Fliesstext Soziale Kommunikation: Überblick und Strukturen der interpersonellen Kommunikation

 

 

Überblick
 
In den Kommunikationswissenschaften ist es international üblich, verschiedene Kommunikationstypen zu unterscheiden. Dabei wird primär die strukturelle Dimension, also die Unterscheidung der Anzahl der Kommunikatoren und der Vernetzungstypus zum Ausgangspunkt der Klassifikation genommen. Üblich ist folgende Klassifizierung sozialer Kommunikation:
 

Typen sozialer Kommunikation

Interpersonal perception and interaction (verbal and nonverbal)
Communication in small groups (face-to-face)
Organizational communication
Public communication and mass media (one to many; oral, script, print, radio, television)
Telecommunication and Emerging Technologies
Intergroup communication
Cultural and intercultural Communications
Die Kommunikationswissenschaften in Deutschland legen seit Jahrzehnten ihren Schwerpunkt in die ‚Öffentliche Kommunikation' und bezeichnen sich zutreffend häufig als ‚Publizistik'. Wenn überhaupt, dann werden die anderen Bereiche als Teilgebiet der Psychologie, Soziologie, Sprachwissenschaften u. a. Disziplinen behandelt. Dies hat dazu geführt, daß eine integrative Kommunikationslehre praktisch nur individuell betrieben wird. Kulturelle Informationsverarbeitung, die ja immer erst durch das Zusammenwirken der verschiedenen Klassen von Kommunikation emergiert, kann kaum systematisch erfaßt werden.
 
