Theoriediskussion Die phänomenologische Wissenssoziologe und ihre Idealisierungen
   
Die Idee, daß soziale Interaktion durch Programme gesteuert wird, ist nicht neu. Ebensowenig der Versuch, solche Programme ausfindig zu machen. Im Anschluß an Überlegungen von Philosophen der sogenannten phänomenologischen Schule (vor allem Husserl und Heidegger) hat Alfred Schütz in den 30er Jahren ein Modell programmgesteuerter Interaktion entwickelt, auf das dann Soziologen wie Th. Luckmann und später auch Verfechter des Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie zurückgegriffen haben. Schütz, der auch als ein Vater der Wissenssoziologie bezeichnet wird, interessierte sich nicht für die konkreten Programme in speziellen Situationen und er hat selbst nie i. e. S. empirisch gearbeitet. Er suchte vielmehr nach den Programmen, die jeglicher Interaktion von Angesicht zu Angesicht zugrunde liegen - zumindest war er der Auffassung, daß es solche Programme gibt. Er nannte diese Basisprogramme 'Idealisierungen'.
Sein Gedankengang und die wichtigsten Ergebnisse sollen kurz skizziert werden.

In jeder Interaktion, in der wir es ja mit mindestens 2 Beteiligten zu tun haben, sind mindestens 2 Standpunkte und 2 Perspektiven auf die Umwelt miteinander zu vermitteln - bei Gruppen entsprechend mehr-, wenn es tatsächlich zu einem abgestimmten Handeln und zu kommunikativer Verständigung kommen soll. Dabei sind die beiden Standpunkte der Interaktionspartner im Grunde unvereinbar, die eigene Perspektive ist dem jeweiligen Gegenüber notwendig 'uneinsehbar' und umgekehrt. Die Teilnehmer in Supervisionsgruppen beispielsweise kommen zumeist von unterschiedlichen Arbeitsplätzen, besitzen ihre je eigentümliche Biographie, sehen die Probleme, die in der Gruppe bearbeitet werden aus unterschiedlichen Gesichtswinkeln und können zudem selten sicher sein, was das andere Gruppenmitglied gerade für relevant hält.
Auch was den Fortgang der Interaktion angeht, so können beide Beteiligten zwar bestimmte Intentionen verfolgen, was bei ihrem Tun am Ende herauskommt, können sie nicht sicher wissen. Der Fortgang der Interaktion ist für sie uneinsehbar. Schließlich sind auch die Werkzeuge, deren sie sich in der Interaktion bedienen, ausgesprochen vage. Das sprachliche Symbolsystem beispielsweise läßt viele Deutungen zu und man kann nicht sicher sein, welche Deutung vom jeweiligen Gegenüber bevorzugt wird.

Wie ist die Herstellung von Reziprozität demnach möglich? Die Antwort, die A. Schütz auf diese Frage gibt, lautet, daß Verständigung aufgrund wechselseitig vorzunehmender Idealisierungen möglich wird. Im einzelnen werden von ihm und von seinen Nachfolgern 5 Typen von Idealisierungen genannt.
 

1. Das Austauschbarkeitsaxiom ('Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standorte').
Damit sich die Interaktionsbeteiligten in einer praktisch ausreichenden Weise verständigen können, machen sie die folgende Annahme: "Ich setze es als selbstverständlich voraus, daß mein Mitmensch und ich typisch die gleichen Erfahrungen der gemeinsamen Welt machen würden, wenn wir unsere Plätze austauschten, wenn sich also mein 'Hier' in 'Sein Hier' und sein 'Hier', für mich jetzt noch ein 'dort' in mein 'Hier' verwandelte." Und weiter: "Ich nehme an, daß für ihn die entsprechenden Annahmen ebenfalls selbstverständlich sind."
2.

Die Gleichheitsidealisierung ('Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme')
Eine zweite Unterstellung oder 'Idealisierung', wie Husserl diese Prozeduren nannte, lautet: "So lange keine Widersprüche auftreten, ist es mir (und, wie ich annehme auch meinen Mitmenschen) selbstverständlich, daß die Verschiedenheit der Perspektiven, die in unseren je einzigartigen biographischen Situationen ihren Ursprung hat, für die momentanen Absichten eines Jeden von uns irrelevant ist." Als 'fraglos gegeben' nehmen die Individuen, so Schütz, an, daß 'die in ihrer Umwelt vorfindlichen menschlichen Körper mit einem Bewußtsein ausgestattet sind, das dem ihren prinzipiell ähnlich ist': Alle Erfahrung der sozialen Wirklichkeit ist auf das Grundaxiom der Existenz vom anderen Wesen 'gleich mir' fundiert."

Dieses Axiom ist in viele Richtungen hin spezifiziert worden und auf alle Typen der menschlichen Informationsverarbeitung ausgedehnt worden. So schreibt Schütz: "Solange kein Gegenbeweis vorliegt, nehme ich als selbstverständlich hin, daß die verschiedenen Apperzeptions (Wahrnehmungen-), Appräsentations- (Speicherungs-), Verweisungs- und Deutungsschemata, die in meiner Umwelt als typisch relevant gelten und von ihr bestätigt werden, auch für meine einzigartige biographische Stituation und für die meines Mitmenschen in der Welt des Alltags relevant sind. Man geht mit anderen Worten z.B. beim Beschreiben davon aus, daß die Gesprächspartner ihre Umwelt in ähnlicher Weise wahrgenommen haben, ihre Wahrnehmungen ähnlich typisieren und symbolisch darstellen wie man dies selbst auch tun würde.

