Wider den Methodenzwang (Feyerabend)

 

Aus: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt 1976, S. 45/46 (zuerst 1975 unter dem Titel ‘Against Method’).
 
„Und meine These ist, daß der Anarchismus zum Fortschritt in jedem Sinne beiträgt, den man sich aussuchen mag. Selbst eine „Gesetz-und-Ordnungs“-Wissenschaft wird nur dann Erfolg haben, wenn gelegentlich anarchistische Schritte zugelassen werden.
Es ist also klar, dass der Gedanke einer festgelegten Methode oder einer feststehenden Theorie der Vernünftigkeit auf einer allzu naiven Anschauung vom Menschen und seinen sozialen Verhältnissen beruht. Wer sich dem reichen, von der Geschichte gelieferten Material zuwendet und es nicht darauf abgesehen hat, es zu verdünnen, um seine niedrigen Instinkte zu befriedigen, nämlich die Sucht nach geistiger Sicherheit in Form von Klarheit, Präzision, „Objektivität“, „Wahrheit“, der wird einsehen, dass es nur einen Grundsatz gibt, der sich unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertreten läßt. Es ist der Grundsatz: Anything goes (Mach, was du willst). (1)

(1) Kritiker haben eingewandt, „Mach, was du willst“ sei keine ausreichende Grundlage für die Methodologie und keine Hilfe für einen Denker oder Politiker oder Künstler, der ein bestimmtes drängendes Problem zu lösen habe. Ich meine dazu: ein Unwissender, der mit den ganz besonderen Bedingungen des zu lösenden Problems nicht vertraut ist, dürfte kaum etwas Nützliches zu sagen haben; sein aus der Unkenntnis entspringender Rat wird die Lösung des Problems sehr viel eher behindern als fördern; Erkenntnistheoretiker und Methodologen, die allgemeine Regeln formulieren, welche auf jeden Einzelfall anwendbar sein sollen, sind solche Unwissende, und man soll nicht versuchen, ihre Vorschläge zu verbessern, sondern sie allesamt fallen lassen und stattdessen die konkreten Bedingungen untersuchen. „Doch wird sich eine solche Analyse nicht von allgemeinen Grundsätzen leiten lassen?“ – Nein. Denn jeder allgemeine Grundsatz hat seine Grenzen, in manchen Fällen ist seine Anwendung dem Fortschritt der Erkenntnis (der Gesellschaft, der Kunst usw.) hinderlich statt förderlich. „Wie kann man dann überhaupt mit der Behandlung eines bestimmten Problems anfangen“? – Genau so wie jeder, der ein Problem zu lösen hat. Man zieht seine Fähigkeiten, sein Gedächtnis heran, beschäftigt sich mit den Vorschlägen anderer, aber nicht zuviel (das könnte Verwirrung stiften) und auch nicht zu wenig, man betrachtet allgemeine Regeln, aber nur als Faustregeln, die in einem Fall nützlich sein können, in einem anderen vielleicht gar nicht anwendbar, und schließlich kommt man zu einer Entscheidung. Es wird heute allgemein zugegeben, daß Aussagen über die Natur nur Hypothesen sind, die sich als falsch herausstellen können. Fügen wir hinzu, daß Verfahrensregeln wie die Regeln der Methodologie oder der Logik nur vorläufige Anweisungen sind, die sich als abwegig herausstellen können (und das gilt für alle Regeln und Grundsätze, auch für ganz „grundlegende“ wie „a=a“). Die Behandlung von Einzelfällen in diesem Sinne braucht keineswegs willkürlich zu sein; es ist durchaus möglich, dass jeder Schritt sehr streng begründet werden kann. Doch die Grundsätze dieser Strenge – und das ist der springende Punkt – können sich von einem Fall zum anderen ändern und müssen oft im Verlauf der Diskussion erst aufgestellt werden. Eine allgemeine Fassung dieser Grundsätze ist daher unmöglich – anything goes. Wie hilft das einem Denker oder Politiker, der vor einem Problem steht? Ich behaupte, es hilft ihm ganz wesentlich. Es wird angewiesen, sein Problem gemäß der vorliegenden Situation zu behandeln, die besonderen Umstände zu berücksichtigen und seine Aufgabe nicht als gelöst zu betrachten, weil eine Lösung vorliegt, die einem allgemeinen Grundsatz entspricht.“