Theoriediskussion Die Grenzen des Adäquanzpostulats
   

Die Ursache für die Schwierigkeit der Nutzung der informationstheoretischen Perspektive bei kulturhistorischen Forschungen liegt letztlich darin, dass wir das Postulat der Adäquanz auf der Ebene der Selbstbeschreibung aussetzen müssen: Wir stellen die anderslautenden Selbsttypisierungen der Kulturen zurück. Diese Praxis, Selbsteinschätzungen der Klienten zu suspendieren, ist aus Beratungskontexten gut bekannt. Die Einschätzungen der Klienten sind meist ein Teil des Problems, zu dessen Behebung die Beratung dienen soll.
In den Sozial- und Geisteswissenschaften handelt man sich mit informationstheoretischen Ansätzen den Vorwurf unhistorischer Übertragungen von Kategorien ein, die aus der Gegenwart stammen - und angeblich nur dort Sinn machen. Diese Argumentation unterschätzt die Bedeutung latenter Selbstbeschreibungen. Sie stellt sich letztlich in den Dienst der Arbeit an den eingespielten Mythen.

Warum?

Alle Kulturen beschreiben sich selbst und nutzen dieses Modell zur Steuerung von Kommunikation und anderen Prozessen.
Je komplexer sie sind, desto mehr Modelle entwickeln sie, und desto stärker wird der Selektionsdruck.
Jede Kultur hebt aus der Vielzahl der handlungsleitenden und orientierungsrelevanten Selbstkonzepte nur wenige hervor und prämiert sie als allgemeine Norm. Und nur eine Auswahl aus diesen Normen/Modellen wird versprachlicht oder in anderen (künstlerischen) Darstellungsmedien sozial symbolisiert.
Die kulturwissenschaftlichen Beschreibungen sind (u. a.) Selektionen aus den kulturellen Selbstbeschreibungen. Aber welche Auswahl wird vorgenommen?
Wenn die Wissenschaft diese prämierten Modelle ebenfalls bevorzugt, befindet sie sich im Einklang mit der Umwelt - aber sie stellt auch keine Alternativen zur Verfügung. Sie erklärt, präzisiert, verdoppelt, mystifiziert.
Gerade in Zeiten kultureller Umbrüche ist ein solches konformistisches Herangehen schädlich, weil es zur Stabilisierung traditioneller Ideologien und Kommunikationsformen beiträgt. Die Wissenschaft versagt an ihrer Aufgabe, zukunftsweisende Identitätskonzepte zur Verfügung zu stellen.
Aber auch im Hinblick auf die Aufarbeitung der Geschichte ist es sinnvoll, latente und/oder verdrängte Konzepte zu rekonstruieren, eben weil sie trotz fehlender Symbolisierung wirksam waren. Auf diese Weise werden Traditionslinien sichtbar, die nicht in den Mythen erzählt werden.
 
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