensupervision sprechen kann. Wir, Sibylle, die weitere Person und ich machen das Supervisieren jedenfalls zu dritt."

Als Subjekt eingesetzt wurden 'sie' und 'wir2'.

3. Paraphrase

"Sie bringen ihre Fälle und Sibylle, eine weitere Person und ich erörtern sie bei uns in der Bewährungshilfe zu dritt. Ich weiß nicht, ob man bei diesem Setting schon von einer Gruppensupervision sprechen kann. Wir, Sibylle, die weitere Person und ich machen das Supervisieren jedenfalls zu dritt."

Als Subjekt eingesetzt wurde beide Male 'wir2'.

4. Paraphrase

"Sie bringen ihre Fälle und Sibylle, die weitere Person und ich erörtern sie bei uns in der Bewährungshilfe zu dritt. Ich weiß nicht, ob man bei diesem Setting schon von einer Gruppensupervision sprechen kann. Wir, Sibylle, Heinz und ich machen das Supervisieren jedenfalls zu dritt."

Als Subjekt wurden eingesetzt 'wir2' und 'wir1'.

Alle diese Versuche und auch die hier nicht aufgeführten weiteren Paraphrasen führen nicht zu einem besseren Verständnis der Äußerung von Herrn Gallas. Es sind mißlungene Versuche der Bedeutungszuschreibung und Verständigungssicherung. In gewisser Hinsicht scheinen sie die Unklarheiten über das, was Herr Gallas gemeint haben könnte, eher noch zu vergrößern: Ein normales Gruppenmitglied wird nicht verstehen, warum bei jeder Tätigkeit, die Herr Gallas erwähnt, eine Person ausgeschlossen wird. In der Paraphrase 2 ist der Leiter und die 'weitere Person' vom Einbringen der Fälle ausgeschlossen. Hinsichtlich des Leiters ist das keine Besonderheit, hinsichtlich der 'weiteren Person' wäre es keine Besonderheit, wenn es sich um einen Ko-Supervisor handelte. Das scheint aber nicht der Fall zu sein, weil dann nicht einzusehen wäre, warum der Ko-Supervisor, der ja mehr Aufgaben als ein Supervisor hat, beim Erörtern der Fälle beteiligt ist, der Supervisor, Herr Gallas, aber nicht. Beim 'Erörtern der Fälle' bleibt Heinz ebenso ausgeschlossen wie beim 'Supervisieren'.

In der Paraphrase 3 ist die 'weitere Person' wiederum gemeinsam mit dem Leiter vom Falleinbringen ausgeschlossen. Heinz Wöhler darf sich weder beim 'Erörtern' noch beim 'Supervisieren' beteiligen. Er ist also ausschließlich ein Lieferant von Fallmaterial. Die Funktionen zwischen dem 2.Supervisanden (Sibylle), der weiteren Person und dem Leiter, scheinen sich bei dieser Lesart überhaupt nicht voneinander zu unterscheiden. Dieses Setting ähnelt eher dem einer Gerichtsverhandlung über Heinz Wöhler denn einer Supervision. Im Verständnis von Herrn Gallas scheint es außerdem kaum Unterschiede zwischen dem Erörtern von Fällen und dem Supervisieren zu geben.

In der 4. Paraphrase werden die Fälle ebenfalls von Sibylle und Heinz eingebracht, von der Erörterung ist Heinz zwar diesmal ausgeschlossen, aber am Supervisieren beteiligt er sich; hiervon wird die 'weitere Person' ausgeschlossen. Das ist aber offenbar widersprüchlich, denn sie wurde beim Erörtern der Fälle ja beteiligt. Schließt demnach die Supervision das Erörtern der Fälle nicht ein? Welche Funktion kann die weitere Person haben, die eigentlich nicht am Supervisieren beteiligt ist, auch keine Fälle einbringt, aber mitreden darf, wenn ein Supervisand, vielleicht der Falleinbringer, schweigen muß?

Auch bei den anderen Paraphrasen,die wir durch 'Einsetzen' der Personen erhalten und die hier nicht mehr aufgeführt sind, wird immer und bei jeder der Tätigkeiten eine Person ausgeschlossen. Unter den Voraussetzungen des üblichen Settings von Supervisionen ist diese Ausgrenzung von einzelnen Teilnehmern in den nicht diskutierten Fällen in gleicher oder in ähnlicher Weise unverständlich, wie in den eben besprochenen Paraphrasen. Selbst wenn man zusätzliche Annahmen darüber macht, welche Funktionen die 'weitere Person' im Rahmen der Supervision haben könnte, wird der Beginn der Erzählung von Herrn Gallas für die Zuhörer nicht klarer: Ist sie ein 'normaler Supervisand', so besteht von vornherein kein Grund, sie von der Falleinbringung zu befreien. Ist sie ein Ko-Supervisor, so ist nicht einsichtig, daß er eine Supervision 'zu zweit' macht (vgl. etwa die 2. Paraphrase). Andere Beteiligungsformen, die die meisten Lesarten nahelegen, sind aber im Setting von Supervisions- und Balintgruppen nicht vorgesehen.

Diskussion der Paraphrasenalternativen

Faßt man die Ergebnisse unserer Paraphrasierungsversuche zusammen, so fällt auf, daß bei allen 'Einsetzungen' für die vagen Pronomen die Unklarheiten nicht ausgeräumt werden können, sondern sich nur verschieben. Vermutlich werden die Zuhörer von Herrn Gallas das von uns geschilderte alltagsweltliche Verfahren der Verständnissicherung durch 'Einsetzübungen' sehr bald abgebrochen haben. Dieses Verfahren, das in der Alltagskommunikation oft zur Lösung von derartigen Verständigungsproblemen ausreicht, greift in diesem Fall nicht.

