Die Industrienationen erfanden den Markt als Vernetzungsmedium
für Informationen, die alten und neuen Massenmedien ermöglichten
interaktionsfreie Informationsverarbeitung im nationalen und internationalen
Maßstab, sie standardisierten die visuelle und akustische Wahrnehmung
sowie die logische Informationsverarbeitung so konsequent, dass sie sich
heute praktisch vollständig technisch simulieren lassen. Ihre kulturelle
Identität fanden die Industriegesellschaften in Europa als Buchkultur.
Nach 500jähriger beispielloser Erfolgsgeschichte zerbricht augenblicklich
das Bündnis zwischen Buchkultur und Industriegesellschaft. Die postindustriellen
Gesellschaften suchen nach einer Kommunikationskultur und Leitmedien,
die den veränderten Strukturen besser entsprechen. Die Antwort auf
die Frage, was nach und neben der Buchkultur kommen kann und soll wird
aber dadurch erschwert, das wir noch immer an den Idealen kleben, die
zur Modernisierung in der Neuzeit beitrugen: das sind vor allem Technisierung
als Problemlöser (Technovision) der Markt als Steuerungsinstanz (Marketvision)
und die gesellschaftliche Mystifizierung von Aufklärung, Wissen und
Alphabetisierung.
Eine Gesellschaft, die sich schon in der Post-Gutenberg-Ära wähnt
und Multimedialität erst vor kurzem zum Wort des Jahres erklärte,
sollte zu einer nüchternen Betrachtung der positiven und negativen
Auswirkungen der alten und neuen Massenmedien in der Lage sein. Eine bloße
Ersetzung der alten Printmedien durch elektronische Medien, eine Organisation
des Internets gemäß der marktwirtschaftlichen Prinzipien, nach
denen seit dem 16. Jahrhundert auch Informationen verbreitet werden, eine
bloße Verbesserung der ‘one to many’ Kommunikation durch
Onlinevernetzung, eine Übernahme der Wahrheitskriterien, die für
die Buchkultur entwickelt wurden, bringt keine wirklichen Innovationen.
Wenn das Informationszeitalter tatsächlich eine Wende
bringen soll, so wird es notwendig sein, die Ressourcen des Gespräches
als Integrationsinstanz für die vielfältigen Informationen,
die uns die verschiedenen technischen Medien zur Verfügung stellen,
zu entwickeln. Dies scheint jedenfalls eine Paradoxie der neuen und alten
Massenmedien zu sein. Je stärker sie unser gesellschaftliches Leben
durchdringen, umso größer wird die Notwendigkeit einer ganz
untechnisierten Abstimmungen im Gespräch. Je mehr wir von vernünftigen
Programmen umgeben sind, desto stärker greifen wir auf das Gefühl
als nichtsubstituierbare Instanz zurück. Je mehr wir uns mit den
Anforderungen einer nachhaltigen Gestaltung kultureller Netzwerke befassen,
desto mehr werden wir nach einer oder wahrscheinlich nach mehreren Erkenntnis-
und Kommunikationstheorien suchen müssen, die zum Verständnis
nicht bloß von monomedialer sondern eben von multimedialer und interaktiver
Informationsverarbeitung beitragen. Ohne eine Beschäftigung mit dem
Gespräch von Angesicht zu Angesicht zwischen mehreren Menschen bei
gemeinsamer Kooperation werden solche innovativen Modelle nicht zu gewinnen
sein.
Dialogische Vernetzungs- und Informationsverarbeitungsformen, rückkopplungsintensive
face-to-face Gespräche haben in den vergangenen 100 Jahren einen
gewaltigen Aufschwung genommen. Großgruppenveranstaltungen wie Open
Spayce und Zukunftswerkstätten, gruppendynamische Trainingslaboratorien,
generative Dialoge in Betrieben, Projektmanagement, Coaching und Supervisionen,
Arbeit mit kreativen Medien, z.B. im Rahmen des systemischen Managements,
all dies sind kulturelle Errungenschaften die einen Vergleich mit technischen
Erfindungen wie Rundfunk und Fernsehen nicht zu scheuen brauchen.
