Fliesstext Gesellschaftliche Kommunikation

 

 
Gesellschaft aus soziologischer Sicht
 
Seit die Menschen über sich selbst nachdenken, haben sie einen Gegensatz zwischen dem Individuum und der Gesellschaft bzw. der sozialen Gemeinschaft erlebt. Auf der einen Seite steht der einzelne, durch seine biologische Ausstattung und seine individuellen Wünsche bestimmte Mensch und auf der anderen Seite 'die' Gesellschaft als normgebende Kraft. Die verschiedenen philosophischen und später auch die soziologischen und politologischen Schulen unterscheiden sich immer auch dadurch, wie sie diesen Dualismus behandeln.
Spätestens seit dem 19. Jahrhundert ist die Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft in der theoretischen Diskussion grundsätzlich in Zweifel gezogen worden. "Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen", schrieb Karl Marx in den 'Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie' in den Jahren 1857/8. (Nachdruck: Frankfurt/Wien o.J., S. 176) Das Wichtige an der Gesellschaft sind also dem Ökonomen, dem Soziologen und vielen Politikern nicht die Individuen, sondern die Beziehungen zwischen ihnen oder anders ausgedrückt: Die Elemente des Gesellschaftssystems sind Relationen. Diese Modellierung hat zur Emanzipation der Ökonomie von den individuellen Bedürfnissen, Motiven usw., wie sie die Psychologie beschreibt, beigetragen. Aber dieser theoretische Differenzierungsprozeß löst natürlich das Problem des Zusammenwirkens von Individuen und Gesellschaft, Psychischen und Sozialen, Ich und Über-Ich etc. nicht.
Auch alle anderen Sozialsysteme bauen sich aus Beziehungen auf. Wie unterscheidet sich also das Gesellschaftssystem von den anderen Typen sozialer Systeme, von einfachen Interaktionssystemen, von sozialen Schichten, von Institutionen usf. ? Talcott Parsons (1902-1979) hat in seinem Buch 'Gesellschaften' eine Idee aufgenommen, die sich bis auf den großen griechischen Denker Aristoteles zurückverfolgen läßt: "Eine Gesellschaft ist ein Typus des Sozialsystems innerhalb eines Universums sozialer Systeme, welches als System den höchsten Grad der Selbständigkeit in Bezug auf sein Milieu erreicht." (Frankfurt 1975, S. 19) Der Unterschied wird also in der Beziehung System: Umwelt gesehen. Natürlich müssen alle sozialen Systeme zu ihrer Umwelt Beziehungen aufbauen, die 'Gesellschaften', so nimmt Parsons an, grenzen sich von dieser Umwelt am radikalsten ab, haben, wenn man so will, keine positiven sondern nur negative Umweltkontakte.
Dieser Gedanke wird von Niklas Luhmann aufgenommen: "Es muß in der Soziologie einen Begriff geben für die Einheit der Gesamtheit des Sozialen - ob man dies nun (je nach Theoriepräferenz) als Gesamtheit der sozialen Beziehungen, Prozesse, Handlungen oder Kommunikationen bezeichnet. Wir setzen hierfür den Begriff der Gesellschaft ein. Gesellschaft ist demnach das umfassende Sozialsystem, das alles Soziale in sich einschließt und infolgedessen keine soziale Umwelt kennt. Wenn etwas Soziales hinzukommt, wenn neuartige Kommunikationspartner oder Kommunikationsthemen auftauchen, wächst die Gesellschaft mit ihnen." (Soziale Systeme. Frankfurt 1984, S. 555) An anderer Stelle formuliert er: Die Gesellschaft ist "das umfassende soziale System aller aufeinander bezugnehmenden Kommunikationen". (Ökologische Kommunikation. Opladen 1986, S. 24)
Demnach hätte Gesellschaft als Umwelt nur noch ganz andere Systemtypen, etwa die Technik, biogene und psychische Systeme. Intern wäre sie aus anderen Typen von sozialen Systemen (einfachen und organisierte Sozialsysteme) aufgebaut.
Diese Definition ist ein Kind unserer Zeit. Hinter ihr steht der Gedanke einer Weltgesellschaft, also die Idee, daß wir durch die verschiedensten Mechanismen global miteinander verbunden sind. Vielleicht überschätzt eine solche Überzeugung die globale Vernetzung im Augenblick doch noch.
Im politischen Alltag wird die Weltgesellschaft noch eher als Vernetzung von vielen kleineren Gesellschaften/Staaten/Nationen verstanden und gestaltet. Wir haben es nicht mit einer einzigen, sondern mit vielen Gesellschaften zu tun, deren Autonomie einschließlich ihrer territorialen Grenzen zu respektieren ist. Ausdruck dieses Konzepts war der 'Völkerbund' und sind die 'Vereinten Nationen'. In beiden Fällen muß die prinzipielle Gleichheit der Elemente, also der verbündeten Staaten anerkannt und praktisch verwirklicht werden. (Segmentäre Differenzierung) Die relevante Umwelt der Gesellschaften sind dann jeweils die anderen Staaten/Nationen. Zu ihnen kann entweder ein positives Kopplungsverhältnis (Bündnispartner) oder ein negatives Abgrenzungsverhältnis aufgebaut werden. 'Friedliche Koexistenz' lautete das Netzwerkideal nach dem zweiten Weltkrieg.
