Pragmatische Axiome (P.Watzlawick et.al.)

aus: “Pragmatische Axiome – Ein Definitionsversuch“, in: Menschliche Kommunikation : Formen, Störungen, Paradoxien, hrsg. v. Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson: Bern, Stuttgart, Wien, 1969, zuerst New York 1967, S. 50-53. 2. Kapitel
Pragmatische Axiome – Ein Definitionsversuch
 
2.1. Einleitung
 
Die im I. Kapitel gezogenen Schlussfolgerungen haben ganz allgemein die Anwendbarkeit vieler herkömmlicher Begriffe der Psychiatrie auf das von uns gewählte Begriffssystem in Frage gestellt und dabei offensichtlich wenig übrig gelassen, worauf sich eine Untersuchung der Pragmatik der menschlichen Kommunikation gründen könnte. Wir möchten im Folgenden zeigen, dass dem nicht so ist. Dazu wird es allerdings notwendig sein, mit den einfachsten Eigenschaften der Kommunikation zu beginnen, die im Bereich des Zwischenmenschlichen wirksam sind. Ob diese Grundeigenschaften wirklich als Axiome des von uns postulierten pragmatischen Kalküls angesprochen werden dürfen, ist beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens eine offene Frage. In diesem Sinne handelt das vorliegende Kapitel also von provisorischen Formulierungen, die weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Endgültigkeit erheben können. Ihrer theoretischen Schwäche können wir aber ihre praktische Nützlichkeit gegenüberstellen.

2.2. Die Unmöglichkeit, nicht nicht zu kommunizieren

2.21 Bisher haben wir den Ausdruck „Kommunikation“ in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet: als allgemeine Bezeichnung eines Wissensgebietes und als Name für eine noch nicht näher begrenzte Verhaltenseinheit. Für den pragmatischen Aspekt der menschlichen Kommunikationstheorie werden wir einfach den Ausdruck „Kommunikation“ beibehalten. Die zweite Bedeutung dagegen bedarf einer Unterteilung. Eine einzelne Kommunikation heißt Mitteilung (message) oder, sofern keine Verwechslung möglich ist, eine Kommunikation. Ein wechselseitiger Ablauf von Mitteilungen zwischen zwei oder mehreren Personen wird als Interaktion bezeichnet. (Dem an genauer Quantifizierung interessierten Leser können wir nur sagen, dass eine Interaktion mehr als eine einzelne Mitteilung, aber nicht unbegrenzt ist.) In den Kapiteln 4 und 7 sollen schließlich Strukturen von Interaktionen (paterns of interaction) beschrieben werden, die noch komplexe Einheiten menschlicher Kommunikation darstellen.
Es muss ferner daran erinnert werden, dass das „Material“ jeglicher Kommunikation keineswegs nur Worte sind, sondern auch alle paralinguistischen Phänomene (wie z.B. Tonfall, Schnelligkeit oder Langsamkeit der Sprache, Pausen, Lachen und Seufzen), Körperhaltung, Ausdrucksbewegungen (Körpersprache) usw. innerhalb eines bestimmten Kontextes umfasst – kurz, Verhalten jeder Art.

2.22 Verhalten hat vor allem eine Eigenschaft, die so grundlegend ist, dass sie oft übersehen wird: Verhalten hat kein Gegenteil, oder um dieselbe Tatsache noch simpler auszudrücken: Man kann sich nicht nicht verhalten. Wenn man also akzeptiert, dass alles Verhalten in einer zwischenpersönlichen Situation(1) Mitteilungscharakter hat, d.h. Kommunikation ist, so folgt daraus, dass man, wie immer man es auch versuchen mag, nicht nicht kommunizieren kann. Handeln oder Nichthandeln, Worte oder Schweigen haben alle Mitteilungscharakter: Sie beeinflussen Andere, und diese Anderen können ihrerseits nicht nicht auf diese Kommunikation reagieren und kommunizieren damit selbst. Es muss betont werden, dass Nichtbeachtung oder Schweigen seitens des Anderen dem eben Gesagten nicht widerspricht. Der Mann im überfüllten Wartesaal, der vor sich auf den Boden starrt, oder mit geschlossenen Augen dasitzt, teilt den Anderen mit, dass er weder sprechen noch angesprochen werden will, und gewöhnlich reagieren seine Nachbarn richtig darauf, indem sie ihn in Ruhe lassen. Dies ist nicht weniger ein Kommunikationsaustausch als ein angeregtes Gespräch.(2)

Man könnte auch nicht sagen, dass Kommunikation nur dann stattfindet, wenn sie absichtlich, bewusst und erfolgreich ist, d.h., wenn gegenseitiges Verständnis zustande kommt. Die Frage, ob eine empfangene Mitteilung der ausgesandten entspricht, gehört, so wichtig sie an sich ist, nicht hierher: Letzten Endes könnte sie ja nur der Grundlage spezifisch introspektiver oder subjektiver Angaben beantwortet werden – also eine Form von Daten, die (wie schon mehrfach betont) in einer auf beobachtbarem Verhalten beruhende Kommunikationstheorie unberücksichtigt gelassen werden müssen.

