„Will man die Normalformrekonstruktion als
eine wissenschaftliche Methode kurz charakterisieren, so ist sie am ehesten
als ‘funktionalstrukturelle Methode’ zu bezeichnen. „Der
Gewinn, den die funktionale Analyse einbringt, besteht... nicht in der
Gewißheit der Verknüpfung spezifischer Ursachen mit spezifischen
Wirkungen, sondern in der Fixierung eines abstrakten Bezugsgesichtspunktes,
nämlich des ‘Problems’, von dem aus verschiedene Möglichkeiten
des Handelns, äußerlich ganz unterschiedlich anmutende soziale
Tatbestände als funktional äquivalent behandelt werden können.
Die Rationalisierung der Problemstellung durch abstrahierende Konstruktionen
von Vergleichsmöglichkeiten ist der eigentliche Sinn der funktionalen
Methode.“(1)
Das ‘Problem’, oder wie Alfred Schütz
sagen würde, das ‘Relevanzprinzip’, unter dem die Daten
verglichen werden, ist die kooperative Informationsverarbeitung, Vernetzung
der Kommunikatoren und die Widerspiegelung zwischen den Medien. Sie nimmt
[zweitens] ihren Ausgangspunkt von ‘prototypischen’ Phänomenen.
‘Prototypisch’ sind solche Phänomene, die aus der alltagsweltlichen
Perspektive (der Beteiligten) als ‘normal’ und ‘erfolgreich’,
nicht aber als ‘krisenhaft’ oder ‘problematisch’
bewertet werden. Diese ‘unauffällige’ Normalität
wird durch die spezifische kommunikationswissenschaftliche Perspektive
(‘Fragestellung’) des außenstehenden Betrachters in
mehreren, methodisch kontrollierten Analyseschritten in Frage gestellt.
Das ‘normale’, alltägliche Erfahrbare wird, um es in
der Sprache von N. Luhmann auszudrücken, ‘ins Unwahrscheinliche
aufgelöst’, als komplex gesetzt, um ‘dann begreiflich
zu machen, daß es trotzdem mit hinreichender Regelmäßigkeit
zustandekommt’.(2)
Diese Forschungsperspektive deckt sich mit kybernetischen
und ökologischen Konzepten: Es geht um eine Modellierung sozialer
Phänomene als selbstregulierende Systeme, die es ermöglicht,
Defekte (Krisen) als Gleichgewichtsstörungen zu identifizieren und
Normalisierungsprozesse zu beschreiben bzw. zu prognostizieren.(3)
Voraussetzung für eine Identifizierung von Krisen
oder Gleichgewichtsstörungen ist die Kenntnis der normalen Systemstrukturen,
der Homöostase. Ökologisch ist das Normalformkonzept auch insoweit,
als die ‘lebenswichtige’ Umwelt der sozialen Systeme –
durch Interferenztheorien und in der Differenzierungsdimension –
mitmodelliert wird.
Luhmann stellt dieser Forschungsperspektive einen anderen Theorietyp entgegen,
der „eine Ordnung als gegeben voraussetzt und deren Defekte problematisiert“.(4)
Letzterem Theorietyp entsprechen etwa sprach- und
kommunikationswissenschaftliche Arbeiten, die ‘sprachliches Handeln’
oder ‘Kommunikation’ als Lösung alltäglicher Probleme
auffassen, konversationsanalytische Arbeiten, die wesentlich an ‘Auffälligkeiten’
des Gesprächsablaufs, z.B. ‘Verständigungskrisen’,
die von den Beteiligten thematisiert werden, interessiert sind und jene
soziolinguistischen Arbeiten, die sich mit ‘abweichenden’
sprachlichen Verhalten, ‘Sprachbarrieren’, ‘Kompetenzdefiziten’
und ähnlichem beschäftigen.
Alle diese Arbeiten müssen einen Normalitätsbegriff voraussetzen.
Unbefriedigend finde ich, daß dieser meist unexpliziert und kaum
überprüfbar bleibt: entweder, weil er mit der Intuitution des
Forschers, z.B. als ‘native speaker’ oder mit den alltäglichen
mehr oder weniger manifesten Normalitätsvorstellungen der Untersuchungsobjekte
in eins gesetzt wird. Die alltäglichen Normalitätsvorstellungen
– ganz gleich, ob es sich um diejenigen von Untersuchungspersonen
oder um diejenigen des Forschers als ‘Alltagsmenschen’ handelt
– sind überkomplex. Sie sind deshalb keine Erklärung,
sondern müssen selbst als Datum behandelt werden.
Die Überkomplexität ist ein Merkmal aller alltäglichen
Konstruktionen der Wirklichkeit, auch der alltäglichen Normalitätsvorstellungen.
