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Der Forscher in der Rolle des Zuhörers |
Das rekonstruktive Vorgehen der Kommunikativen Sozialforschung
beherzigt den Grundgedanken, daß Selbsterkenntnis - auch soziale Selbsterkenntnis!
- einfacher als Fremdverstehen ist. Man bemüht sich als kommunikativer
Sozialforscher nicht, sich in die Psychodynamik der beforschten Personen
hineinzuversetzen, sondern man buchstabiert seine eigenen Standpunkte und
Perspektiven und sein eigenes Verstehen des beobachteten Verhaltens möglichst
genau aus. Dabei nimmt man natürlich nicht willkürlich alle möglichen
Positionen ein (Wie sollte dies auch möglich sein???). Je genauer man
den Kontext der Äußerungen nämlich kennt, und je offener
man für die Beziehungsdefinitionen (Appelle) in den Äußerungen
ist, umso mehr wird man auf Rollen hingeführt, die zu denen der Sprecher
komplementär sind. Alle Positionen in Gesprächen ergänzen
sich und der Forscher bemüht sich, ebenso wie der Hörer im Alltag
'fehlende' Rollen einzunehmen. In der einfachsten Form tut er dies, indem
er den anderen als Sprecher und für sich selbst die Rolle des Hörers
akzeptiert. Diese Positionszuweisungen zu bemerken, ist der Königsweg der Beschreibung der Standorte und der Perspektiven der untersuchten Personen. Als Angehörige der gleichen Kulturgemeinschaft wissen wir um die jeweils komplementären Positionen, und können sie probeweise einnehmen und so die mutmaßlichen Bedeutungszuschreibungen rekonstruieren. In einfachen Sozialsystemen, in denen die Positionen häufig wechseln, lassen sich die Hypothesen besonders schnell überprüfen. Das Ergebnis der selbstreflexiven Rekonstruktion der Bedeutungszuschreibung sind a) sowohl Erwartungen über die Hörerstandpunkte als auch b) Paraphrasen über die Äußerung. Dabei drücken sich natürlich die Hörerstandpunkte immer auch in den Paraphrasen aus - was im übrigen dazu führt, daß man aus den sozialwissenschaftlichen Analysen auch auf die Positionen der Analysierenden schließen kann. Jede Paraphrase ist eine Selektion aus den in einer Gesellschaft möglichen Bedeutungszuschreibungen zu den Ereignissen in konkreten Kommunikationssystemen. Insofern können alle Paraphrasen der Forscher auch mögliche Bedeutungszuschreibungen der Hörer in der betreffenden Interaktion sein.
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