Interpersonelle Kommunikation in einfachen Sozialsystemen
 
Einfache Kommunikationssysteme sind zu jedem Zeitpunkt voll (duplex) vernetzt.
Dies trifft bei sozialen Kommunikationssystemen praktisch nur auf face-to-face Zweiergespräche zu. Alfred Schütz nennt diese Konstellation deshalb 'ausgezeichnete Sozialbeziehung' und Jürgen Habermas spricht von der 'idealen Sprechsituation'.
Sobald mehr als zwei Personen miteinander reden, bilden sich naturwüchsig Präferenzbeziehungen: Es redet nicht jeder mit jedem - und schon gar nicht gleich häufig - und manche Beziehungen bleiben einseitig. Die entstehenden Vernetzungstypen bei Mehrpersonensystemen sind von Soziologen und Sozialpsychologen zum Ausgangspunkt für ihre soziometrischen Untersuchungen und Interpretationen gemacht worden.
Aber selbst bei den von den Soziologen als ‚einfach' bezeichneten Interaktionssystemen zeigen genauere Analysen erhebliche Unterschiede.
"Als Interaktion soll dasjenige Sozialsystem bezeichnet sein", schreibt Niklas Luhmann, "das sich zwangsläufig bildet, wann immer Personen einander begegnen, d. h. wahrnehmen, daß sie einander wahrnehmen und dadurch genötigt sind, ihr Handeln in Rücksicht aufeinander zu wählen." (Schematismen der Interaktion; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 31, 1979: 237-255, hier S. 237) Der Ausdruck 'Begegnung' verweist auf die Arbeiten von Ervin Goffman ('Encounter'), der sich mit dem dynamischen Aspekt der wechselseitigen Abstimmung von Wahrnehmung und Handlung beschäftigt. (Vgl. z. B.: Interaktion - Spaß am Spiel. München 1973, zuerst Englisch 1961) Interaktion bezeichnet in dieser Tradition also mehr als die bloße Verknüpfung von Handlungen. Dieses Problem wird von Soziologen eher als Kooperationsproblem bezeichnet. Es geht bei der Interaktion daneben auch immer um die wechselseitige Wahrnehmung und die Nutzung der dabei gewonnenen Informationen für die Planung des eigenen Verhaltens. Interaktion liegt vor, wenn das Handeln von A orientierungsbestimmend für B ist, von B also als Reiz für seine Reaktion genommen wird und umgekehrt. (Vgl. die Um-zu-und die Weil-Motive der Handlungsverkettung bei A. Schütz). Dies setzt eine 'binäre Schematisierung' von Verhalten und Erleben voraus: Wenn A handelt nimmt B A's Handeln wahr und umgekehrt. (Vgl. N. Luhmann: Einfache Sozialssysteme. In: Zeitschrift für Soziologie 1, 1972, S. 51-65)
Man handelt also in der 'echten' Interaktion nicht gleichzeitig sondern nacheinander - aber man erhebt gleichzeitig. Dies läßt sich in vielen Sportarten, in denen, wie etwa beim Tennis, die Aktivität regelhaft zwischen A und B abwechselt, deutlich sehen. Das Paradebeispiel ist allerdings der Sprecherwechsel in Zweiergesprächen: Indem wir eine Bemerkung zu unserem Gegenüber machen, reizen wir ihn zu einer Reaktion, z. B. auf unser Beziehungsangebot einzugehen oder aber es abzulehnen. Unsere Erwiderung zeigt mehr oder weniger deutlich, ob wir mit der Reaktion auf den Reiz einverstanden sind oder nicht. Und natürlich kann unsere Erwiderung vom Gegenüber auch wieder als Reiz interpretiert werden usf.
Diese Verkettung gibt uns übrigens die Möglichkeit, aus dem Verhalten unseres Gegenübers etwas über uns selbst zu erfahren. Sein Verhalten ist ja Reaktion auf das unsrige. Wir nutzen den anderen als einen Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können.
Natürlich ist es auch möglich, daß ein Wechsel weniger zwischen Wahrnehmung und Handlung als vielmehr zwischen verschiedenen Formen von Handlungen (bzw. Wahrnehmungen) stattfindet: A schmiedet mit dem kleinen Hammer, B mit dem großen, A mit dem kleinen usf., immer im Wechsel auf das gleiche Werkstück. Echte Interaktion setzt bei instrumentellen wie bei sozialen Tätigkeiten voraus, daß die Beteiligten Unterschiedliches tun, aber sich zugleich immer auch wahrnehmen, um das Handeln aufeinander abstimmen zu können. Dieses Zusammenspiel von Unterschieden und Gemeinsamkeiten gelingt nicht immer und nicht allen Personen. Das gemeinsame Durchsägen eines Baumstamms, das nach altem Brauch von Brautpaaren gefordert wird, erweist sich vor diesem Hintergrund als kluger Test für die Fähigkeit des Paares, auf getrennten Wegen ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Wenn A zieht, muß B nachgeben. Erschwerend kommt für die meisten Menschen in unserer Zeit bei dieser Interaktionsform noch hinzu, daß die Wahrnehmung weniger visuell als vielmehr taktil erfolgen muß, um die jeweils günstigsten Stellen der Turn-Übergabe zu finden. Man spürt in den Händen, wann es Zeit ist, selbst ziehend in Aktion zu treten und die Bewegungsrichtung damit umzukehren.
Vergleichsweise einfach erscheint demgegenüber die soziale Verknüpfung gleichartiger Tätigkeiten zu sein: Das gemeinsame, ruckartige Heben/Ziehen schwerer Lasten; gemeinsames Rudern; im Gleichschritt marschieren usf. Hier muß der gleiche Rhythmus gefunden werden, was sich durch Taktzeichen: Hau-ruck-Signale, Singen oder auch durch Zeichen Dritter, z. B. des Steuermanns beim Rudern erleichtern läßt.
Symmetrische Interaktion, die also nach dem Prinzip 'Mehr vom Selben' verfährt, kann u. U. zum Durchdrehen von Systemen führen und somit deren Bestand gefährden. Gregory Bateson spricht von 'Symmetrischen Eskalationen' wenn sich die Interaktion im Kreise dreht, nach dem Turn-Taking jeweils wieder das gleiche Muster einsetzt. Verkettungen dieser Art dürfte jeder kennen:
'Ich ziehe mich von dir zurück, weil du nicht offen mit mir redest'. Der andere erwidert dann: 'Ich rede nicht offen mit dir, weil du so weit weg von mir bist'. Der erste wird vermutlich erwidern: 'Ich bin so weit weg, weil du dich mir verschließt' usw. Solche symmetrischen Eskalationen bedeuten immer auch einen Machtkampf - und damit das Gegenteil von einer komplementären Ergänzung der Rollen.
Komplexe Turn-Taking-Strukturen sind dadurch gekennzeichnet, daß sich zugleich (wenn es sich um Mehrpersonen-Systeme handelt) oder in gewissen zeitlichen Abständen (bei dyadischen Systemen) sowohl symmetrisch als auch komplementäre Interaktion ereignet. Ein typisches Beispiel solcher 'konzertierter' Mehrpersonen-Interaktion ist ein Orchester, in dem viele gleiche Instrumente spielen aber auch ein Wechsel zwischen den Instrumenten stattfindet. Typischerweise werden solche Konzerte von einem Dirigenten geleitet, dessen wesentlichen Aufgabe in der Vorgabe der Turn-Taking-Strukturen/des Rhythmus liegt.
 