Diese Tatsache hat auch für eine anschließende 'Befragung' von Herrn Gallas durch die Gruppenteilnehmer Konsequenzen. Durch die Einsetzübungen nehmen die Zuhörer nämlich mögliche Antworten auf ihre imaginären Fragen nach zusätzlichen Informationen vorweg. Implizit sind wir demnach bei unseren Interpretationen so vorgegangen, als hätten wir Herrn Gallas (schon) nach der vierten Person und der Bedeutung der Pronomen gefragt und darauf auch Antworten bekommen. Nun stellt sich heraus, daß selbst wenn wir diese Auskünfte erhalten haben, die Äußerung nicht gut zu verstehen ist. Man weiß nun zwar, wieviele Personen anwesend sind und wer bei den einzelnen Aktivitäten ausgeschlossen wird, aber dafür stellen sich für den Zuhörer nun ganz andere Fragen. Vor allem werden die Voraussetzungen, die wir bezüglich der Bedeutung der Pronomen 'da' und `es' gemacht haben, wieder fraglich: Warum habe die Supervisanden von Herrn Gallas nicht wie in jeder normalen Supervision gleiche Rechte und Pflichten? Was ist das für eine Tätigkeit, der Herr Gallas 'zu dritt' nachgeht? Handelt es sich hier tatsächlich um das 'Supervisieren' und was verbirgt sich dahinter? Kurz, welches 'Setting' herrscht in der Gruppe, von der erzählt wird?

Die Zuhörer von Herrn Gallas befinden sich, wenn sie diese Überlegungen vollzogen haben, in einer irritierenden Situation: Je mehr Informationen sie über die beteiligten Personen erhalten haben, umso unklarer wird das Setting und damit das Geschehen und die Beziehungen in der Gruppe von Herrn Gallas. Geht man einmal davon aus, daß die Zuhörer ein Setting, wie es in der Balintgruppe durchgesetzt wird, für 'normal' halten, so werden sie die im vorigen Kapitel geäußerten Vermutungen über das Setting in der Gruppe von Herrn Gallas als wenig professionell einstufen: In seiner Gruppe sind die Supervisanden nicht wie die Mitglieder der Balintgruppe 'gleichberechtigt'; der Leiter der Balintgruppe geht auch nicht einer besonderen Beschäftigung mit einzelnen Teilnehmern nach, wie dies in der Gruppe des Erzählers wahrscheinlich der Fall ist.

Die drei von uns eingangs aufgeführten Vermutungen über die Zusammensetzung und die Rollenverteilung in der Gruppe von Herrn Gallas dürften nach diesen Überlegungen auch von den Teilnehmern der Balintgruppe verworfen werden. Sie werden nach den 'Einsetzübungen' eher geneigt sein, die 'Frage' von Herrn Gallas: 'Ich weiß nicht, ob man da schon von Gruppensupervision sprechen kann?' ernst zu nehmen, auch wenn sie 'lachend' ausgesprochen wurde. Es ist durchaus glaubwürdig, daß Herrn Gallas das Setting und seine eigene Funktion in der Gruppe unklar ist.

Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß eine einigermaßen befriedigende Lesart der Äußerung von Herrn Gallas an dieser Stelle nicht möglich ist. Wir gehen deshalb von der Hypothese aus, daß die Gruppenteilnehmer die Äußerung nicht 'verstehen' und über die zahlreichen Verständnisprobleme, die sie enthält, irritiert sind.

In dieser Situation könnte eine weitere Lesart der Äußerung von Herrn Gallas auftauchen, auf die wir noch kurz eingehen wollen.

Lesarten des 'unkorrigierten' Textes

Es gehört nun zu den spezifischen institutionellen Besonderheiten von Balintgruppen, daß Unklarheiten, Korrekturen und Abweichungen von den normalen Erwartungen mit besonderer Aufmerksamkeit und unter einer speziellen Perspektive betrachtet werden. Die psychoanalytisch geschulten Gruppenleiter und - nach einer gewissen Erfahrung - auch die Gruppenmitglieder versuchen, derartige 'Abweichungen' auf unbewußte Vorgänge im Sprecher zurückzuführen und sie sich dadurch - auf einer anderen Ebene -verständlich, erklärbar zu machen. Wenn wir diese Aufmerksamkeitsrichtung in Rechnung stellen, dann erhält die Korrektur in unserem Textausschnitt eine neue Bedeutung: Korrekturen fallen den Gruppenmitgliedern häufig auf und regen sie an, den ursprünglich geplanten, dann aber abgebrochenen oder 'verschwiegenen' Satz zu erschließen. Man verfährt dabei so, daß man Hypothesen über diese ursprünglich intendierte Textfassung des Sprechers bildet, diese mit dem tatsächlich abgelieferten Text vergleicht und dann Mutmaßungen über den Sinn der 'Verbesserung' anstellt.

Wollen wir diese 'normale' Perspektive eines Mitglieds einer Balintgruppe berücksichtigen, so ergeben sich zwei weitere Lesarten. Wir gehen von der Hypothese aus, daß die Erörterung der Fälle 'in einer Gruppensupervision' stattfindet. Durch die Korrektur wird also 'Gruppensupervision' durch 'zu dritt' ersetzt. Die Begründung für diese Korrektur wird nachgeliefert: Herr Gallas weiß nicht, ob man bei einer Supervision 'zu dritt' von einer Gruppensupervision sprechen kann. Der Sinn der Korrektur (der Ersetzung) wäre demnach, nicht von vornherein zu behaupten, daß es sich bei der Veranstaltung von Herrn Gallas um eine Gruppensupervision handelt.