2.23 Die Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren, ist eine Tatsache von mehr als nur theoretischen Interesse. Sie ist z.B. ein wesentlicher Teil des schizophrenen Dilemmas. Wenn schizophrenes Verhalten unabhängig von ätiologischen Überlegungen beobachtet wird, so hat es den Anschein, als versuche der Patient, nicht zu kommunizieren. Da aber selbst Unsinn, Schweigen, Absonderung, Regungslosigkeit (Haltungsschweigen) oder irgendeine andere Form der Verneinung oder Vermeidung von Kommunikation ist, steht der Schizophrene vor der fast unmöglichen Aufgabe, jede Mittelung zu vermeiden und gleichzeitig zu verneinen, dass sein Verneinen selbst eine Mitteilung ist (vgl. Abschnitt 6.444). Das Verständnis dieses grundsätzlichen Dilemmas ist ein Schlüssel zu so manchen Erscheinungsformen schizophrener Kommunikation, die sonst unverständlich bleiben würden. Da jede Kommunikation, wie noch gezeigt werden soll, eine Stellungnahme bedeutet und der jeweilige Sender damit seine Definition der Beziehung zwischen sich und dem Empfänger zum Ausdruck bringt, darf angenommen werden, dass der Schizophrene eben diese Stellungnahme dadurch zu vermeiden trachtet, dass er versucht, nicht zu kommunizieren. Ob dies in einem kausalen Sinn sein Grund ist, bleibt natürlich unbeweisbar; dass es die Wirkung schizophrenen Verhaltens ist, soll in Abschnitt 3.2 behandelt werden.

2.24 Aus dem oben Gesagten ergibt sich ein metakommunikatives Axiom: Man kann nicht nicht kommunizieren.

2.3 Die Inhalts- und Beziehungsaspekte der Kommunikation

2.3.1 Wenn man unterscheidet, was jede Mitteilung enthält, so erweist sich ihr Inhalt vor allem als Information. Dabei ist es gleichgültig, ob diese Information wahr oder falsch, gültig oder ungültig oder unentscheidbar ist. Gleichzeitig aber enthält jede Mitteilung einen weiteren Aspekt, der viel weniger augenfällig, doch ebenso wichtig ist – nämlich einen Hinweis darauf, wie ihr Sender sie vom Empfänger verstanden haben möchte. Sie definiert also, wie der Sender die Beziehung zwischen sich und dem Empfänger sieht, und ist in diesem Sinn seine persönliche Stellungnahme zu Anderen. Wir finden somit in jeder Kommunikation einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt.
Einige Beispiele mögen zum besseren Verständnis dieser Aspekte beitragen. In abstrakter Form sind sie die Grundlage folgender Denkaufgabe:
Ein Mann wird von zwei Wachen in einem Raum gefangen gehalten, der zwei Ausgänge hat. Beide Türen sind geschlossen, aber nur eine ist zugesperrt. Der Gefangene weiß ferner, dass einer seiner Wächter stets die Wahrheit sagt, der Andere dagegen immer lügt. Welcher der beiden aber der Lügner ist, weiß er nicht. Seine Aufgabe, von deren Lösung seine Freilassung abhängt, besteht darin, durch eine einzige Frage an einen der beiden Wächter herauszufinden, welche der beiden Türen nicht versperrt ist.
(3)


1) Hierzu wäre noch zu bemerken, dass man Dialoge auch in seiner Phantasie (also mit seinen Introjekten) haben kann, mit seinen Halluzinationen (15) oder mit seiner Existenz (vgl. Abschnitt 8.3). Möglicherweise gehorchen diese inneren Kommunikationsabläufe denselben Regeln, denen die zwischenmenschliche Kommunikation unterworfen ist; solche objektiv unbeobachtbare Phänomene liegen aber außerhalb unseres Definitionsrahmens.
2) Luft (97) hat in diesem Zusammenhang hochinteressante Untersuchungen darüber ausgeführt, was er „soziale Reizeinschränkung („social stimulus depriration) nennt. Er ließ zwei einander unbekannte Personen in einem Zimmer Platz nehmen, so dass sie sich gegenseitig sahen, und wies sie an, nicht miteinander zu sprechen oder in irgendeiner Weise zu kommunizieren. Die anschließenden Befragungen ergaben, dass die Versuchsperson diese Situation als große Belastung empfunden hatten. Jeder von ihnen hatte, so führt Luft aus, ... vor sich den anderen Menschen und dessen ununterbrochenes, wenn auch stark eingeschränktes Verhalten. Unserer Ansicht nach findet in dieser Situation eine wirkliche zwischenmenschliche Auseinandersetzung statt, und nur ein Teil dieser Auseinandersetzung dürfte sich bewusst abspielen. So. z.B., wie reagiert der Andere auf die eigene Gegenwart und die kleinen Ausrucksbewegungen, die man ihm gegenüber zeigt? Findet ein fragender Blick eine Antwort, oder wird er kalt abgewiesen? Verrät die Körperhaltung des anderen Spannung und damit Unbehagen über die Konfrontierung? Wird er zusehends entspannter und drückt damit Wohlwollen aus, oder behandelt er einen, als existierte man gar nicht? Diese und viele andere Verhaltensformen lassen sich beobachten...
3) Lösung: Der Mann deutet auf eine Tür und fragt eine der Wachen (wobei es gleichgültig ist, auf welche Tür er zeigt und welche Wache er fragt): „Wenn ich Ihren Kameraden fragen würde, ob diese Tür offen ist, was würde er sagen?“ Lautet die Antwort „nein“, so ist diese Tür offen, wenn „ja“, so ist sie zugesperrt.