Sozial- und Kommunikationssysteme als technologische Systeme
  Aus: Michael Giesecke: „Der Buchdruck in der frühen Neuzeit“
Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt am Main, 1998, S. 56-57.

Die Logik der Medien: Sozial- und Kommunikationssysteme als technologische Systeme

Von technologischen Systemen kann man sprechen, wenn man kulturelle oder soziale Gemeinschaften als Systeme betrachtet, deren Komplexität, Dynamik, Grenzen und Selbstrepräsentationen durch technische Medien geschaffen und aufrechterhalten werden. Man fokussiert bei diesem Herangehen nicht so sehr die menschlichen Prozessoren, sondern die künstlichen Medien, von denen man annimmt, daß sie den Anstoß zu der Systembildung gegeben haben und dessen Strukturen entscheidend bestimmen. Diese selektive Perspektive verdient die Bezeichnung ›medientheoretisch‹.
Da alle Kommunikation unabweisbar auf materielle Medien als Vernetzungsinstanzen angewiesen ist, lassen sich alle Kommunikationssysteme als technologische Systeme in dem hier bezeichneten Sinn verstehen. Kommunikationsforschung besitzt neben dem system- auch immer einen medientheoretischen Aspekt.

Systembeschreibung als Selbstsimplifikation

Die katalysatorischen und determinierenden Medien nennt man oft ›Schlüsseltechnik‹ oder ›-technologien‹. Viele Systeme beschreiben sich in diesem Sinne selbst als durch Technik bestimmte Systeme und benennen sich entsprechend: ›Industriebetrieb‹ oder ›-gesellschaft‹, ›Computerclub‹ oder ›Fernsehrunde‹, ›Röntgenabteilung‹ oder ›Fußballverein‹ usf. Das erste Wort des zusammengesetzten Ausdrucks hebt jeweils das Medium hervor, welches nach dem Verständnis des betreffenden sozialen Systems für sein Zustandekommen ursächlich ist. Bei anderen sozialen Gemeinschaften dürften es eher die außenstehenden Betrachter sein, die Systembildungen auf technische Medien zurückführen. So spricht die Wissenschaft von der ›Stein-‹ und der ›Bronzezeit‹, von ›Ackerbau-‹ und ›Viehzüchterkulturen‹, und es nicht immer sicher, ob sich auch die anvisierten Kulturen selbst in dieser Weise beschrieben haben – oder ob sie andere Medien für relevanter hielten.
Das Bedürfnis nach Eindeutigkeit, das nicht nur den Wissenschaftler, sondern auch den Menschen im Alltag leitet, mag dazu geführt haben, daß die Identität von sozialen Systemen mit Vorliebe an ein einziges Medium gekettet wird. Natürlich verwenden die Kulturen der Bronzezeit neben der Bronze auch noch viele andere Materialien, und selbst in einem Fußballverein schart man sich gelegentlich auch um andere Medien. Trotzdem reduziert man die Identität dieser Gemeinschaften durch Akte der reflexiven Selbstsimplifikation auf ausschließlich ein katalysatorisches Medium. Man muß diesen Reduktionismus im Auge behalten, wenn irgendwelche sozialen Phänomene als technologische Systeme beschrieben werden.
Für die Modellbildung des Kommunikationsforschers erweisen sich die medientheoretischen Vereinfachungen als hilfreich. Es ist sinnvoll, Kommunikationssysteme durchgängig (zunächst) als technologische Systeme aufzufassen, welche durch ein einzelnes Schlüsselmedium bestimmt werden – und dies entspricht ja auch weitgehend dem gegenwärtigen Brauch. So unterscheidet man orale, skriptographische, typographische und elektronische Kommunikationssysteme und verwendet damit jeweils bestimmte Kommunikationsmedien als Unterscheidungskriterien. Bei der Analyse empirischer Phänomene zeigt sich dann immer, daß diese Systeme mit anderen mehr oder weniger eng vernetzt sind. Dem Beteiligten mag dies oft nicht so klar sein; zu den anspruchsvollen Aufgaben des Kommunikationsforschers gehört es, das Zusammenwirken von Kommunikationssystemen, die mit unterschiedlichen Medien arbeiten, aufzuzeigen.
Dies gilt auch für die typographische Kultur. Es handelt sich hierbei um ein Phänomen, in dem verschiedene Kommunikations- und Informationssysteme bzw. verschiedene Medien und Prozessoren zusammenwirken. Das Typographeum, welches im nächsten Kapitel beschrieben werden soll, und die typographischen Netze (Kap. 5) machen nur einen Teil dieses Supersystems aus.


Anmerkung: Ich würde heute 'technologische Systeme' nicht mehr im Rahmen einer Theorie sozialer Systeme behandeln. Vielmehr sollte das Zusammenwirken von Menschen und sozialen Gemeinschaften mit 'Technik' im Rahmen der Triadischen Kulturtheorie (Vgl. das Modul 'Kultur 3D') behandelt werden. Diese Vorstellung existiert zwar auch schon in obigem Textausschnitt, aber die konsequente Modellierung von Kulturen als Ökosysteme erfolgte später (Vgl. 'Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft' Ffm 2002).