Mittlerweile verliert dieses Ideal rasant an Anziehungskraft. Statt 'Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten' der autonomen, nebeneinander bestehenden Staaten wird mit oder ohne Einverständnis der verschiedenen Koordinationsgremien (UN, EU, etc.) unter Verweis auf 'globale Interessen', die 'Menschenrechte' u. a. interveniert.
Zunehmend findet diese Einmischung auf allen Ebenen statt: militärisch, humanitär, finanzpolitisch, sozial- und gesundheitspolitisch usf.. Erfolgt sie nicht als eine Krisenintervention sondern nach einem abgestimmten Programm, spricht man lieber von 'Integration'. Ein Musterbeispiel ist hier natürlich der gegenwärtige Vollzug des Abkommens von Maastricht in Europa. Seine Konsequenz ist eine Verringerung der Autonomie der ursprünglich völlig selbständigen Mitgliedsstaaten. Dies führt zu innenpolitischen Diskussionen, die selbst wiederum unmittelbare Konsequenzen für die Beziehung zu den anderen Ländern haben. Innen- und Außenpolitik lassen sich kaum mehr auseinanderhalten.
Wenn die Vorstellung einer Weltgesellschaft als Vernetzung nationaler Staaten unzureichend und unzeitgemäß wird, als Netzwerk welcher Typen sozialer Systeme läßt sie sich dann auffassen? Und weiterhin: Welcher Art soll die Vernetzung/interne Differenzierung sein? Nach welchen Prinzipien soll die Zusammenarbeit gesteuert werden?
Um die Beantwortung dieser Fragen geht es in der gegenwärtigen Diskussion um die 'globale Informationsgesellschaft'. Die Meinungen gehen schon darin auseinander, ob man von der globalen Informationsgesellschaft im Singular überhaupt sprechen kann, oder ob man von einer Vielzahl unterschiedlicher Informationsgesellschaften reden sollte. Mit der Betonung verschiedener Modelle von Informationsgesellschaften geht immer auch der Anspruch eines selbständigen Entwicklungsganges und einer mindestens relativen Autonomie einher: Die europäische Informationsgesellschaft setzt andere Akzente als die amerikanische, die südostasiatische usf..
Die Bestimmung der tragenden Elemente des Netzwerks 'Informationsgesellschaft', also die Entscheidung für den einen oder den anderen Typ interner Differenzierung, hat in jedem Fall enorme politische Konsequenzen. Beispielsweise geht es um die Verlagerung staatlicher Machtbefugnisse auf andere soziale Organisationsformen, etwa supranationale Instanzen, wie dem Europarat, den verschiedenen Gremien der Vereinten Nationen oder aber auf multinationale Konzerne, Verbände, Gruppen wie 'Greenpeace' usf.. Je nachdem, welche Subsysteme als paradigmatisch angesehen werden, treten auch gegensätzliche Steuerungsmodelle in den Vordergrund. Sehr deutlich hat sich das in der Diskussion um die Selbstbeschreibung der europäischen Union (EU) gezeigt. Solange sie sich vorrangig als Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) verstand, ließ sich die dominante Rolle des Marktes als Steuerungselement in jedem einzelnen Land und die politische Verhandlung als Koordinationsinstanz kaum bezweifeln. Nach der Stärkung der Macht von Gemeinschaftseinrichtungen, wie dem Europarat und seinen Kommissionen haben sich neue bürokratische (hierarchische) Entscheidungs- und Verwaltungsstrukturen herausgebildet. Wenn sich die EU nun augenblicklich zunehmend als 'Gemeinschaft von Menschen und Organisationen' versteht, und sie letztere nicht nur als kommerzielle Unternehmen interpretiert, dann verringert sich die Bedeutung der traditionellen staatlichen Politiksysteme ebenso, wie jene der marktwirtschaftlichen Regulationsprinzipien.
Non-Profit Organisationen haben sich ja gerade herausgebildet, weil bestimmte soziale Aufgaben, wie z. B. Naturschutz, (sportliche) Freizeitgestaltung, Gesundheitsvorsorge, Kinder- und Altenbetreuung usf. weder durch marktwirtschaftliche noch durch staatliche Organisations- und Steuerungsformen befriedigend lösen ließen. Es wäre widersinnig, ein Sozialsystem, das sich als Vernetzung von Selbsthilfegruppen, gemeinnützigen Dienstleistungsbetrieben, Verbänden usw. versteht, dominant bürokratisch - hierarchisch oder durch den freien Markt und Preise steuern zu wollen.

