Fliesstext

Die Grenzen von sozialem Handeln
 
Zwar sind alle soziale Systeme Kommunikationssysteme, aber sie lassen sich nicht auf Kommunikation reduzieren. Die Soziologie, als die Wissenschaft, die sich mit der Beschreibung sozialer Systeme befaßt, fällt nicht mit der Kommunikationswissenschaft zusammen. Kommunikation allein führt zu Kommunikationssystemen, nicht aber zwangsläufig zu sozialen Gemeinschaften. Es müssen hier noch weitere Strukturen berücksichtigt und dazu soziologische und sozialpsychologische Perspektiven eingenommen werden. Man kann deshalb auch sagen: Wenn man soziale Systeme lediglich aus kommunikationstheoretischer Sicht betrachtet, dann sieht man nur eine Struktur.
Was sind aber die anderen wichtigen Strukturen?
Ich denke, es gibt noch mindestens zwei weitere wesentliche Probleme, an denen sich soziale Systeme herauskristallisieren können: Kooperation und Interaktion.
Unter Interaktion verstehe ich die Gestaltung der Beziehung zwischen den sozialen Rollen/Akteuren. Sie müssen sich selbst und ihre Beziehungen zueinander definieren, Nähe und Distanz regulieren, Selbst- und Fremdbilder schaffen und miteinander in Beziehung setzen, den anderen und sich selbst und die Beziehung und die Wahrnehmung der Beziehung durch den anderen u. v. a. m. berücksichtigen. Eine Vielzahl von sozialen Systemen entsteht, weil genau dieses Problem die Aufmerksamkeit der Beteiligten in Anspruch nimmt: Krieg und Liebe, Öffentlichkeitsarbeit und Mitarbeitergespräche, Small-talk auf Parties und internationale Konferenzen etc.
Die Beschäftigung mit dieser Struktur sozialer Phänomene gehört zu den Hauptaufgaben der Sozialpsychologie.
Soziologie, Ökonomie und Arbeitslehre beschäftigen sich demgegenüber mit einer anderen, nicht minder wichtigen Struktur, der Kooperation. Jedes soziale System kann sich auch als ein Kooperationszusammenhang auffassen, in dem die beteiligten Akteure arbeitsteilig Aufgaben zu lösen haben. Genau diese Ermittlung der Arbeitsteilung steht an der Wiege der Ökonomie und der Soziologie. Gerade in unserer Gesellschaft und in unserem Fachbereich ist es üblich, soziale Zusammenhänge unter dem Gesichtspunkt zielgerichteter Aufgabenlösung zu betrachten. Aber dies ist natürlich, wie alle wissen, die einmal in einem Trainingslaboratorium mitgemacht haben, keine Definition, die zu einer befriedigenden Erkenntnis von sozialen Systemen führt.
In der nachstehenden Abbildung sind die drei Perspektiven unter denen dynamische Prozesse, d. h. die Abfolge von Handlungen und Redebeiträgen in sozialen Systemen zu betrachten sind, tabellarisch zusammengefaßt.
 

Modellfälle
 
Kommunikation Zweiergespräch
Kooperation Institution
Interaktion Gruppe(ndynamik), Psychodynamik
     
Soziale Systeme können sich selbst entweder als
 
-Kooperations-
-Interaktions- oder
-Kommunikationssysteme definieren
 
Welche Zusammenhänge gibt es zwischen diesen drei Strukturen?
 
Es liegt auf der Hand, daß man auch die Herstellung von Beziehungen und die Daseinsbewältigung durch Arbeit als einen Informationsverarbeitungsprozeß begreifen kann. Andererseits setzt jede Informationsverarbeitung die Herstellung funktionaler Beziehungen zur Umwelt und die Regulation von Sozialkontakten, also Kooperation und Interaktion voraus. Es gibt also einen zirkulären Zusammenhang zwischen diesen drei Größen. Und deshalb ist es auch keineswegs zufällig, daß die drei Begriffe häufig synomym verwendet werden. Viele Sozialpsychologen definieren Kommunikation als Interaktion, für viele Soziologen ist Kooperation gleich Kommunikation usf.
Richtig daran ist, daß sich kein soziales System einigermaßen befriedigend beschreiben läßt, wenn man nicht diese drei Strukturen berücksichtigt: ohne Kommunikation keine Kooperation, ohne Kooperation keine Interaktion und ohne Interaktion keine Kommunikation und umgekehrt!
Es macht m. E. auch keinen Sinn, von einer externen Beobachterposition aus eine Hierarchie zwischen diesen drei Perspektiven, Disziplinen oder permanenten Problemen zu konstruieren. Dies tun nämlich die sozialen Systeme faktisch in jedem Augenblick selbst. Sie legen fest, worauf das Hauptaugenmerk zu richten ist, ob die Beziehungsklärung, die Aufgabenerfüllung oder die Klärung der Selbst- und Umweltbilder im Mittelpunkt stehen soll. Es hat den Anschein, als wenn zu einem Zeitpunkt jeweils nur eine Struktur fokussiert werden kann. Die anderen Strukturen werden latent bewältigt.
Wie schon angedeutet, hat im Verlaufe der Geschichte zunächst die Daseinsbewältigung und dann immer wieder - vor allem in Krisensituationen - die Klärung von Machtansprüchen und Beziehungen im Mittelpunkt gestanden. Selbstreflexion und die Verständigung über die Sichtweisen der Umwelt haben zwar auch immer schon stattgefunden, aber sie waren doch den anderen Problembereichen zumeist untergeordnet. Dies nun scheint sich in unserer Gegenwart zu ändern. Eben deshalb ist es nicht zufällig, daß erst in den letzten Jahren Begriffe wie 'Informations'- oder 'Kommunikationsgesellschaft' zur Selbstbeschreibung unserer sozialen Gemeinschaft herangezogen werden.
Diese Erwägungen sollten auch deutlich machen, daß es wenig sinnvoll ist, alles in Kommunikation auflösen zu wollen. Richtig ist vielmehr, die Fähigkeit zum Programmwechsel zu entwickeln, sowohl auf Kommunikation als auf Kooperation als auch auf Interaktion zu achten und zwischen diesen Perspektiven bei Bedarf flexibel hin und her zu wechseln. Richtig ist aber auch, daß dazu zunächst einmal verstärkte Anstrengungen zur Entwicklung einer kommunikativen Perspektive erforderlich sind. Hier liegen zweifellos die größten Defizite, hier hat die Geschichte am wenigstens Kategorien bereitgestellt und hier finden sich auch im Bildungssystem, selbst in den entwickelten Industrienationen noch die meisten Lücken.