Nicht ganz klar ist auch, warum der Austausch von 'Gruppensupervision' gegen 'zu dritt' gleichzeitig mit einem Wechsel im Modalitätsschema verbunden ist. Während die Orientierung in die Erzählung bis dahin und ganz im Einklang mit den Normalformerwartungen in den Gruppen 'ernsthaft' vorgetragen wird, beginnt der Erzähler an dieser Stelle 'lachend' zu sprechen. Es fällt ihm vielleicht schwer, seine Supervision 'ernsthaft' als 'Gruppensupervision' zu bezeichnen. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, daß er im vorigen Satz zögerte, von einer Gruppensupervision zu sprechen und stattdessen von einer 'Erörterung' zu dritt' redet.

Folgende Lesarten der betreffenden Textpassage lassen sich bei Nichtberücksichtigung der Korrektur finden:

l0. 'Und sie bringen ihre Fälle, und wir erörtern sie bei uns in der Bewährungshilfe in einer Gruppensupervision.'

11. 'Und sie bringen ihre Fälle, und sie erörtern sie bei uns in der Bewährungshilfe in einer Gruppensupervision.'

Bei beiden Lesarten wird eine vierte Person in der Supervision nicht erwartet. Die Paraphrasen unterscheiden sich in der Funktionszuschreibung, die der Gruppenleiter erfährt.

Vergleicht man diese Lesarten mit dem 'korrigierten' Text, so fällt auf, daß sie unproblematisch sind. Mit anderen Worten: Hätte der Erzähler seinen Redebeitrag nicht korrigiert und diese Korrektur durch den Nachsatz: "Ich weiß nicht, ob man da schon von Gruppensupervision sprechen kann", begründet, wäre uns und - so nehmen wir an - auch den Mitgliedern der Balintgruppe an dieser Äußerung nichts Besonderes aufgefallen. Erst durch seine Korrektur macht uns Herr Gallas auf eine Unklarheit aufmerksam und fokussiert damit auch die Aufmerksamkeit und die Erwartungen, die die Gruppenmitglieder an den Fortgang der Erzählung haben werden.

Überprüfung der Hypothesen über die kleinräumigen Erwartungen

Im nächsten Schritt unseres Auswertungsverfahrens überprüfen wir unsere Hypothesen über das Verständnis, das die Gruppenteilnehmer von dem Abschnitt der Erzählung haben anhand der Reaktionen der Betroffenen im unmittelbaren Fortgang des Gesprächs. Diese Überprüfung kann hier nur exemplarisch geschehen und konzentriert sich auf die wichtigsten Annahmen. Wir hatten bei der Wiedergabe des Transkriptionsausschnitts die Zeilen 17 bis 21 ausgelassen. Sie enthalten einen kurzen Dialog zwischen dem Leiter der Balintgruppe und Herrn Gallas, der jetzt nachgeliefert werden soll:

Gallas:

16 und äh nachdem wir (-)

Leiter:

17 Der Dritte ist dann (')

Gallas:

18 Der bin ich (,)

Leiter:

19 Ach so (,)

Gallas:

20 Ja

Leiter

21 Ja (,)

Herr Gallas wollte eigentlich im Anschluß an seine von uns ausführlich paraphrasierte Äußerung (Z 8-16) mit der Schilderung seines Falles beginnen. Er wird aber von dem Gruppenleiter mitten im Satz unterbrochen, was ein außerordentlich ungewöhnlicher Vorgang in dieser Gruppe ist. Normalerweise wartet der Leiter seinen 'turn', eine Stelle möglicher Redeübergabe, ab. An dieser Stelle scheint ihm eine Nachfrage demnach besonders dringlich zu sein. Sie macht den Beteiligten deutlich, daß ihm die Anzahl der beteiligten Personen unklar ist. Sein Verständnis der Äußerung von Herrn Gallas wird also vermutlich nicht durch die Paraphrase 1, die von drei Anwesenden ausgeht, abgedeckt. Unterstellen wir, daß der Leiter etwa im Sinne einer der anderen von uns aufgeführten Paraphrasen 'versteht', so wird ihn die Antwort von Herrn Gallas nicht befriedigen. Fraglich ist ihm dann nicht die Beteiligung von Herrn Gallas an der Supervision, sondern die Existenz einer weiteren, vierten Person. Es überrascht daher nicht, daß der Leiter kurze Zeit später erneut nach den beteiligten Personen fragt. Herr Gallas antwortet in Zeile 59: "Wir waren zu viert/ fällt mir ein/ es waren drei Studenten da".

Auch die unklare Funktion dieser vierten Person wird von Herrn Gallas nach Zwischenfragen des Leiters präzisiert:

Sie ist keine Supervisandin, sondern sie hat "die Rolle des Co-Supervisors mit übernommen/ was auch so von Anfang an akzeptiert wurde (').. während die beiden anderen in ihrer alten Rolle als Supervisanden blieben/ zwar immer wieder auch Versuche unternehmen/ aber durch das Hinzukommen der vierten (k) der dritten Studentin (.) ist da (.) ein Ungleichgewicht entstanden/ .. das ist natürlich eine Angelegenheit die hier auch noch ne Rolle spielt (,)"

Mit der letzten Bemerkung gibt Herr Gallas noch einmal deutlich zu erkennen, daß er die Beziehungsstruktur in seiner Gruppe tatsächlich als problematisch empfindet.

