Theoriediskussion Normalformanalysen versus Problemanalysen
   
Wenn der Sozialforscher überhaupt von seiner Umwelt um Rat und Hilfe angegangen wird, dann i.a.R., wenn dort Krisen erlebt werden. Er soll Erklärungen für Konflikte liefern und u.U. auch mit seinen Methoden intervenieren, um z.B. Randgruppen zu integrieren, das Betriebsklima zu bessern, unverständliche Wählerentscheidungen plausibel zu machen usf.
In geradezu paradigmatischer Weise erfüllt die soziometrische Aktionsforschung diese Erwartungen.
Das genaue Gegenteil ihres problemorientierten Herangehens ist ein beinahe allen Hinsichten die kommunikationswissenschaftliche Normalformrekonstruktion.
Was die theoretische Tradition anlangt, grenzen sie sich von den sogenannten 'Perfektions'-Vorstellungen ab, die zunächst einmal die Umwelt als geordnete und selbstverständliche Gegebenheit bewertet haben. Wie alle modernen systemischen Konzepte versucht die Normalformrekonstruktion, "das Normale, alltäglich Erfahrbare ins Unwahrscheinliche auf(zu)lösen und dann begreiflich (zu) machen, daß es trotzdem mit hinreichender Regelmäßigkeit zustandekommt". (N. Luhmann: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. In: Ders. Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, S. 11 - 24, hier 12; vgl. auch ders.: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, ebd. S. 25 - 34).
Um eine solche verfremdende Perspektive auf unsere gewohnte Umwelt einnehmen zu können, ist es erforderlich, das alltagsweltliche Relevanzsystem immer wieder für eine zeitlang zu verlassen und anstatt seiner eine theoretische Einstellung einzunehmen. Dem systemischen Kommunikationsforscher erscheint es als unwahrscheinlich, daß an und für sich autonome Menschen/ Informationssysteme - trotz ihrer unterschiedlichen Standpunkte und Perspektiven (vgl. A. Schütz) - Information aus ihrer Umwelt parallel, gleichsinnig, verarbeiten und sich so soziale Systeme mit relativ stabilen Strukturen bilden. 'Kommunikation', die wir im Alltag als selbstverständliches Geschehen erleben, wird als ein ungemein voraussetzungsvoller, eben: unwahrscheinlicher Prozeß aufgefaßt. So gesehen dient die Theorie zunächst dazu, die Umwelt komplexer - und nicht einfacher - erscheinen zu lassen. Erst im zweiten Schritt wird diese Komplexität dann wieder dadurch reduziert, daß man die Strukturen/ Programme erkennt, die das kommunikative Geschehen ordnen. Diese neue Ordnung mag das Alltagswissen letzten Endes bestätigen, sie ist jedoch nur über den Umweg von Theorien zu ermitteln.

Mit dieser Überzeugung gehen die meisten ethnomethodologischen Forscher (einschließlich vieler Konversationsanalytiker und Anhänger der sogenannten 'Objektiven Hermeneutik' - vgl. Oevermann -) nicht konform. Sie postulieren einen unmittelbaren Zugang zur sozialen Wirklichkeit auch für den Wissenschaftler. Aus informationstheoretischer Sicht geht es jedoch darum, die in alltäglicher Einstellung gewonnenen Informationen sogleich durch einen anderen, den wissenschaftlichen Prozessor, aus ihrem Zusammenhang zu lösen und neu zu kombinieren. Erst in diesem Transformationsprozeß werden die Informationen zu 'Daten'.

Wenn wir uns nun der Forschungspraxis zuwenden, so kann man festhalten, daß es das Ziel der Normalformrekonstruktionen ist, die normalen Strukturen funktionierender sozialer, psychischer u.a. Systeme (oder deren Elemente) zu ermitteln. Deshalb setzen sie, wann immer möglich, gerade nicht an defekten Exemplaren an, sondern suchen die anerkannt besten Vertreter ihrer Art als Datenbasis. Wenn also die soziometrischen Aktionsforscher dem Ruf eines Gärtnereibetriebes folgen, der heftige interne Probleme hat, sucht sich der Normalformforscher einen Betrieb aus, der schwarze Zahlen schreibt und in dem das Betriebsklima nach Auskunft aller Seiten stimmt.
Normalformmodelle sind gespeicherte Selbstbilder, die soziale oder andere Systeme im Verlauf ihrer Geschichte aufgehäuft und als bedeutsam für ihre Tektonik erkannt haben. Die Systeme nutzen Normalformerwartungen als Orientierungsmuster bei der Informationsverarbeitung. Sie funktionieren wie die Sollwerte in kybernetischen Regelkreisen. Dieser Vergleich mit dem Steuerungsmodell macht auch deutlich, warum Abweichungen zu den konkreten Handlungsabläufen, den Ist-Werten, unvermeidlich sind: Wären die Sollwerte genau formuliert und das System auf absolute Einhaltung getrimmt, würde es genauso 'durchdrehen' wie eine thermostatgesteuerte Heizungsanlage, die bei Zehntelgradabweichung beschränkungslos an- bzw. ausschaltet. Das System befände sich in einem beständigen Korrekturprozeß und käme nicht zur eigentlichen Arbeit.

Erst wenn die Struktur und Dynamik, die relevante Umwelt und die typischen Selbstmodelle von solchen "Standardfällen" ermittelt sind, kann sich der Normalformanalytiker auch Betrieben zuwenden, in denen es Störungen gibt. Als Bedingung der dann einsetzenden Normalformanalysen konkreter Einzelfälle gilt die Existenz eines Normalformmodells. Diese ist das Ergebnis der Normalformrekonstruktion, also der eingehenden Beschreibung von normalen, funktionierenden Systemen. Letztere kann man als kommunikative Grundlagenforschung betrachten. Sie versieht die Forscher mit den notwendigen Modellen, um sich in der kommunikativen Welt zurechtzufinden, um beispielsweise entscheiden zu können, was normale Abläufe und was Störungen sind, welche Strukturen einen reibungslosen Ablauf garantieren etc. Diese Entscheidung erfolgt dann nicht mehr aufgrund des mehr oder weniger intuitiven Alltagswissens - wie bei den Praktikern und vielen Aktionsforschern -, sondern aufgrund von kommunikationswissenschaftlich ausgearbeiteten Modellen, eben den Normalformmodellen. Erfahrungsgemäß stimmen diese allerdings auf weite Strecken strukturell mit den latenten Erwartungen der Professionals und der Klienten der jeweils untersuchten Institution überein.