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Der historische Charakter von Kommunikationskonzepten |
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Die historische Betrachtung zeigt, dass alle sozialen Gemeinschaften selbst definieren, was sie als Kommunikation und was sie als Information verstehen wollen und welchen Stellenwert diese Konzepte in ihrem Alltag überhaupt einnehmen sollen. Und sie tun dies im Laufe der Geschichte und in den zahlreichen kulturellen Teilsystemen in unterschiedlicher Weise. D. h., es gibt in jeder Kultur und im globalen Maßstab schon überhaupt zu jeder Zeit mehrere, sich untereinander teilweise widersprechende oder bekämpfende Programme von Informationsverarbeitung und Verkündigung. Der Aufstieg des einen Konzepts, der häufig an die Erfindung technischer Medien oder neuer Formen sozialer Differenzierung gebunden ist, bedeutet oftmals die Verdrängung eines anderen. Kulturen, in denen es kaum technische Informations- und Kommunikationsmedien gibt und in denen nur die Körperorgane als Ausdrucksmedium fungieren, werden die Verständigung an das leibliche Handeln, an Bewegung, Tanz und an das Sprechen binden. Schriftkulturen kommen über kurz oder lang dazu, auch die schriftlichen Texte als Kommunikationsmedium zu betrachten. Sie müssen dann komplexe Interpretationslehre, Hermeneutiken, entwickeln, die zeigen, wie Texte zu schreiben und zu verstehen sind. Verständigung wird möglich, wenn die Beteiligten diese Kunstlehre gut kennen, den Text richtig auslegen können. Das Verstehen von Texten, also von künstlichen Medien, wird zu einer wesentlichen Phase im Kommunikationsprozess. Kommunikation und Interaktion beginnen auseinander zu fallen. Dies war für einfachere Kulturen selbstverständlich eine völlig undenkbare Vorstellung. Die Differenzierung von Interaktion und Kommunikation wird in Europa in der frühen Neuzeit mit der Einführung des Buchdrucks und der marktwirtschaftlichen Verbreitung der Bücher konsequent durchgeführt. Kommunikation erscheint als Weitergabe von sprachlich gefasstem, in Büchern dargestelltem Wissen - analog zum Austauschen der Druckerzeugnisse als Waren auf dem Markt. Sprechen und Schreiben wird - wie die Industrieproduktion überhaupt - als hochgradig standardisierte Produktion von Zeichen/Waren verstanden. Ähnlich, wie man die anderen Produktionstätigkeiten erst nach ihrer Manufakturisierung überhaupt in Fachbüchern beschreiben konnte und so eine technische Fachliteratur entstand, so konnte man auch die sprachliche Produktion erst dann beschreiben, als man sich vorstellte, so zu sprechen, wie der Buchdrucker seine Lettern setzte. Sprechen und Schreiben waren nun keine 'natürlichen' Handlungen mehr, sondern künstliche Verrichtungen, die nach einem ausgeklügelten Programm, welches man über lange Jahre in der Schule lernen musste, erfolgten. Das gegenwärtig zu beobachtende Bedürfnis, die Industriegesellschaft, ihre Institutionen, ihre Betriebe und selbst die privaten Gespräche als informationsverarbeitende Systeme zu betrachten, hängt ebenfalls mit technischen Veränderungen zusammen: Man versucht Vorstellungen, die man sich bei dem Versuch, elektronische Rechenmaschinen und deren Vernetzung zu verstehen, gemacht hat, auch auf andere Bereiche unseres Alltags zu übertragen. Nur weil es einen solchen Wandel der Medien gibt, kann man in der Geschichte auch einen Wechsel der vorherrschenden Kommunikationstheorien ausfindig machen. Die nachstehende Tabelle 'Grundlinien des Wandels der Kommunikations- und Informationskonzepte' fasst diese Überlegungen zusammen: |