Ein weiteres Gruppenmitglied, Herr Groß, greift in seinem ersten Redebeitrag ebenfalls die unklare Personenkonstellation auf und spricht dabei seine 'Irritation' über die Erzählung von Herrn Gallas direkt an:

'Mich irritiert/ daß sie .. äh .. mal von zwei/ mal von drei/ dann von vier gesprochen haben (').. das hat mich irritiert'

Auch andere Teilnehmer der Balintgruppe äußern sich im weiteren Verlauf der Sitzung über ihre Verständnisschwierigkeiten und über ihre Hilflosigkeit gegenüber der Erzählung, die beide kaum geringer werden, nachdem Herr Gallas die Anzahl der beteiligten Personen geklärt hat. Wir kommen auf diesen Aspekt noch zurück und schließen diesen Auswertungsschritt mit einem Ausschnitt aus einer Bemerkung eines weiteren Teilnehmers ab, der die Stimmung der Gruppe gut umreißt:

"als die Frage kam/ was ist denn das Problem (der Erzählung) .. da dachte ich dann mhm/ was gibts hier eigentlich noch zu suchen (') es ist doch alles klar ... und da wußte ich nicht mhm/ was ich im Augenblick tun kann/ also was ich gefragt bin .. und das kam mir vor wie eine Parallele zu der Situation dort (in der Gruppe von Herrn Gallas)"

Ableitung von weiträumigen Erwartungen

In diesem Abschnitt setzen wir die Normalformanalyse ein, um im Anschluß an Auffälligkeiten,die wir bei der Analyse der Äußerung von Herrn Gallas bemerkt haben, Prognosen über den Ablauf der Balintgruppensitzung zu bilden. Es geht in diesem Auswertungsschritt nicht um die Bildung von Hypothesen über unmittelbare Reaktionen der Hörer, sondern wir wollen weiträumig wirksame konditionelle Relevanzen, die den Ablauf der gesamten Sitzung beeinflussen, ermitteln. Diese Art von Voraussagen ist nur aufgrund der Kenntnis von Normalformerwartungen möglich, die eine derart langfristig wirksame 'Relevanz' besitzen.Wir werden zunächst einige Prognosen entwickeln und diese in einem anschließenden Abschnitt mit dem tatsächlichen Ablauf der Gruppensitzung konfrontieren.

Der von uns analysierte Transkriptionsausschnitt ist der Anfang einer Falldarstellung, die zu Beginn der Falleinbringungsphase vorgetragen wird. In dieser Phase bilden sich Gruppenmitglieder und der Leiter Hypothesen über die Probleme, über die der Erzähler berichten will. Wir gehen nun davon aus, daß Auffälligkeiten und (gemessen an der Normalform) unerfüllte Erwartungen für die Gruppenmitglieder und für den Leiter orientierungsrelevant sind. Wir wollen unter diesem Gesichtspunkt noch einmal die Ergebnisse der verschiedenen Analyseverfahren zusammenfassen:

Bei der Untersuchung des Transkriptionsausschnitts im Hinblick auf die institutionellen Normalformerwartungen ergab sich, daß der Gegenstand der Erzählung und die Selbsttypisierung des Erzählers vom üblichen Setting abweicht. Herr Gallas berichtet nicht über eine Lehrsupervision und stellt sich auch nicht als Lehrsupervisor dar. Aufgrund der Erzählanalyse konnte festgestellt werden, daß

- die Orientierung hinsichtlich der beteiligten Personen und
- ihrer Funktionen unklar ist.
- Eine Verdeutlichung des Problems der Erzählung findet erst nachträglich, nach einer Korrektur statt und wird nicht deutlich als 'thematisches Problem' gekennzeichnet.

Berücksichtigt man nur diese Analyseebenen, so sind unter dem Gesichtspunkt der Reziprozitätsherstellung für den Fortgang der Gruppenarbeit drei Schwierigkeiten zu erwarten: Aufgrund der fehlenden expliziten Themenankündigung ist nicht sicher, welches Problem Herr Gallas bearbeiten will. Zweitens dürfte die Bearbeitung des Falls, insbesondere die Verallgemeinerung der von Herrn Gallas geschilderten Problematik schwierig werden, weil er nicht aus dem üblichen professionellen Bereich, den er mit den anderen Gruppenmitgliedern teilt, berichtet, sondern über einen vergleichsweise 'privaten' Gegenstandsbereich erzählt.

Schließlich ist aufgrund der Normalformerwartungen, die die Zuhörer eines Erzählers haben, mit Verständigungskrisen zwischen den Gruppenmitgliedern und Herrn Gallas zu rechnen: Eine Voraussetzung für ein ausreichendes Verstehen und vor allem für ein Miterleben der Schilderung des Erzählers ist normalerweise eine genügend klare Orientierung über die Ausgangslage des Geschehens, also z.B. die beteiligten Personen und ihre Beziehung. Diese Voraussetzungen müssen - wie wir schon ansatzweise aufgezeigt haben - erst nachgeliefert werden, ehe an eine einfühlende Bearbeitung der anderen Komponenten des 'Falls' durch die Gruppenteilnehmer zu denken ist.

Bei der kleinräumigen konversationsanalytischen Auswertung fiel uns auf, daß die Anzahl und die Funktion der Personen, die an den einzelnen Aktivitäten beteiligt sind, nicht deutlich erkennbar sind. Als gemeinsamer Nenner für diese Auffälligkeiten haben wir Unklarheiten über das 'Setting' angenommen. Das Setting legt normalerweise den Gegenstand der Supervisionsarbeit, die Anzahl der Teilnehmer und ihre Rollen fest. Alle diese Faktoren sind uns bei unserer Analyse als widersprüchlich und unklar aufgefallen. Berücksichtigt man außerdem die vagen Problemverdeutlichungen von Herrn Gallas (vor allem: "ich weiß nicht, ob man da schon von Gruppensupervision sprechen kann?"), so ist anzunehmen, daß das Setting bei einer Supervision 'zu dritt' oder 'zu viert' ein Thema der Gruppenarbeit sein wird, ganz gleich, welche anderen Erlebnisse Herr Gallas im Verlauf seiner Erzählung der Gruppe noch mitteilen wird.

