Theoriediskussion

Theoriediskussion: Axiom der Selbstdefinition
 
Das Axiom steht andererseits im Widerspruch zu vielen weithin anerkannten Kommunikationskonzepten. Zwei seien nur kurz erwähnt: das pragmatische Kommunikationsmodell von Paul Watzlawick et.al und das systemische Modell Niklas Luhmanns.
 
Paul Watzlawick, Jeanette Beacin und D. D. Jackson haben in ihrem Buch ‚Menschliche Kommunikation’ (Bern/Stuttgart/Wien, o. J., S. 50f) als ‚Axiom menschlicher Kommunikation’ bekanntlich die Auffassung formuliert, man könne nicht nicht kommunizieren. Ich gehe davon aus, dass Kulturen und Menschen die Freiheit besitzen und vor der Notwendigkeit stehen – in einem Prozess sozialer Konsensbildung zu definieren, wann Sozialkontakte, Verhalten, Medien usw. kommunikativ sind und wann nicht. Die Definitionen wirken als soziale und/oder biographische Programme, die wie andere Normen auch, Verhalten und Erleben wechselseitig erwartbar und damit biographische und/oder soziale Ordnung und Systembildung erst möglich machen.
 
Das pragmatische Axiom der Palo Alto-Gruppe schränkt die Selbstregulationskraft von psychischen und sozialen Systemen zugunsten des außenstehenden wissenschaftlichen Betrachters ein. So lesen wir als Erläuterung des Axiom: „Der Mann im überfüllten Wartesaal, der vor sich auf den Boden starrt oder mit geschlossenen Augen dasitzt, teilt den anderen mit, dass er weder sprechen noch angesprochen werden will, und gewöhnlich reagieren seine Nachbarn richtig darauf, indem sie ihn in Ruhe lassen. Dies ist nicht weniger ein Kommunikationsaustausch als ein angeregtes Gespräch.“ (ebd. S 51)
 
Mir missfällt – vor jeder theoretischen Überlegung und jeder distanzierten empirischen Auseinandersetzung mit dem Axiom – die Missachtung der Standpunkt und Perspektiven der beobachteten Personen. Wer gibt dem Wissenschaftler das Recht zu sagen, was für die Beteiligten in dieser sozialen Situation ‚richtig’ ist und was nicht? Da eine Rückkopplung zwischen dem Nachbarn und dem ‚schweigenden Mann’ nicht stattfindet, wissen weder die Anwesenden im Wartesaal noch die Beobachter, was bei einer Kontaktaufnahme hätte herauskommen können. Dass ein ‚angeregtes Gespräch’ den gleichen kommunikativen Wert haben soll wie das Schweigen, dürfte auch keine von jedermann geteilte Erfahrung sein. Warum sollte man dann überhaupt reden? Und hier liegt eine erhebliche Sprengkraft, wenn man solche Axiome der sozialen Gemeinschaft als Normen vorschlägt: Ob kommunikativer Austausch oder Schweigen im Walde, alles egal.
 
Und natürlich hat ein solches Axiom handlungsbestimmende und legitimierende Kraft, zunächst natürlich für den Wissenschaftler, der es übernimmt. Zu welchen ‚hochinteressanten’ Untersuchungen dieses Axiom anregt, wird ebenfalls mitgeteilt: ‚Zwei einander unbekannte Personen werden angewiesen, in einem Zimmer Platz zu nehmen, sich gegenseitig anzusehen, aber nicht miteinander zu sprechend oder in irgendeiner Weise zu kommunizieren.’ „Die anschließenden Befragungen ergaben, dass die Versuchsperson diese Situation als große Belastung empfunden hatten.... Unserer Ansicht nach findet in dieser Situation eine wirkliche zwischenmenschliche Auseinandersetzung statt.... So z. B. wie reagiert der andere auf die eigene Gegenwart und die kleinen Ausdrucksbewegungen, die man ihm gegenüber zeigt? Findet ein fragender Blick eine Antwort, oder wird er kalt abgewiesen?.... Diese und viele andere Verhaltensformen lassen sich beobachten....“ (Ebd. Anm. 2, S. 51/52) Wer nicht an die selbstregulative Kraft glaubt, muss eben ’anweisen’, natürliche und soziale Freiheiten beschneiden, um überhaupt einen Untersuchungsgegenstand zu finden, an dem er sein Modell testen kann. Ich mag an dieser Stelle auf den Sinn solcher Krisenexperimente nicht weiter eingehen und überlasse die ethischen und anderen Bewertungen dem Leser.
 
In diesem Kontext ist es wichtiger, den theoretischen Hintergrund des Unmöglichkeitsaxioms zu erhellen. Watzlawick, Beavin, Jackson leiten die Unabweisbarkeit und damit Wahrscheinlichkeit von Kommunikation aus der These ‚Man kenn sich nicht verhalten’ ab. Sie erklären Kommunikation damit praktisch zu einem Typus von ‚Verhalten’. Ich sehe demgegenüber überhaupt keinen Bedarf für eine Kommunikationstheorie, wenn man Kommunikation als Verhalten begreifen kann. Dann sollte eine Theorie des Verhaltens genügen, wie es Psychologen und Soziologen entwickelt haben. Letztlich entwerfen Watzlawick, Beavin und Jackson keine kommunikationswissenschaftliche, sondern eine psychologische, bestenfalls sozialpsychologische Theorie nicht von Kommunikation, sondern von psychischer Informationsverarbeitung und stellenweise von interpersoneller Interaktion.