 
Steuerungsformen von Gesellschaften

 
Diese Veränderungen sind der Haupthintergrund für die seit 20 Jahren in der Politik, Wissenschaft und Soziologie anhaltende Diskussion über die Notwendigkeit und Struktur neuer gesellschaftlicher Steuerungsinstrumente. Traditionellerweise hat man nur zwischen dem Markt oder der Wahldemokratie einerseits und der Hierarchie im Sinne einer bürokratischen, organisierten Steuerungsform andererseits unterschieden. Als neue Begriffe tauchten dann spätestens in den 70er Jahren gehäuft Konzepte wie 'Verhandlung', einvernehmliche Vertragsgestaltung, Solidarität, autonome Netzwerke oder 'Policy-Netzwerke' auf. Das nebenstehende Schema, das ich aus Helmut Willke: Systemtheorie III: Steuerungstheorie, Stuttgart 1998, S. 88 entnommen und um einige Positionen ergänzt habe, faßt die bemerkenswert ähnlichen Vorstellungen der letzten Jahrzehnte zu den gesellschaftlichen Steuerungsmodellen zusammen.

Übersicht: Vorschläge für die Unterscheidung der Steuerungsformen
 

Autor Haupt Formen dritte Form vierte Form
Dahl, Lindblom 1953 Hierarchie Markt Verhandlung Polyarchie
Williamson 1975 Hierarchie Markt    
Williamson 1985 Hierarchie Markt relationaler Vertrag  
Lindblom 1977 Politik (Staat) Markt Überredung  
Ouchi 1980 Hierarchie Markt Clan (Solidarität)  
Kaufmann 1983 Hierarchie Markt Solidarität  
Offe 1984 Staat Markt Solidarität  
Streek, Schmitter 1985 Staat Markt Solidarität (community) Verbände (associations)
Hegner 1986 Hierarchie Markt Solidarität  
Traxler, Vobruba 1987 Zwang Tausch Solidarität  
Scharpf 1993 Hierarchie Markt Verhandlungs- Systeme  
Mayntz 1993 Hierarchie Markt Policy- Netzwerke  
Nonaka, Takeuchi 1995 Bürokratie
Hierarchie
Partizipation Hypertext- Organisation  
Willke 1998 Hierarchie Demokratie Netzwerke  
Luhmann Organisierte Sozialsysteme Gesellschaften Einfache Sozialsysteme  
Castells 1996 organization market network enterprise/ society  
         