Wenn man die Unterschiede zwischen den hier vertretenen kommunikationswissenschaftlichen
Modellen und Methoden einerseits und vielen ethnomethodologischen, wissenssoziologischen,
hermeneutischen und ähnlichen interpretativen Konzeptionen andererseits
auf eine allgemeine Formel bringen will, so kann man sagen: In den Arbeiten
des letzteren Typs wird das Problem der Komplexität unterschätzt.
Aus dieser Unterschätzung lassen sich letztlich alle Eigentümlichkeiten
jener Ansätze ableiten, die in dieser Arbeit kritisiert werden. Die
– häufig sozialromantisch verklärte – Verwischung
der Unterschiede zwischen Alltag und Wissenschaft, die Reduktion von Methodologie
auf handwerkliche Erfahrung, der naive Glaube, die Übernahme aller
möglichen alltäglichen Standpunkte und Perspektiven durch den
Forscher könne zu wissenschaftlicher Erkenntnis führen, die
Unterschätzung der theoretischen Voraussetzungen des eigenen Handelns
und Erlebens und schließlich die systematische Ausschaltung von
intersubjektiver Kontrolle durch die Ablehnung allgemeiner Vergleichsmaßstäbe.
Nimmt man das Problem der Komplexität ernst und behandelt die sozialen
Phänomene als überkomplex, so kann es im Forschungsprozeß
nur darum gehen, diese Komplexität kontrolliert zu reduzieren. Dabei
muß man in Kauf nehmen, daß jedes Modell eine ‘Reduktion’
ist. Auch jedes beliebige Normalformmodell ist in diesem Sinne selektiv.
Mit ihm werden „nur Möglichkeiten, nicht auch Notwendigkeiten“
abgebildet.(5) Normalformmodelle
beanspruchen nur eine mögliche, aber eine systematische Modellierung
der Phänomene zu sein. Sie ermöglichen Vergleiche zwischen den
Modellen verschiedener Phänomene und zwischen Modellen verschiedener
Forscher von dem gleichen Phänomen.
Überkomplexität impliziert auch Multidimensionalität: Soziale
Phänomene haben nicht nur unendlich viele Elemente, sie haben auch
unendlich viele Dimensionen. Will man möglichst viele Dimensionen
und damit möglicht viel Komplexität der realen Phänomene
in seinen wissenschaftlichen Konstruktionen erhalten, so empfiehlt es
sich, mehrdimensionale Modelle zu bilden. Die Modellvorstellungen von
den sozialen Phänomenen, die im Rahmen der Normalformrekonstruktion
verwendet werden, sind mehrdimensional. [Vergleiche ‘Triadisches
Denken’]
Aus den bisherigen Schilderungen ist sicherlich
schon deutlich geworden, daß ich die Normalformanalyse im Unterschied
zu den meisten mikroanalytischen konversationsanalytischen und interpretativen
Ansätzen als ein ‘kodierendes’ Verfahren verstehe. Im
Zuge der Normalformanalyse werden vorab entwickelte und überprüfte
Modellvorstellungen, eben die Normalformmodelle, als Relevanzsystem verwendet:
Soziale Ereignisse, etwa Äußerungen, die in den Transkriptionen
dokumentiert sind, werden den Modellstrukturen zugeschrieben. Nur wenn
sich Daten (z.B. Transkriptionen) auf diese Weise kodieren lassen, sind
sie in einem kommunikationswissenschaftlichen Sinne ‘verstanden’.
Bei der Normalformanalyse und -rekonstruktion läßt es sich
prinzipiell nicht vermeiden, daß der Forscher den Standpunkt des
neutralen, kodierenden Betrachters verläßt und aufgrund seines
ganz persönlichen Erfahrungsschatzes Bedeutungszuschreibungen vornimmt.
Die Auswirkungen der Abweichungen von der Kodierungsperspektive können
kontrolliert werden, wenn man den Forschungsprozeß als eine bestimmte
Art eines sozialen Systems betrachtet. Die Theorie sozialer Systeme läßt
sich dann selbstreferentiell auch auf die Analysetätigkeit anwenden.
Dabei werden zunächst die Grenzen der Methode deutlich. Der Forscher
ist immer zugleich Element des von ihm untersuchten Systems, und er kann,
insoweit er Element ist, niemals die Systemstruktur insgesamt überblicken,
geschweige denn kontrollieren. Ihm bleibt nur die Möglichkeit, diesen
selbstreferentiellen Charakter zu berücksichtigen, die Strukturen
des Forschungsprozesses und insbesondere seine Rolle in diesem Prozeß
im nachhinein noch einmal zu reflektieren.(6)
Für diese Reflexion ist eine spezielle Auswertungsphase
sowohl im Rahmen der Normalformrekonstruktion wie auch in der Normalformanalyse
vorgesehen.
Im Gegensatz zu einfachen normativen (kodierenden) Forschungsprogrammen
wird in dem hier vorgetragenen kommunikationswissenschaftlichen Konzept
von vornherein von den ‘Grenzen der Methode’ ausgegangen.