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Natürlich ist das in der Tabelle dargestellte Entwicklungsmodell eine Vereinfachung. Auch nach der Entdeckung der Alphabetschrift bediente man sich weiterhin der natürlichen Kommunikationsmedien; die Einführung des Buchdrucks führte keineswegs dazu, dass man aufhörte, mit der Hand zu schreiben, und der Einsatz der Computer hat weder den Druck noch das Schreiben noch das Sprechen überflüssig gemacht. Theoretisch müsste man also annehmen, dass die Zahl der Kommunikationsbegriffe im Laufe der Geschichte ebenso wie die Anzahl der Kommunikationsmedien zunimmt. Dies trifft bis zu einem gewissen Grade zu. Wichtiger aber ist die Feststellung, dass die Kulturen dazu tendierten, diese Komplexität zu reduzieren, indem sie jeweils ein kommunikatives Leitmedium herausgriffen, den für dieses Kommunikationssystem notwendigen Kommunikationsbegriff als den eigentlich gültigen (pars pro toto) setzten und ihn so prämierten. Die historische Betrachtung zeigt auch, dass die Bedeutung, die kommunikative Prozesse in der Selbstbeschreibung der Kulturen in der Geschichte haben, durchaus wechselt. Offenbar leben wir in einer Zeit, in der alles als Information und praktisch alle Vorgänge auch als Kommunikation begriffen werden können. Dies ist für sich schon ein interessanter Befund. Frühere Zeiten verspürten keineswegs das Bedürfnis, in ihrer Umgebung nur Informationen und Informationsverarbeitungsprozesse zu bemerken. Jahrtausendelang genügte es den Menschen, Gespräche zu führen, ihre Gegenüber zu überzeugen, mit ihnen zu argumentieren, Meinungen zu veröffentlichen u. ä. Nunmehr wird es als Notwendigkeit erlebt, über 'Kommunikation' nachzudenken. Sie ist von einer selbstverständlichen Tätigkeit zu einem Problem geworden. Es liegt nah, diese Entwicklung mit dem Aufkommen der neuen Medien und der technisierten Informationsverarbeitung in Zusammenhang zu bringen. Was man technisch oder auch sozial optimieren will, muss zunächst beschrieben werden. Es geht aber nicht nur um eine rasante Zunahme der Bedeutung der Reflexion über Kommunikation und eine Höherbewertung von Konzepten. Neu beschrieben und bewertet werden Phänomene, mit denen sich frühere Generationen kaum befassten. Oder anders ausgedrückt: Wenn wir unser kulturelles Überleben sichern wollen, müssen wir heute andere Informationen anders verarbeiten als dies bislang in der Geschichte üblich war. Formen der sozialen Vernetzung, die bislang bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielten, erhalten für das Überleben unserer Kultur herausragende Bedeutung. Wenn aber Medien und Kommunikation in dieser Weise zu identitätsstiftenden Symbolen und Werten gemacht werden, die Gesellschaft die Parole ausgibt: 'Lasst uns unsere Kultur und die Vorgänge in unserer Umwelt als Kommunikation begreifen!', dann entsteht nicht mehr bloß die Möglichkeit, sondern der Zwang, 'alles' unter der kommunikativen Perspektive zu betrachten. Paradoxerweise muss dann aber die Generalmetapher präzisiert werden. Es ist zu klären 'als was' nun 'alles' zu erleben ist. Nach einer längeren Phase der Variation und der chaotischen
Sammlung von Kommunikationskonzepten stehen wir vor der Notwendigkeit
auszuwählen. Eine Gesellschaft, die sich als Kommunikations- oder Informationsgesellschaft
begreift, muss klären, wie sie kommunizieren will, und entsprechende politische
Programme und Institutionen schaffen. Diese Vorstellungen sollten mindestens
ebenso klar sein, wie in früheren Zeiten das Organismus- oder Maschinenmodell.
Es spricht alles dafür, dass wir bei der Auswahl am Ende mehr Komplexität
erhalten müssen, als dies dem hierarchischen Denken der neuzeitlichen
Wissenschaft entspricht. Wir werden mehrere Modelle brauchen und klären
müssen, wann sie jeweils sinnvoll einzusetzen sind. Es geht nicht um eine
Entweder-Oder-Diskussion, sondern um das Miteinander verschiedener funktional
angemessener Perspektiven. |
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