Bei der anschließenden Rekonstruktion möglicher Bedeutungszuschreibungen der Teilnehmer der Balintgruppe mit Hilfe der 'Einsetzübungen' tauchte ein weiteres Problem auf: Die Äußerung ist nicht nur wegen der fehlenden Informationen zum Setting schwer verständlich, lückenhaft und ambig. Derartige Ambiguitäten und Lücken kommen in der alltäglichen Kommunikation sehr häufig vor, und sie werden durch 'Einsetzungen unter Vorbehalt' relativ problemlos bewältigt. Der Zuhörer bildet mögliche Paraphrasen und benutzt die wahrscheinlichste, um dem Gespräch zu folgen und gegebenenfalls Nachfragen zu stellen. Wendet der Zuhörer dieses Verfahren aber auf die vorliegende Äußerung an, so kommt er in die paradoxe Situation, daß durch die Hinzuziehung tatsächlicher oder unterstellter Information die Bedeutung der Äußerung nicht klarer, sondern nur unklarer wird. 'Selbstverständlichkeiten', wie diejenige, daß Herr Gallas hier von dem 'Setting' seiner Gruppensupervision spricht, um den Zuhörern eine Orientierung über den Schauplatz der Erzählung zu geben, werden problematisch. Es tauchen Fragen auf wie: 'Warum muß Herr Gallas immer eine Person ausschließen?', die sich nicht mehr auf das von Herrn Gallas angekündigte Thema, eben seine 'Gruppensupervision' beziehen, sondern die eher an die Person von Herrn Gallas selbst zu stellen sind.

Am Ende unserer Analyse scheint es durchaus möglich, daß die Pronomen 'da' und 'es' gar nicht auf Beziehungen oder Tätigkeiten referieren, die normalerweise im Rahmen des Settings von Supervisions- und Balintgruppen festgelegt werden. Wir sind unsicher, ob Herr Gallas tatsächlich dem üblichen Sprachgebrauch folgt, wenn er von 'Gruppensupervision' spricht oder ob er etwas anderes, was mit diesem Ausdruck normalerweise nicht bezeichnet wird, meint.

Wir nehmen nun an, daß das von uns beschriebene Versagen der alltagsweltlichen Mechanismen der Verständigungssicherung und das Prekär-Werden von Standardbedeutungen generell 'irritierend' ist und die Kommunikationspartner unter normalen Bedingungen verunsichert. Bei dieser Form von Verständigungsproblemen scheinen die alltäglichen Heilungsverfahren wie etwa 'Nachfragen' oder 'Einsetzübungen' zu versagen. Es wird deshalb vermutlich nicht ganz einfach sein, die Verständnisprobleme zwischen den Gruppenteilnehmern und dem Erzähler auszuräumen.

Wir kennen allerdings noch ein weiteres Verfahren der Verständigungssicherung, das gerade in derart komplizierten Kommunikationssituationen angewendet wird und das möglicherweise auch eine Lösung für die Probleme der Reziprozitätsherstellung in dieser Gruppensitzung herbeiführen kann.

Es handelt sich hierbei um das Substitutionsverfahren, auf das wir nun in einem Exkurs hinweisen wollen.

Exkurs zum Substitutionsverfahren

Ohne es mit diesem Begriff zu bezeichnen, wird das Substitutionsverfahren seit S. Freud von Psychoanalytikern in ihrer Arbeit verwendet. Ob es sich bei ihm um ein Verfahren handelt, das auch in der alltäglichen Kommunikation zur Verfügung steht und angewendet werden kann, oder ob es sich um ein Verfahren handelt, das eine spezifisch psychoanalytische Kompetenz voraussetzt, ist unklar. Sicher ist jedoch, daß ausgebildete Psychoanalytiker dieses Verfahren außerordentlich häufig und präzise einsetzen, um Verständigungskrisen in Therapie- und Arbeitsgruppen zu bewältigen. Im Unterschied zu den einfachen Einsetzübungen werden bei dem Substitutionsverfahren erstens die Situationsdefinitionen verändert und zweitens Bedeutungszuschreibungen, die man im Alltag normalerweise zu Äußerungen vornimmt (d.i. 'Standardbedeutungen'), außer Kraft gesetzt.

Man geht, vereinfacht ausgedrückt, davon aus, daß das, was der Gesprächspartner 'sagt', nicht unbedingt das ist, was er auf dem Herzen hat und daß die Situationsdefinition, die er anbietet, nicht unbedingt diejenige ist, die er tatsächlich vornimmt. Man'substituiert' deshalb bestimmte Ausdrücke in der fraglichen Äußerung mit dem Ziel, Unklarheiten, vor allem Paradoxien und Ambiguitäten aufzulösen und einen kohärenten Text zu erhalten. Substitutionen werden nicht willkürlich vorgenommen, sondern sind der Aufgabe untergeordnet, mit sparsamsten Mitteln unverständlichen Äußerungen einen neuen und kohärenten Sinn zu verleihen. Wenn einem beispielsweise das Verhalten eines Gesprächspartners in einer wissenschaftlichen Diskussion zunehmend unverständlich wird, dann kann man probeweise davon ausgehen, daß jene Person die Veranstaltung vielleicht gar nicht, wie man selbst, als Diskussion sondern als Gerichtsverhandlung erlebt. In diesem Fall verwandeln sich die mehr oder weniger gleichberechtigten Diskussionspartner in Richter und Angeklagte, das Ergebnis in ein Urteil mit strafenden Konsequenzen. Unter diesen Voraussetzungen mögen die Reaktionen des Gegenübers ggf. besser verständlich werden. Argumente werden zu Verurteilungen, Einsicht zu Schuld etc.