Störungen werden im empirischen Forschungsprozeß als Daten
behandelt, die in einer besonderen selbstreferentiellen Dimension zu prozessieren
sind.
Schon diese kurze Skizze der Normalformanalyse und -rekonstruktion macht
ihren aufwendigen Charakter deutlich. Vor allem die Normalformrekonstruktion
läßt sich kaum mehr von einem einzelnen Wissenschaftler allein
durchführen. In der Regel erfordert die Erstellung von Normalformmodellen
ein interdisziplinär zusammengesetztes Forschungsteam. Zusätzlich
ist auch die Zusammenarbeit mit den Professionals der beforschten Institutionen,
z.B. Therapeuten, Ärzten, Lehrern usw. angezeigt.
Auch die Normalformanalyse ist auf eine interprofessionelle und interdisziplinäre
Zusammenarbeit ausgelegt: Ihre Leistung beschränkt sich nicht auf
die Diagnose und Deskription von einzelnen Phänomenen, zusätzlich
liefert sie auch Informationen, die mithilfe von Relevanzsystemen anderer
Disziplinen oder Professionen weiterverarbeitet werden können. Hier
liegt nach meiner Erfahrung ein besonderer Vorzug des Verfahrens und seine
Attraktivität für andere Disziplinen und Praktiker, wie z.B.
Therapeuten, Lehrer und Sozialarbeiter. Vergleicht man andererseits den
Aufwand, der bei der Erstellung von Modellen sozialer Phänomene aus
kommunikationswissenschaftlicher Sicht betrieben wird, mit jenem, der
bei der Erstellung von Modellen natürlicher Phänomene aus der
Sicht naturwissenschaftlicher Disziplinen üblich ist, so mutet er
eher bescheiden an.
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(1) Niklas Luhmann: Funktionale
Methode und Systemtheorie. In: Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd.
1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Opladen (4. Auflage) 1974,
S. 35, vgl. auch ders.: Soziale Aufklärung. In: Ders.: 1974, S. 75.
Ders.: Soziologie als Theorie sozialer Systeme. In: Ders.: 1974, S. 113ff.
Ders.: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. In: Ders.: Soziologische
Aufklärung, Bd. 3, Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen
1981 und Ders.: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie.
In. H. U. Gumbrecht/U. Link-Heer (Hrsg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen
im Diskurs der Literatur- und Sprachgeschichte. Frankfurt/M, 1984, S. 85.
(2) Niklas Luhmann: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. In:
Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Soziales System, Gesellschaft,
Organisation. Opladen 1981, S. 12. Die Aufgabe wissenschaftlicher Analyse
ist, nach dieser Konzeption, die ‘Entdeckung schon gelöster Probleme’:
„Die Welt kann nicht auf den Soziologen warten, sie hat ihre Probleme
schon immer gelöst. Die Frage kann nur sein: wie? Und diese Frage kann
im Hinblick auf andere funktional äquivalente Möglichkeiten ausgearbeitet
werden.“ Ders. Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation
und die Massenmedien. In: Ders. 1981, S. 316.
(3) Vgl. etwa das Credo von Bateson in seiner ‘Ökologie des Geistes’:
„Wenn man irgendetwas im menschlichen Verhalten erklären oder
verstehen will, dann hat man es im Prinzip immer mit totalen Kreisläufen,
vollständigen Kreisläufen zu tun.“ Frankfurt 1983, S. 589.
(4) Ders.: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme, 1981, S. 11,
vgl. auch ‘Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation’. In:
Soziologische Aufklärung. Bd. 3, 1981, S. 25/26. In einer ganz ähnlichen
Weise unterscheidet Bateson zwischen ‘Weisheit’ – als
Produkt einer ökologischen Sichtweise – und ‘Trickwissen’
– als Produkt problemlösender Strategien. Ders. 1983, S. 558.
(5) Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie.
In. H. U. Gumbrecht/U. Link-Heer (Hrsg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen
im Diskurs der Literatur- und Sprachgeschichte. Frankfurt/M, 1984, S. 85.
(6) Zum selbstreferentiellen Aufbau von Theorien und Forschungssystemen
vgl. z.B. Luhmann: Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen,
besonders Gesellschaften. In: Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd.
3, Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen, 1981, S. 200 ff.
Ders.: Ideengeschichte in soziologischer Perspektive. In: J. Matthes (Hrsg.):
Lebenswelt und soziale Probleme (Verhandlungen des 20. deutschen Soziologentages).
Frankfurt am Main/New York, 1981, S. 51. Ders.: Gesellschaftsstruktur und
Semantik. Bd. 2. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft.
Kapitel I und S. 235 ff, Frankfurt/M. 1981 sowie Bateson: Ökologie
des Geistes. Frankfurt/M, 1983, S. 563, 593 f.
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