3. Die Idealisierung einer sequenziellen Verkettung
Bezüglich der dynamischen Dimension der Interaktion nimmt Schütz einen 'Rhythmus sozialen Handelns' an: "Der Gesprächspartner baut seinen Gedanken, den er mir vermitteln will, schrittweise auf, indem er ein Wort ans andere, einen Satz an den anderen und einen Abschnitt an den nächsten reiht. Während er dies tut, begleiten meine Deutungsakte sein kommunikatives Handeln im gleichen Rhythmus. Die Verkettung zwischen den Aktionen der Gesprächspartner wird durch die sogenannten 'Um-Zu' oder 'Weil'-Motive hergestellt. Hörer sind verpflichtet, Wirkabsichten bei einem Sprecher zu unterstellen, Sprecher haben das Recht zu erwarten, daß ihren Äußerungen von den Zuhörern Motive unterstellt werden. "So wird z.B. meine Frage an den anderen in der Absicht gestellt, ihm eine Antwort zu entlocken und seine Antwort wird durch meine Frage motiviert." (Ebd. S. 250) Die 'Um-Zu Motive' des Handelns des einen Gesprächspartners werden zu Weil-Motiven des anderen Partners.
4.

Die Idealisierungen des gemeinsamen Symbolsystems
Eher in der sprachwissenschaftlichen und konversationsanalytischen Literatur als bei Schütz selbst findet sich dann noch eine weitere Idealisierung, die sich auf das sprachliche Symbolsystem bezieht, dessen sich die Gesprächsteilnehmer als Mittler in der Kommunikation bedienen. 'Bis auf weiteres', so läßt sich dieses Axiom formulieren, 'gehen die Beteiligten in der Kommunikation davon aus, daß sie über ein gemeinsames sprachliches Symbolsystem verfügen, den Lauten und Zeichen die gleichen Bedeutungen zuschreiben, wie ihr Gegenüber.'

Man setzt bei jedem Mitglied der Sprachgemeinschaft (Native speaker) zunächst einmal ein ähnliches Wissen über die Standardbedeutungen von sprachlichen Ausdrücken und von morphologischen, syntaktischen und anderen Verknüpfungsregeln voraus. Ist eine sprachliche Äußerung und die Wortwahl organisiert, so treten Verständigungsschwierigkeiten auf, die sich aber durch Nachfragen lösen lassen.

Natürlich ist diese Annahme eines gemeinsamen Symbolsystems eine Idealisierung. Wir wissen, daß die sprachlichen Äußerungen kontextabhängig sind und deshalb von den Beteiligten immer wieder neu interpretiert werden müssen und jeder Blick auf eine Transkription empirischer Kommunikation belegt die Vagheit und vor allem auch das häufige Abweichen von denjenigen Regeln, die wir für 'standardsprachlich' halten. Diese Vagheit muß, wie etwa in den Arbeiten von H. Garfinkel empirisch belegt wurde, in jener Kommunikation immer wieder erneut von den Gesprächsteilnehmern reduziert werden.

5. Das Manifestationsaxiom
Ein letztes grundlegendes Axiom besagt, daß im Alltag die Bedeutungszuschreibungen, die die Interaktionspartner zur Äußerung vornehmen, im Verlauf des Gesprächs manifest werden: "Um mich mit anderen zu verständigen, muß ich offenkundige Handlungen in der Außenwelt vollziehen, die von dem anderen als Zeichen dessen, was ich vermitteln will, interpretiert werden sollen." Diese Manifestationen können entweder in sprachlichen Äußerungen oder in Körperbewegungen, der Mimik oder anderen Medien geschehen.
In sprach-, kommunikations- und sozialwissenschaftlichen Arbeiten wird dieses Axiom häufig implizit oder explizit als Begründung für die Möglichkeit der Beschränkung des Datenmaterials auf Transkriptionen herangezogen. An einigen Stellen seines Werkes verschärft Schütz dieses generelle Manifestationsaxiom noch zu einem unmittelbaren Manifestierungsaxiom, in dem er nämlich darauf hinweist, daß ein wesentlicher Typ der Verkettung sozialen Handelns dadurch gekennzeichnet ist, daß eine 'vollzogene Handlung' eines Interaktionspartners 'unmittelbar eine Reaktion des anderen motiviert' und umgekehrt". (Ebd. S. 250)

 
Die beiden letzteren Axiome bilden eine theoretische Grundlage für die formale Konversationsanalyse, die davon ausgeht, daß sich die Interaktionen Zug um Zug ('kleinräumig') aufbauen. Ähnlich wie Schütz voraussetzt, daß das 'Verständnis von Vorgängen im Bewußtsein des anderen sofort zur Kommunikation führt' nimmt auch die Konversationsanalyse an, daß die Gesprächspartner ihr Verständnis der Beiträge jeweils turnweise manifestieren. Implizit ist also mit dem unmittelbaren Manifestierungsgebiet auch ein Mechanismus für den Umgang mit Verständigungskrisen formuliert: Sie sollen unmittelbar geäußert werden, auf die sie ad hoc, durch die nachfolgende Erwiderung des Partners bewältigt werden können.