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Aufgaben der Kommunikationswissenschaft für die Informationsgesellschaft an der Wende zum 21. Jahrhundert
 
Die erste grundlegende Aufgabe bei der Erforschung kultureller Kommunikation ist die Beschreibung der realen Vielfalt der vorhandenen Kommunikationssysteme. Dazu gehört die Aufdeckung der latenten und manifesten Selbstbeschreibungen, der Normalformen der Prozesse, der relevanten Umwelten und der strukturellen Komplexität.
Eine weitere Aufgabe grundlagenorientierter Medienwissenschaft ist es, die historische Genese dieser Kommunikationssysteme und entsprechend auch ihrer Selbstbeschreibungen aufzudecken und mit Blick auf die Gegenwart und die Zukunft zu bemerken, wann welche Fundamente wanken und dementsprechend die Kategorien ihre Basis verlieren.
[1] Es ist auffällig, dass sich viele Kommunikationssysteme mit anachronistischen Kategorien beschreiben. Zumal in unserer Gegenwart mit ihrem tiefgreifenden Wandel der Kommunikationstechnologie müssten sich unsere Einstellungen darüber, was informativ und was kommunikativ ist, ändern. Solange es jedoch nur irgend geht, beharrt die Kulturgemeinschaft auf ihren traditionellen Sehweisen und Begriffen. Wirklich Neues macht den meisten Menschen Angst. Es setzt sich deshalb leichter durch, wenn es im alten Gewande daherkommt. Neuer Wein in alten Schläuchen ist der Normalfall. Wer über die kommunikativen Netze der Zukunft spekulieren will, muss die latenten Strukturvorgaben der Gegenwart erkennen, um sich gegen unhistorische 'Übertragungen' wappnen können. Dies geht nicht ohne einen historischen Rückblick, der aufzeigt, aufgrund welcher Konstellationen bestimmte Klassifikationen entstanden sind und inwieweit sie sich in der Gegenwart verändert haben.
Eine dritte Aufgabe ist es, die Umwelt zu beobachten, zukünftige Entwicklungen zu antizipieren und zeitgemäße Programme und Kommunikationsbegriffe zu entwickeln. Jedes Kommunikationsmodell ist ja immer ein Vorschlag zur Selbst- und Umweltbeschreibung. Es hat keineswegs bloß deskriptive sondern zugleich auch starke normative Bedeutung: zumindest implizit bewerten die Kategorien, was wichtig ist und was nicht, was mit wem Ähnlichkeiten besitzt und wovon es sich unterscheidet. Je zentraler die Kategorien, umso deutlicher bestimmen sie als Wertmaßstäbe unser Handeln und Erleben. Auch Kommunikationsbegriffe sind solche normativen Programme, denen Wertentscheidungen zugrunde liegen, die sich nur zum geringeren Teil in einem wissenschaftlichen Rahmen rechtfertigen lassen. Sozial- und kommunikationswissenschaftliche Begriffe haben eine der materiellen Technik durchaus vergleichbare Funktion. Nur dienen sie eher als Software, die alternative Sicht-, Erlebens- und Handlungsweisen eröffnen kann. Sie sind Vorschläge zur Selbst- und Umweltbeschreibung. Es kommt darauf an, Beschreibungen zur Verfügung zu stellen, die zeitgemäß sind, die es also erlauben, die anstehenden Probleme unserer Gesellschaft zu lösen.
Die meisten vorliegenden Kommunikationskonzepte eignen sich wenig für eine Prognose zukünftiger Tendenzen, weil sie an weit zurückliegende Strukturen fixiert sind. Es spricht manches dafür, dass wir uns gegenwärtig mit anachronistischen Kategorien um eine Zustandsbeschreibung bemühen. Sie stammen aus verschiedenen zurückliegenden Etappen unserer kulturellen Evolution und widerspiegeln jeweils die Selbstbeschreibung der Informationsverarbeitung und Kommunikation jener Zeit. So wie wir heute nebeneinander verschiedene Kommunikationstechnologien Rede, Schrift, Druck, elektronische Medien u.a. besitzen, so verfügen wir auch nebeneinander über verschiedene Kommunikationskonzepte. Jede historische Gemeinschaft hat in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand ihrer Technik und ihrer kulturellen Ziele ihre Konzepte beigetragen.

[1] Diese Auffassung entspricht dem Programm der Begriffsgeschichte wie es von Reinhard Koselleck z.B. in dem von ihm gemeinsam mit Otto Brunner und Werner Conze herausgegebenen 'Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland' realisiert wurde.