Im Falle der Erzählung von Herrn Gallas liegt die Sache so: Solange wir annehmen, daß der Erzähler uns eine 'Orientierung' über ein Erlebnis aus seiner beruflichen Praxis geben und er deshalb in der fraglichen Äußerung allgemein das 'Setting' seiner Supervisionsgruppe darstellt, bleibt uns seine Äußerung unklar - selbst wenn fehlende Informationen nachgeliefert werden. Aufgrund der Einsetzübungen sind wir zu der Ansicht gekommen, daß es keineswegs sicher ist, daß durch das Pronomen 'da' auf das 'Setting' und durch das Pronomen 'es' auf 'supervisieren' verwiesen wird. Außerdem wurde deutlich, daß das beständige Ausgrenzen einer Person nicht eine Problematik des Supervisionssettings im allgemeinen, sondern eher eine Besonderheit der Veranstaltung von Herrn Gallas ist. Wenn man nun annimmt, daß das Problem von Herrn Gallas, über das er in der Gruppe berichtet, nicht zuerst in seiner Profession als Lehrsupervisor und den sich daraus ergebenden Sozialbeziehungen, sondern in seinen ganz privaten Beziehungen zu den Personen liegt, dann ergeben sich eine Reihe von neuen Entschlüsselungen und Lesarten. Bei allen diesen Lesarten müssen wir die von Herrn Gallas angebotene Situationsdefinition als 'Berufssituation' und seine Selbsttypisierung als Supervisor suspendieren, eine andere Situationsdefinition, etwa die einer 'Familie' einsetzen, und uns Gedanken über die Rolle von Herrn Gallas in dieser Situation machen.

Aber diese Gedanken sollen hier nicht weiter verfolgt werden, weil sie auf eine völlig andere Ebene der Interpretation führen. Paraphrasen, die durch Substitutionsverfahren gewonnen wurden, lassen sich nur selten mit den herkömmlichen konversationsanalytischen und kommunikationswissenschaftlichen Verfahren überprüfen, weil die 'substituierten' Bedeutungen nur in Ausnahmefällen, etwa in therapeutischen Zusammenhängen direkt ausgesprochen werden. Wir können deshalb hinsichtlich der Auswirkungen von möglicherweise angewendeten Substitutions-verfahren auf den Fortgang der Balintgruppensitzung auch nur eine sehr allgemeine Vermutung wagen: Falls der psychoanalytisch ausgebildete Leiter der Balintgruppe die Verständigungsprobleme tatsächlich mit Hilfe des Substitutionsverfahrens zu lösen versucht, dürfte sich eine Kommunikation zwischen ihm und Herrn Gallas einspielen, an der sich die anderen Gruppenmitglieder nicht gleichwertig beteiligen können.

In jedem Fall wird der Leiter einen außergewöhnlich großen Anteil an der Lösung der Verständigungsprobleme und damit an der Gestaltung der fraglichen Sitzung haben.

Überprüfung der Prognosen: Darstellung des Fortgangs der Sitzung

Wir können unsere Prognosen über den weiteren Ablauf der Sitzung der Balintgruppe hier nicht im einzelnen überprüfen und beschränken uns deshalb auf eine Zusammenfassung des Fortgangs der Sitzung, aus der sich vielleicht die Stichhaltigkeit zumindest einiger Annahmen ablesen läßt.

Im Anschluß an seine Orientierung schildert Herr Gallas die Ereignisse seiner Supervisionsstunde: H. Wöhler erzählte von einer erfolgreichen Unterredung mit Klienten und wollte dafür - nach Ansicht von Herrn Gallas - gelobt werden. Da das Ziel der Supervisionsarbeit die Behandlung von problematischen Begebenheiten ist, konnte die Gruppe mit diesem Fallangebot nichts anfangen und wurde rasch hilflos. Sie 'zerpflückte' die Erzählung, wodurch eine schwere Interaktionskrise ausgelöst wurde, in deren Folge H. Wöhler die Sitzung verließ. Die Gruppe hatte sich tatsächlich auf drei Personen reduziert.

Der erste Bearbeitungsschritt der Erzählung in der Balintgruppe ist, wie schon erwähnt, die Klärung der beteiligten Personen und ihrer Rollen. Es handelt sich bei der 'vergessenen' vierten Person um eine Studentin, die von Herrn Gallas in die Supervision im nachhinein mit aufgenommen wurde, ohne daß er Vorstellungen über ihre mögliche Beteiligungsform besaß. Die Unklarheiten über die Rechte und Pflichten dieser und schließlich ihrer eigenen Person verunsicherten die Supervisanden so stark, daß eine befriedigende Arbeit kaum mehr möglich war.

Diese Hilflosigkeit der Supervisionsgruppe reproduziert sich zeitweise in der Balintgruppe, nicht zuletzt deshalb, weil Herr Gallas ähnlich wie H. Wöhler kein Problem formulieren kann, über das sich die Gruppe mit ihm verständigen könnte.Die Teilnehmer der Balintgruppe unternehmen immer wieder Anläufe, einen 'Fall' aus der Erzählung herauszukristallisieren, aber Herr Gallas ist nicht in der Lage, diese Fragestellungen aufzugreifen. Er kann weder sagen, welche Relevanz dieser Fall für ihn hat, warum er ihn eingebracht hat, was an dem Ereignis für ihn eigentlich so problematisch ist, noch ist er in der Lage darzustellen, was er damals erlebt hat. Es kommt zu Vorwürfen an Herrn Gallas; ein Gruppenmitglied unterstellt ihm, 'er wolle hier Tricks lernen, um mit seinen Gefühlen fertig zu werden'. Die Gruppe gerät in eine Krise. Sie kann den Fall (die 'Erzählung') nicht bearbeiten. Erst die Selbstreflexion dieser Gruppenkrise und der Versuch, eine Verbindung zwischen dieser Krise und dem Problem des Falls herzustellen, wozu der Leiter die Gruppe anregt, ermöglicht es Herrn Gallas schließlich, sein Gefühl der Hilflosigkeit in der damaligen Interaktionssituation zu thematisieren. Die Unklarheiten über das Setting und seine unzureichende Identifizierung mit der Leiterrolle werden als mögliche Ursachen für seine Hilflosigkeit ins Gespräch gebracht. Die Balintgruppe diskutiert dann anhand dieses Falles, wie ein Leiter mit Gefühlen der Hilflosigkeit während der Arbeit umgehen kann. Die Vor- und Nachteile der individuellen Lösungsstrategien werden abgewägt. Der Leiter schließt dieses Thema ab und fordert den Erzähler explizit auf, die 'Vorgeschichte' seiner Erzählung nachzuliefern:

"ja ich finde das sehr schön auf was wir da gekommen sind/ ich hab nur das Gefühl/ daß wir jetzt eigentlich eine Frage haben liegen lassen/ nämlich wie sind wir eigentlich zu der Hilflosigkeit gekommen(') oder (.) wie ist Herr Gallas in seiner Gruppensituation eigentlich dazu gekommen (') nicht (') wir haben von der Vorgeschichte nur gehört/ daß der [Supervisand] schon mal ne Schwierigkeit hatte..."

Der Erzähler liefert daraufhin die Vorgeschichte der geschilderten Supervisionsstunde nach. In dieser 'neuen Erzählung' ist das berufliche Setting tatsächlich die zentrale Thematik.

Der Leiter der Balintgruppe greift in der Sitzung mehrfach ein, um Herrn Gallas von Vorwürfen und Fragen der Teilnehmer, die er nicht beantworten kann, zu schützen. Er verhindert dadurch eine Ausgrenzung von Herrn Gallas und damit eine Wiederholung der Ereignisse der Studentensupervision in der Balintgruppe. Herr Gallas nimmt diesen Schutz bereitwillig an und signalisiert, daß er sich vom Gruppenleiter verstanden fühlt.

Am Ende der Sitzung wird auf dem Hintergrund der Vorgeschichte, nämlich der Setting- änderung in der Gruppe, das Verhalten des Studenten, der gelobt werden wollte, als Folge der durch diese Änderung in der Gruppe entstandenen Unsicherheiten über die Aufgaben der einzelnen Gruppenmitglieder und als Folge der Unsicherheit über den Gegenstand und damit über den Sinn der Supervision interpretiert. Der Leiter faßt zum Schluß die Ergebnisse der Gruppenarbeit zusammen. Er verbindet dabei die Schwierigkeiten, die die Gruppe bei der Bearbeitung der Erzählung hatte, mit dem Problem des Falls:

"aber ich glaube wir haben etwas anderes noch erfahren/ daß die Hilflosigkeit (.) mit der wir vorhin (.) uns so (.) rumplagen mußten/ doch durch diese (.) starke Spannung in der Gruppe (.) mitbedingt ist nicht (') diese starke Spannung nicht wahr (') der ungeklärten Beziehungen ...

[Gallas: ja]

(nicht (') einmal zu dem Arbeitsfeld außerhalb/ was irgendwie ja immer noch da mit hineinspielt/ aber noch mehr sicher durch die Situation mit der mit der vierten ja (')/ die wir auch anfangs gar nicht geboten bekommen haben .. nicht (')/ da ist ja vielleicht auch noch ganz interessant (,)

[Gallas: ja]

nicht (') wie problematisch die irgendwie in dieser Gruppe sein muß .. [Gallas: mhm]

daß (.) nur aufkam hier irgendwie so n Gefühl/ das mit den/ wir drei ist irgendwas merkwürdig/ darauf sagt er/ ja richtig/ da ist ja noch ne vierte (,)

[Gallas: Ja]

(lacht) nicht (') so ist das doch gelaufen (') ich mein da ist doch ne Spannung in dieser (...)/ diese ungeklärte Situation (-)

[Gallas: ja]

mit mit mit dieser (.) neu Hingezugekommenen/ und in dieser Spannung die so unausgesprochen noch ist/ irgendwie unausgesprochen noch ist (.) und noch ansteht zur Besprechung nicht wahr(') da ist natürlich so ein Hilflosigkeitslevel schon einfach vorhanden gewesen

[Gallas: mhm]

nicht (') so daß man sich (.) mit einer gut gekonnten(.) spannungsreichen (.) Geschichte* über diesen Level hat hinweghelfen können und sich freute und sagte: wir mögen uns und so/ aber in dem Moment wo dieser emotionale Anspruch kam** (.) da hat diese diese Spannung doch einen gehindert darauf einzugehen (,)

[Gallas: mhm]

nicht (') da war diese diese diese ungeklärte Situation doch noch so ein ein ein Hemmnis irgendwie ein (k) wo wo man aufpassen mußte/ wie gehts eigentlich zu .. nicht (') daß man nicht sofort hat reagieren können und einfach sagen/ ja schön und dann als nächstes erst das das aufrollt nicht (') das war ja doch die (-)

[Gallas: &ja]

Situation/ ich glaube doch daß wir das irgendwie da erfahren konnten (,)" (Zeile 1396-1428).

Die Normalformanalyse als Normalformtest und als Eintrittskarte für den interprofessionellen Diskurs

Die von uns eingangs in aller Kürze geschilderten Normalformerwartungen über den Ablauf der Balintgruppensitzungen dieses Typs und über das Erzählen haben den Status von Hypothesen, die in Fallstudien gewonnen wurden und die sich bei der Auswertung des Datenmaterials bewährt haben.

Uns ging es bei der Formulierung unserer Prognosen nicht nur darum, eine Voraussage über den Ablauf dieser einzelnen Sitzung zu geben. Mehr noch interessierte uns die Frage, ob sich die von uns postulierten Normalformerwartungen auch in dieser Sitzung nachweisen lassen und ob sie uns einen Zugang zum Verständnis der besonderen Probleme dieser Sitzung bieten können. Der Prüfstein hierfür war, ob bei Anlegen dieser Erwartungen (Regeln) schon zu einem relativ frühen Stadium der Sitzung gültige Prognosen über die Probleme der Reziprozitätsherstellung im weiteren Verlauf der Sitzung gemacht werden können. Dies war, wie sich zeigte, möglich.

