Fliesstext Systemtheoretische Grundlagen der Kommunikativen Sozialforschung
   

Die allgemeine Systemtheorie und die Theorie sozialer Systeme, vor allem in der von Niklas Luhmann vertretenen Variante, bilden einen wichtigen Pfeiler für die Methodologie der Kommunikativen Sozialforschung - zumindest in der Form, wie ich sie hier vertrete. Traditionellerweise hatte sie sich eher auf den Symbolischen Interaktionismus, die Ethnomethodologie, die Wissenssoziologie und andere soziologische Schulen gestützt.
Von der allgemeinen Systemtheorie übernommen haben wir die Vorstellung, daß sich die uns umgebenden sozialen und psychischen Phänomene als vierdimensionale Systeme begreifen lassen. Die Abbildung 1 erläutert die vier Dimensionen der Systeme noch einmal in allge-meiner Form.

Hier Abb. 1 (Allgemeine Systemtheorie) einfügen!

Wenn wir nun versuchen soziale Phänomene, wie z.B. Seminare, Interviewsituationen, Verkaufsgespräche oder ähnliches als soziale Systeme zu betrachten, so verlangt dies von uns, daß wir ihre vier Dimensionen nacheinander gründlich beschreiben. Mehr oder weniger intuitiv und vor allem mehr oder weniger vollständig tun wir dies im Alltag und auch bei den ersten Forschungsschritten beständig. Z.B. enthält das Deckblatt einer Transkription immer Informationen über die Komplexitätdimension des sozialen Systems, in denen das Gespräch abgelaufen ist. Es führt die beteiligten Personen auf, macht Angaben über deren soziale Beziehungen, z.B. indem es Rollenzuschreibungen vornimmt.
Auch über die Differenzierungsdimension werden Daten gesammelt: Was ist die Vorgeschichte des Interviews, der Erzählung usf.? Zu welchen anderen sozialen Systemen steht das untersuchte System in einer Beziehung? Von welchen grenzt es sich ab, auf welche ist es angewiesen? Die Abbildung 2 zeigt beispielhaft, welche unterschiedlichen Umweltsysteme drei Personen, die zusammen im Fachbereich Sozialwesen einer Universität arbeiten, besitzen. Die drei Säulen sollen die drei Personen, Professor O., Frauke und Dirk symbolisieren. Die verschiedenen Balken kennzeichnen die Sozialsysteme, in denen sich diese Personen bewegen. Natürlich ist das nur eine Auswahl aus den möglichen Sozialsystemen. In diesem Fall ist es jene, die die Beteiligten in einem Gespräch in der Selbsterfahrungsgruppe selbst erwähnt haben, oder die für dieses Gespräch latent eine Bedeutung besitzen.

Hier Abb. 2 'Die unterschiedlichen Umweltsysteme' einfügen!

Die Beschreibung der dynamischen Dimension ist das Ziel der meisten Gesprächsanalysen. Es ist erreicht, wenn man das Ablaufmuster der Gespräche oder der Gesprächstypen rekonstruiert hat. Das im Kapitel 7 geschilderte Erzählmodell besteht im wesentlichen aus einer solchen Beschreibung der dynamischen Dimension eines bestimmten Gesprächstyps. Alle Normalformanalysen richten sich ebenfalls auf die Aufdeckung solcher Abdeckmuster.
Die Theorie selbstreferentieller Systeme geht davon aus, daß diese Systemtypen immer über Modelle von sich selbst verfügen müssen, um ihre internen Prozesse zu steuern, ihre Komplexität zu erhalten und sich von ihrer Umwelt so abzugrenzen, daß diese sie als eine Einheit erkennen kann. Als Sozialforscher hat man immer die Hypothese, daß die Beschreibung, die man selbst anfertigt, auch Elemente des Modelles sind, die die Beteiligten über sich selbst haben. Insofern ist die Beschreibung der drei zuerst genannten Dimensionen immer schon ein Schritt zur Beschreibung der selbstreferentiellen Dimension. Hier kann man nun überprüfen, ob die Annahmen, die man selbst aus Beobachtung und Analyse destilliert hat, auch tatsächlich von den Beteiligten geteilt werden. Dies geschieht z.B. in den sogenannten Triangulationen. (Vgl. auch Kapitel 12) Man muß hier aber zwischen den manifesten und den latenten Modellen, zwischen einfacher Selbstreferenz und Selbstreflexion unterscheiden. Viele Muster leiten unser Handeln im Alltag ohne selbst zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit zu werden. Manche andere thematisieren wir in den Gesprächen. Sie werden zum Gegenstand der Reflexion und alle Beteiligten können dann auf diese reflektierten Programme als Normen des betreffenden Sozialsystems verweisen. Hat sich z. B. eine Versammlung eine Tagesordnung gegeben, hat sie sich damit ein manifestes Ablaufprogramm geschaffen.
Zu den wesentlichen Elementen der selbstreferentiellen Dimension gehören auch die Maximen über den Umgang mit Abweichungen. Jedes soziale System hat seine spezifischen Formen, auf Krisen zu reagieren. Diese Krisenbewältigungsmechanismen werden ebenfalls bei der Beschreibung der selbstreferentiellen Dimension erfaßt.

Der Grad der Selbstreflexion wird von Niklas Luhmann zum Kriterium für die Unterscheidung verschiedener Systemtypen genommen: einfache Sozialsysteme (Inter-aktionssysteme) reflektieren ihre Programme nicht. Organisierte Sozialsysteme haben demgegenüber immer neben latenten auch festgeschriebene Strukturen. Gesellschaftssysteme haben nicht nur solche festgeschriebenen Strukturen, z. B. in Form von Gesetzen, sondern sie entwickeln über kurz oder lang auch noch Theorien über diese selbstreflexiven Regeln. Sie betreiben eine Selbstreflexion der Selbstreflexion.

Solange wir uns nur mit klassischen soziologischen Fragestellungen beschäftigen, mit der kommunikativen Sozialforschung nur soziale Systeme beschreiben wollen, mögen diese Überlegungen ausreichen. Wenn es jedoch darum geht, Kommunikation und Kommunikationssysteme zu untersuchen, dann benötigen wir neben der Theorie sozialer Systeme auch noch Modellvorstellungen über informationsverarbeitende Systeme und über Kommunikation. Diese Modelle sollen es ermöglichen, die vielfältigen Formen sozialen Handelns, juristisches, wirtschaftliches, religiöses usf. auf den Aspekt der Informationsverarbeitung bzw. der Kommunikation zu reduzieren.
Die Grundvorstellung über die Komplexität und Dynamik informationsverarbeitender Systeme gibt das Schema wieder

Hier Abb. 3 'Komplexität und Dynamik informationsverarbeitender Systeme' einfügen!