Wenn wir bei der Gestaltung der posttypographischen Informationsgesellschaft
also die eingefahrenen Gleise neuzeitlicher Technik und marktfixierter
Innovationsstrategien verlassen wollen, dann wird die rückkopplungsintensive
face-to-face Kommunikation eine wichtige Funktion bekommen. Allerdings
ist auch auf diesem Felde eine Überprüfung alter Ideale und
Mythen angesagt. Es geht weniger um das Zweiergespräch als vielmehr
um das Gruppengespräch.
Vom Zweier- zum Gruppengespräch
Wenn in den Sozial- und Kommunikationswissenschaften vom ‘Gespräch’
die Rede ist, dann stellte sich das Bild der Interaktion von zwei Personen
von Angesicht zu Angesicht ein. Als Prototyp gilt jene Gesprächssituation,
die von jeglicher Arbeit, allen instrumentellen Handlungen entlastet ist.
Man tauscht seine Gedanken mit Worten in geordneter Wechselrede aus. Erfolgreich
verläuft das Gespräch, wenn die beteiligten Personen mindestens
verstanden haben was der andere mit seinen Beiträgen meint.
Dieses Verständnis hat bei der Entwicklung des Modells ‘einfacher
Interaktionssysteme’ Pate gestanden. Kommunikation erscheint als
wechselseitiges Verstehen zweier psychischer Systeme nach dem Mechanismus
des Turn-Taking-Modells. Alle interaktionistischen Theorien in Soziologie
und Sozialpsychologie reduzieren letztlich die Komplexität zwischenmenschlicher
Kommunikationen auf solche Dyaden.
Obwohl diese Form des Gesprächs natürlich in unserem Alltag
vielfach vorkommt und immer für zahlreiche Zwecke seine Bedeutung
behalten wird, eignet es sich nicht als Vorbild für das Informationszeitalter.
Es reduziert zuviel Komplexität, erscheint eher als die Minimal-
denn als die Optimalform multimedialer sozialer Informationsverarbeitung.
Das Gespräch, das zur Steuerung der Informationsgesellschaft mit
all ihren technischen Medien und den vielen Subsystemen und Sinnwelten
notwendig ist muss die Grenzen einfacher Interaktion überschreiten
und als Gruppengespräch geführt werden. Diese Idee ist nicht
neu. Vor allem Kurt Lewin hat in den 40ger Jahren das Gruppengespräch
als Möglichkeit der Lösung sozialer Konflikte und des Erkenntnisgewinns
propagiert. (Die Lösung sozialer Konflikte – Ausgewählte
Abhandlungen über Gruppendynamik (hrsg. von Gertrud Weiss Lewin)
Bad Nauheim 1953, zuerst New York 1948) Die auf seinen Gedanken und auf
jenen von Jakob Levi Moreno fußenden gruppendynamischen Bewegung
hat in den letzten 50 Jahre große Erfahrungen über die Funktionsweise
von Gruppengesprächen gesammelt und zahlreiche Instrumente ihrer
Organisation und Selbstorganisation beschrieben. (Vgl. J. L. Moreno: Psychodrama
und Soziometrie. Hrsg. von Jonathan Fox, Köln 1989, zuerst New York
1987)
Komplexe Mehrpersonengespräche lassen sich nicht mehr zureichend
als einfache Interaktionssysteme begreifen. Zwar nutzen sie das System
der binären Schematisierung der Rollen (Sprecher/Hörer) und
der Aktivitäten (Sprechen/Zuhören) als grundlegendes Steuerungsprogramm,
aber daneben wird das Gruppengeschehen von den Beteiligten auch als ein
Marktplatz für ihre Meinungen angesehen und dann wieder zeitweise
straff hierarchisch organisiert. Es gibt also nicht nur binäre Schematismen
als Steuerungsformen.
