Fliesstext Der selbstreferentielle und kontrafaktische Charakter der kommunikationswissenschaftlichen Axiomatik

 

 

Eine historische und kulturvergleichende Kommunikations- und Medienwissenschaft, die Kulturen als kommunikative und informationsverarbeitende Phänomene auffasst, muss notgedrungen mit sehr allgemeinen Kommunikations- und Medienkonzepten arbeiten. Dies liegt schon einfach daran, dass die Kulturen zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedliche Kriterien für die Bestimmung von ‘Kommunikation’ und ‘Information’ heranziehen. Sie definieren selbst und eben variabel, was für sie Kommunikatoren, Medien, relevante Kodes usf. sind – und die Menschen in den Kulturen handeln und erleben aufgrund dieser Selbstbeschreibungen.
Jeder Wissenschaftler, der ja selbst ein Angehöriger einer bestimmten Kultur in einer bestimmten historischen Epoche ist, hat zuallererst die Aufgabe, die Selbstbeschreibungen der fremden Kommunikationskulturen zu bemerken und sie zu den Programmen der eigenen Kultur in Beziehung zu setzen. Selbstverständlich ist es auch möglich, sich nicht um die kulturspezifischen Annahmen zu kümmern und als außenstehender Betrachter ein beliebiges Kodierschema anzuwenden. Damit wird es dann aber nicht möglich ‘Kommunikation’ als Phänomen der betreffenden Kulturen zu untersuchen. Es wird vielmehr gleichsam der Kultur des Betrachters einverleibt.
Ein so verfahrender Wissenschaftler betreibt also weder eine zeitvergleichende (historische) noch eine kulturvergleichende Forschung. Wenn man davon ausgeht, dass ‘Kommunikation’ selbstorganisierend und gar selbstreflexiv ist, dann untersucht man nach allen Kriterien der Wissenschaft, auch keine Kommunikation in adäquater Weise. Das Adäquanzpostulat fordert eben, dass die Methode dem Gegenstand angemessen ist. Wenn den Kommunikatoren aber – theoretisch – das Recht zugestanden wird, selbst darüber zu entscheiden, was Kommunikation und was Medien sind, dann muss die Methode des Wissenschaftlers es ermöglichen, den Vollzug genau dieser Entscheidung (Selbstbeschreibung) zu beobachten.
Es wird zu einer empirischen Frage, die von den beobachteten Kommunikationssystemen zu beantworten ist, ob Kommunikation vorliegt. Die Antwort kann nicht vom Kodierraster des Forschers abhängig gemacht werden, welches günstigstenfalls Kriterien von dessen Kulturen und Zeit widerspiegelt – gebrochen durch seine individuellen Neurosen.

Daraus folgt für die Grundbegriffe: Sie müssen einen allgemeinen axiomatischen Charakter besitzen.
Genauere Bestimmungen haben schon den Stellenwert empirischer Aussagen, die dann aber eben nur für Subsysteme bestimmter Kulturen und Zeiten gelten – und diese Referenz muss benannt werden. Die sehr allgemeinen theoretischen Grundannahmen sollten andererseits – bis auf weiteres – nicht als Hypothesen behandelt und beständig überprüft werden. Sie liefern eine Heuristik und Orientierung für die Forschung für einen längeren Zeitraum. Scheitern können die empirischen Spezifikationen, die abgeleiteten Hypothesen – nicht die Grundbausteine und Dimensionen. Wie jede andere institutionalisierte Form auch, sind sie kontrafaktisch zu stabilisieren, um ihr Ziel, die Koordinierung von Handlungen vieler über einen gewissen Zeitraum und ohne Rückkopplungsmöglichkeiten überhaupt zu garantieren.
Oder anders ausgedrückt: Wenn Forschergruppen eine wissenschaftliche Disziplin etablieren wollen, dann müssen sie ihre Grundannahmen gegen Kritik immunisieren. Der Institutionalisierungsprozess gelingt genau in dem Maße, indem diese Grundannahmen kontrafaktisch stabilisiert werden. Solange dies nicht der Fall ist, jedes Gegenargument oder jedes widerstreitende Faktum zur Aufgabe des Theorems führt, solange haben wir nichts anderes als flexibel rückgekoppelte Forschergruppen, z.B. interdisziplinäre Projekte, vor uns. Die Projektstruktur könnte auch eine Zukunftsvision sein, aber es wäre dann keine disziplinäre. Disziplinen sind das Produkt von Institutionalisierung – und diese gelingt nur, wenn der Aushandlung als Prinzip einfacher Sozialsysteme eine Grenze gesetzt wird. Die Grenzziehung erfolgt in Bezug auf die Wissenschaften durch die kontrafaktische Stabilisierung von theoretischen Axiomen.

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