 
Das hierarchische Steuerungsmodell haben wir am Beispiel der Institution schon beschrieben. Es setzt auf "Fremdorganisation, Zentralisierung, hierarchisierte Intelligenz, Beschränkung der Autonomie der Teile, Top-Down Planung als Form der Setzung von Entscheidungsprämissen, Blockierung der Reversibilität der Entscheidungen und insbesondere auf die formalisierte Ungleichheit der Mitglieder auf den unterschiedlichen Ebenen". (Willke 1998 a.a.O., S. 41)
"Der Markt läßt sich demgegenüber als ein abstraktes, soziales Steuerungssystem betrachten, das den Vorzug hat, ohne zentrale Regelungen auszukommen, um im Sinne maximaler Gleichheit und Gerechtigkeit allen Menschen - ohne Ansehen der Person - Gelegenheit zu Interaktion und Teilhabe zu geben." (Gerd Wiendieck: Teildisziplinen der Wirtschaftspsychologie in: WISTH 12, 1986, S. 614-620 hier S. 617). Ähnlich H. Willke: "Der Markt läßt sich verstehen als 'demokratisches' Modell eines Güteraustausches ('1 Mark=1 Stimme'), der von den Rücksichten auf Stand und Klasse, Moral und Religion, Familie und Freundschaft befreit und nach dem Prinzip 'Eine Person eine Stimme' (bei der Bildung des Preises) organisiert ist. Demokratie läßt sich verstehen als Markt für politische Herrschaft, strukturiert nach dem Prinzip 'Eine Person eine Stimme' (bei der Bildung politischer Repräsentation). Auf diesem Markt konkurrieren 'politische Unternehmer' um Anteile an der Übertragung öffentlicher Macht (Schumpeter)." (Ebd. S. 41)
Markt und Demokratie sind sich in ihren selbstorganisierenden, dezentralen, reversiblen Entscheidungsprinzipien und in der "formalen Gleichheit der Entscheider/Nachfrager/Konsumenten/Wähler ähnlich." Zugleich sind beide Formen charakterisiert durch Kurzfristigkeit der Entscheidungslogik, Diffusität der Verantwortlichkeit, Anfälligkeit für Stimmungen, Moden, Trends und massenmediale Werbung und insbesondere eine immanente, schwer kontrollierbare Selbstgefährdung durch organisationale Verdichtung und Markt-Machtbildung, die das konstituierende Prinzip des freien Wettbewerbs untergräbt." (Willke, ebd. S. 40)
Gänzlich unklar ist augenblicklich in der wissenschaftlichen Diskussion noch, ob sich die dritte Form gesellschaftlicher Steuerung aus der Kombination von Markt und Hierarchie ergibt oder ob es sich hierbei um eine grundsätzlich andere, eigenständige Steuerungsform handelt. Diese Frage ist für die politische Diskussion über die Zukunft der Informationsgesellschaft durchaus von praktischer Bedeutung. Letztlich geht es nämlich darum, ob man mit den bekannten marktwirtschaftlichen und bürokratischen Prinzipien - bzw. mit deren Kombination - auskommt oder ob gänzlich neue Formen politischer Steuerung gebraucht werden. Manuel Castells nennt sein (gegenwärtig wohl umfasssendstes Werk) zur Informationsgesellschaft typischerweise 'The Rise of Network Society'. (Cambridge/Oxford 1996). Die Informationsgesellschaft erscheint ihm als Netzwerkgesellschaft und diese wiederum als eine 'new organizational form', genauso neu nämlich wie die elektronischen Informationstechnologien. (ebd. S. 171) Über die genauen Steuerungsformen der Netzwerkorganisation gibt es zwischen den verschiedenen Autoren augenblicklich noch keinen Konsenes. Zunächst einige repräsentative Vorschläge:
In ihrem Aufsatz "Modernisierung und die Logik von interorganisatorischen Netzwerken" in (Journal für Sozialforschung 1992, Heft 32, S. 19-32) faßt Renate Mayntz die Spezifik von Verhandlungssystemen wie folgt zusammen: "Verhandlungssysteme werden stabilisiert, wenn es Regeln gibt, die bei der Definition annehmbarer Kompromisse behilflich sein können. .... Diese Regeln mögen sich an einem fairen Austausch orientieren, an Reziprozität oder an einer gerechten Verteilung von Kosten und Nutzen einer gemeinsamen Entscheidung (oder einer bestimmten Problemlösung); in jedem Fall verlangen sie grundsätzlich jedem Teilnehmer eine freiwillige Beschränkung seiner Handlungsfreiheit ab, indem er die möglicherweise divergierenden Interessen anderer Teilnehmer sowie die Auswirkungen der jeweils eigenen Handlungen auf sie berücksichtigt.... Aber noch mehr ist im Spiel. Dort, wo eine begrenzte Zahl korporativer Akteure in einem bestimmten Bereich - einem Politiksektor, einem Wirtschaftszweig, einem technologischen Gebiet - sich stillschweigend auf die Einhaltung von Regeln geeinigt haben, welche die Reichweite für willkürliche und egoistische Handlungen begrenzen, kann sich ein Muster von gegenseitig akzeptierten organisatorischen Identitäten, Kompetenzen und Interessensphären entwickeln." (S. 27f)
"Soziale Netzwerke beschreiben ein qualitativ neuen Interaktionstypus, der sich von den bekannten Typen marktförmiger Transaktionen bzw. hierarchischer Koordination deutlich abgrenzen läßt. Vernetzung meint die vertrauensvolle Kooperation sozialer Akteure, die zwar autonome Interessen verfolgen, jedoch ihre Handlungen mit denen anderer Akteure derart koppeln, daß der Erfolg ihrer Strategien vom Erfolg ihrer Partner (und damit vom Funktionieren ihrer Kooperationsbeziehung) abhängt."
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[1] Johannes Weyer: Kooperation als Strategie des Komplexitätsmanagements. In: H. W. Ahlemeyer/Roswita Königswieser: Komplexität managen: Strategien, Konzepte und Fallbeispiele. Frankfurt 1997, S. 195 - 306, hier S. 297.