Die Notwendigkeit von Arbeitsgruppengesprächen für die Entwicklung
moderner Wirtschaftsunternehmen wird in der Managementliteratur in letzter
Zeit häufig betont und sie ist auch aus empirischen Analysen wie
bspw. der eindrucksvollen Studie von Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi,
ableitbar. (Die Organisation des Wissens: Wie japanische Unternehmen eine
brachliegende Ressource nutzbar machen. Frankfurt 1997) Wissensschöpfung
im Unternehmen sei nicht möglich ohne den Dialog in der Gruppe. Während
die Stärken herkömmlicher bürokratischer Kommunikationsformen
eher in der Akkumulation und der Systematisierung von Wissen sowie in
der Weiterverbreitung von ausgearbeiteten Kenntnissen gesehen werden,
können in den Gruppengesprächen implizite Informationen kreativ
ausgenutzt und neues Wissen geschaffen und verbreitet werden. (ebenda
S. 183/84)
Eine weitere Vorstellung, die für das Gespräch in der Industriekultur
üblich war und die besser nicht als Programm mit in das Informationszeitalter
hinüber genommen werden sollte, ist jene der Entkopplung des Gespräches
aus den sozialen Handlungszusammenhängen und die Fixierung auf die
Sprache. Neben der Vernachlässigung der funktionalen Einbettung und
des Themenbezuges ist die nächst auffällige Idealisierung des
Gesprächs, die es zu überwinden gilt, die Unterschätzung
des Beziehungsaspekts. Jedes Gespräch erfordert die Herstellung und
Aufrechterhaltung einer Sozialbeziehung, die Regulation von Nähe
und Distanz. Themenbezug und Beziehungsklärung müssen wie dies
bspw. vom Ansatz der themenzentrierten Interaktion praktiziert wird (Ruth
Cohn) in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden. Die Berücksichtigung
des Interaktionsaspekts führt unter anderem zu der Einsicht das nicht
Jeder mit Jedem bzw. nicht Jede mit Jeder/Jedem sprechen kann und das
ganz allgemein die Bildung von größeren Gesprächssystemen
ein längeres ‘Warming up’ benötigt, um überhaupt
mit der thematischen Arbeit beginnen zu können. Das ideale Gespräch,
wie es die Buchkultur propagierte, konnte sich demgegenüber praktisch
voraussetzungslos zu jeder Zeit ad hoc in Gang setzen. Die Gesprächsteilnehmer
brauchten sich nicht kennen zulernen, es war keine gemeinsame Geschichte
erforderlich. Natürlich weiß jeder aus der Erfahrung dass genaue
diese Annahme zum Scheitern von Kommunikation führt. Gruppengespräche
besitzen eine historische Dimension und man kann sie nur in seltenen Fällen
ungestraft vernachlässigen.
Im krassen Widerspruch zur Bedeutung des Gruppengesprächs steht unser
Wissen über seine Strukturen und ‘Betriebsweisen’. Über
die Funktionsweise der elektronischen und der psychischen Informationsverarbeitung
besitzen wir jedenfalls weit genauere Vorstellungen als über die
kooperative Informationsverarbeitung in Gruppen. Aber vielleicht sollte
man hier genauer formulieren: ‘Objektives’ Wissen im Sinne
der neuzeitlichen beschreibenden Wissenschaft fehlt uns. Als Beteiligte
in der alltäglichen Praxis dagegen sind wir oftmals gut in der Lage,
die Aufgaben zu erfüllen. Wir ähneln in soweit dem Handwerker,
der seine Kunstfertigkeit täglich mit seinem Produkt unter Beweis
stellt, aber uns nicht sagen kann, wie genau er sein Ziel erreicht hat.
Diese Parallele lässt sich in einer sozialhistorischen Perspektive
noch weiter verfolgen. Ähnlich wie die Technisierung in der frühen
Neuzeit durch die Reflektion der Künste der Handwerker und deren
Beschreibung und Veröffentlichung in Büchern angeschoben wurde,
so setzt auch die Optimierung des Gesprächs in der Gegenwart die
Reflexion von professionellen Interaktionen voraus. Es geht zunächst
weniger um die Schaffung von neuem Wissen als zunächst vielmehr um
die Transformation der vorhanden unbewussten Programme in eine Form, die
ihre Übertragung auf andere Bereiche, ihre Kombination mit anderen
Programmen und die Möglichkeiten zu einer abgekürzten Anleitung
erleichtert. Es geht um Versprachlichung und Systematisierung latenter
professioneller Routinen. Hier liegt ein weites Aufgabenfeld für
die Kommunikationswissenschaft. Die Zeit drängt, dieses Feld nicht
allein anderen Disziplinen und Professionen zu überlassen. Allerdings
erfordert dies von den Kommunikations- und Medienwissenschaftlern, die
einseitige Orientierung an interaktionsarmer Massenkommunikation aufzugeben
und die Aufmerksamkeit auch auf die Struktur und Dynamik rückkopplungsintensiver
Gruppengespräche zu richten.
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