Eine ganz andere Form der Überprüfung unseres Modells der Normalformerwartungen ergibt sich aus der Zusammenarbeit mit Teilnehmern und vor allem mit den Leitern von Balintgruppen. Wir gehen von der Annahme aus, daß das Normalformwissen, mit dem wir in dieser Untersuchung gearbeitet haben, ein Teil der Kompetenz der Gruppenleiter ist und deren Fähigkeit mitbegründet, Schwierigkeiten der Gruppenarbeit vorausschauend zu überwinden. Wie dieses Wissen bei den Gruppenleitern repräsentiert ist, können wir nicht sagen. Uns ist auch nicht klar, ob man das von uns dargestellte Rekonstruktionsverfahren als eine ausführliche Ausbuchstabierung von kognitiven Prozessen verstehen kann, die auch bei den betroffenen Leitern verkürzt und mehr oder weniger bewußt ablaufen oder ob bei ihnen ganz andere 'gefühlsmäßige' Reaktionen ablaufen, die durch unsere rationalen Rekonstruktionen schon vom Ansatz her nicht zu erfassen sind. Wir nehmen aber aufgrund unserer Erfahrungen mit der Ausbildung von Supervisoren in Kassel und aufgrund unserer Auswertungsgespräche mit Leitern von Balintgruppe, daß die Normalformerwartungen einen Teil des Relevanzsystems ausmachen, mit dem erfahrene Gruppenleiter das Geschehen in den Sitzungen betrachten und bewerten. Der Prüfstein hierfür war nicht zuletzt, daß sie diese Erwartungen - nachdem die terminologischen Schwierigkeiten überwunden sind - plausibel fanden und mit ihnen 'arbeiten' konnten.

In Bezug auf den Gegenstand dieses Aufsatzes würden wir fragen, ob wir Phänomene erfaßt haben, die auch aus der Sicht des Psychoanalytikers und Gruppenleiters 'auffällig', handlungsleitend und orientierungsrelevant sind. Möglicherweise decken sich einzelne unserer kommunikationswissenschaftlichen Beobachtungen mit solchen, die der Psychoanalytiker aufgrund seines Relevanzsystems auch fokussiert hat. In diesem Fall könnte ein Prozeß der wechselseitigen Reinterpretation dieser Beobachtungen stattfinden, der sicherlich kaum Einfluß auf das Handeln des Psychoanalytikers als Gruppenleiter haben wird, der aber vielleicht zu einem anderen Verständnis der Logik dieses Handels beitragen kann. Eine derartige Verständigung zwischen den Disziplinen ist das besondere Anliegen einer kommunikationswissenschaftlichen Berufsfeldanalyse. Voraussetzung für eine Wirkung des Gesprächs ist, daß die kommunikationswissenschaftliche Untersuchung der interaktionellen Vorgänge zunächst mit Begriffen erfolgt, die unabhängig von der Sprache des Psychoanalytikers sind. Ist eine solche Unabhängigkeit nicht gewährleistet, führen die betreffenden sozial- oder sprachwissenschaftlichen Untersuchungen leicht zu oberflächlichen Paraphrasen von Erkenntnissen, die der Psychoanalytiker ungleich leichter gewonnen hat. Die Paraphrasen selbst bringen ihm kaum einen Erkenntnisvorteil. Mit der Darstellung der Relevanzsysteme, aufgrund derer die Interaktionspartner die Erzählung verstehen und die Reziprozität untereinander herstellen und mit der Erläuterung der 'Arbeitsweise' dieser Systeme, haben wir einen 'unabhängigen' Weg gewählt. Er hat den Nachteil, daß er für den Psychologen nicht ohne weiteres verständlich ist.

Die von uns ermittelten Abweichungen von den Normalformerwartungen sind in dem Kasseler Projekt zum Gegenstand gemeinschaftlicher Auswertung mit dem Gruppenleiter und anderen geworden, die nicht nach dem kommunikationswissenschaftlichen sondern nach dem psychoanalytischen Relevanzsystem arbeiten. Wir waren gespannt, ob wir bei unserer Analyse Phänomene erfaßt hatten, die auch aus der Sicht der Psychoanalytiker handlungsleitend und orientierungsrelevant sind. Es hat sich schnell gezeigt, daß dies der Fall ist. Der Gruppenleiter konnte sich noch mehr als 3 Jahre, nachdem die untersuchte Kontrollsupervision stattgefunden hatte, bestens an seine Irritation zu Beginn der Falleinbringung von Herrn Garbe erinnern. Und es zeigte sich auch, daß sich unsere Auswertungsergebnisse mit den Ergebnissen der Analyse des unbewußten Gruppenprozesses verbinden ließen, die von einer ganz unabhängig von uns arbeitenden psychoanalytisch ausgebildeten Auswerterin vorgenommen wurde. Auf die Möglichkeiten dieser wechselseitigen Reinterpretation von Auswertungsergebnissen, die mit ganz unterschiedlichen Verfahren erzielt wurden, wird im nächsten Abschnitt ausführlich und eigens eingegangen. Sie brauchen deshalb an diesem Beispiel nicht weiter ausgeführt zu werden.

Auf die Deutung der von uns untersuchten Sitzung im Lichte der Psychoanalyse kommen wir später, bei der Darstellung der 'Thementwicklung im historischen Gruppenprozeß' (vgl. Abschnitt 4.4) noch einmal zurück. Der interessierte Leser mag die dort dokumentierte psychoanlytische Interpretation mit den hier von uns vorgetragenen Überlegungen vergleichen.