Die Modifizierung der Strukturen der Interaktion durch Umwelteinflüsse
 
Die beschriebene 'echte Interaktion' der wechselseitigen Orientierung aneinander und des sequenzweisen Rollentausches ist natürlich ein idealtypisches Modell. Es lebt von der Annahme, das die Interaktionsbeteiligten sich jeweils nur an dem anderen bzw. an dessen Handeln und/oder Erleben orientieren. Aber selbstverständlich orientieren sie sich auch an ihren eigenen (psychischen) Plänen und an den Normen derjenigen größeren Sozialsysteme, in die sie eingebettet sind: Institutionen, Gruppen, Gesellschaftssysteme.
Obwohl bedeutende Soziologen wie etwa etwa Alfred Schütz und Talcott Parsons die dyadische face-to-face Interaktion als Urzelle und Prototyp sozialer Interaktion betrachtet haben, wiesen sie auf diesen Sachverhalt immer wieder hin: 'A dyade always presupposes a culture shared in a wider system', schrieb Parsons in seinem Artikel 'Social Interaction' (in: International Enzyclopedia of Social Sciences, hrsg. v. D. Shils, Band 7, New York 1968, S. 429 - 441, hier S. 437)
Mit jedem einfachen Sozialsystem interferieren die kulturellen Normen, andererseits braucht jede Institution und auch jedes Gesellschaftssystem einfache Sozialsysteme als relevante Umwelt. Moderner ausgedrückt: Soziale Phänomene emergieren auf unterschiedlichen Ebenen und lassen sich deshalb auch zugleich in verschiedene Systemklassen einordnen.
Die Interferenz zwischen psychischen und einfachen Sozialsystemen haben E. E. Jones und H. B. Gerard in einer später viel zitierten Untersuchung zur Unterscheidung von vier Interaktionsniveaus angeregt. (Foundations of Social Psychology. New York 1967. Vgl. auch Ursula Piontkowski: Psychologie der Interaktion. München 1976, S. 10ff)
Im Gegensatz zu den soziologischen Interaktionsmodellen sieht deren idealtypisches Modell dyadischer Interaktion vor, daß sich A und B sowohl aneinander als auch an ihren je eigenen (psychischen) Programmen orientieren. Ist dieser Fall gegeben - was wohl voraussetzt, daß soziale und individuelle Programme übereinfallen - sprechen sie von 'wechselseitiger Kontingenz'. Die anderen Typen entstehen, wenn von dieser Vollform in die eine oder andere Richtung abgewichen wird. Bei der sogenannten 'Pseudokontingenz' sind die Reaktionen der Interaktionspartner jeweils ausschließlich durch die eigenen psychischen Programme geprägt. Man kann sich das so vorstellen, daß beide Beteiligten von vornherein ein bestimmtes Ziel bei der Interaktion im Auge haben und versuchen dieses, ohne Rücksicht auf den anderen durchzusetzen.
Von 'asymmetrischer Kontingenz' wird gesprochen, wenn jeweils ein Interaktionspartner sich an seinem Programm orientiert, während der zweite interaktiv reagiert.
'Reaktive Kontingenz' soll vorliegen, wenn beide Interaktionspartner sich in ihrem Verhalten jeweils von den Reizen des anderen treiben lassen. Als Beispiel werden hier Paniksituationen genannt, in denen die Orientierung am Fluchtverhalten anderer zum individuellen Kontrollverlust führt. Die nachstehende Abb. 29 stellt die 4 Typen schematisch dar.
 
Ich halte die Verknüpfung von psychischen und sozialen Faktoren in einem Modell wie dies Jones/Gerard und die meisten anderen 'Sozialpsychologen' vorschlagen, für wenig hilfreich. Selbst die pseudokontingente Interaktionsbeziehung setzt voraus, daß Sprechen und Zuhören bei den Beteiligten einander abwechseln. Es scheint mir günstiger, die beiden Systeme getrennt zu modellieren und dann ihre Interferenz jeweils empirisch zu beobachten.
Vermutlich nehmen wir alle im Alltag das idealtypische Modell wechselseitiger Orientierung zum Ausgangspunkt und schreiben dann die Abweichungen den Personalsystemen der Beteiligten (oder anderen interferierenden Sozialsystemen) zu: Wenn z. B. B zögert, seinerseits die Säge zurückzuziehen, wird A vermutlich annehmen, daß er abgelenkt ist, keine Kraft (mehr) hat, o. ä. Hier zeigt sich somit auch wieder, daß die Unterstellung sozialer Normalformen die Voraussetzung für die Aufdeckung persönlicher Merkmale ist.
Auch die Interferenz von organisierten Sozialsystemen und Gesellschaften mit einfachen Interaktionssystemen würde als Abweichung bemerkt. Immer ist in diesen Fällen das Ideal der wechselseitigen Orientierung und des rhythmischen Rollentauschs eingeschränkt.