Aufsatz Die Modernisierung der Informationsgesellschaft durch das Gespräch
  Michael Giesecke , Dezember 2003

 

 

Die Industrienationen erfanden den Markt als Vernetzungsmedium für Informationen, die alten und neuen Massenmedien ermöglichten interaktionsfreie Informationsverarbeitung im nationalen und internationalen Maßstab, sie standardisierten die visuelle und akustische Wahrnehmung sowie die logische Informationsverarbeitung so konsequent, dass sie sich heute praktisch vollständig technisch simulieren lassen. Ihre kulturelle Identität fanden die Industriegesellschaften in Europa als Buchkultur.
Nach 500jähriger beispielloser Erfolgsgeschichte zerbricht augenblicklich das Bündnis zwischen Buchkultur und Industriegesellschaft. Die postindustriellen Gesellschaften suchen nach einer Kommunikationskultur und Leitmedien, die den veränderten Strukturen besser entsprechen. Die Antwort auf die Frage, was nach und neben der Buchkultur kommen kann und soll wird aber dadurch erschwert, das wir noch immer an den Idealen kleben, die zur Modernisierung in der Neuzeit beitrugen: das sind vor allem Technisierung als Problemlöser (Technovision) der Markt als Steuerungsinstanz (Marketvision) und die gesellschaftliche Mystifizierung von Aufklärung, Wissen und Alphabetisierung.
Eine Gesellschaft, die sich schon in der Post-Gutenberg-Ära wähnt und Multimedialität erst vor kurzem zum Wort des Jahres erklärte, sollte zu einer nüchternen Betrachtung der positiven und negativen Auswirkungen der alten und neuen Massenmedien in der Lage sein. Eine bloße Ersetzung der alten Printmedien durch elektronische Medien, eine Organisation des Internets gemäß der marktwirtschaftlichen Prinzipien, nach denen seit dem 16. Jahrhundert auch Informationen verbreitet werden, eine bloße Verbesserung der ‘one to many’ Kommunikation durch Onlinevernetzung, eine Übernahme der Wahrheitskriterien, die für die Buchkultur entwickelt wurden, bringt keine wirklichen Innovationen.

Wenn das Informationszeitalter tatsächlich eine Wende bringen soll, so wird es notwendig sein, die Ressourcen des Gespräches als Integrationsinstanz für die vielfältigen Informationen, die uns die verschiedenen technischen Medien zur Verfügung stellen, zu entwickeln. Dies scheint jedenfalls eine Paradoxie der neuen und alten Massenmedien zu sein. Je stärker sie unser gesellschaftliches Leben durchdringen, umso größer wird die Notwendigkeit einer ganz untechnisierten Abstimmungen im Gespräch. Je mehr wir von vernünftigen Programmen umgeben sind, desto stärker greifen wir auf das Gefühl als nichtsubstituierbare Instanz zurück. Je mehr wir uns mit den Anforderungen einer nachhaltigen Gestaltung kultureller Netzwerke befassen, desto mehr werden wir nach einer oder wahrscheinlich nach mehreren Erkenntnis- und Kommunikationstheorien suchen müssen, die zum Verständnis nicht bloß von monomedialer sondern eben von multimedialer und interaktiver Informationsverarbeitung beitragen. Ohne eine Beschäftigung mit dem Gespräch von Angesicht zu Angesicht zwischen mehreren Menschen bei gemeinsamer Kooperation werden solche innovativen Modelle nicht zu gewinnen sein.
Dialogische Vernetzungs- und Informationsverarbeitungsformen, rückkopplungsintensive face-to-face Gespräche haben in den vergangenen 100 Jahren einen gewaltigen Aufschwung genommen. Großgruppenveranstaltungen wie Open Spayce und Zukunftswerkstätten, gruppendynamische Trainingslaboratorien, generative Dialoge in Betrieben, Projektmanagement, Coaching und Supervisionen, Arbeit mit kreativen Medien, z.B. im Rahmen des systemischen Managements, all dies sind kulturelle Errungenschaften die einen Vergleich mit technischen Erfindungen wie Rundfunk und Fernsehen nicht zu scheuen brauchen.
Wenn wir bei der Gestaltung der posttypographischen Informationsgesellschaft also die eingefahrenen Gleise neuzeitlicher Technik und marktfixierter Innovationsstrategien verlassen wollen, dann wird die rückkopplungsintensive face-to-face Kommunikation eine wichtige Funktion bekommen. Allerdings ist auch auf diesem Felde eine Überprüfung alter Ideale und Mythen angesagt. Es geht weniger um das Zweiergespräch als vielmehr um das Gruppengespräch.


Vom Zweier- zum Gruppengespräch
Wenn in den Sozial- und Kommunikationswissenschaften vom ‘Gespräch’ die Rede ist, dann stellte sich das Bild der Interaktion von zwei Personen von Angesicht zu Angesicht ein. Als Prototyp gilt jene Gesprächssituation, die von jeglicher Arbeit, allen instrumentellen Handlungen entlastet ist. Man tauscht seine Gedanken mit Worten in geordneter Wechselrede aus. Erfolgreich verläuft das Gespräch, wenn die beteiligten Personen mindestens verstanden haben was der andere mit seinen Beiträgen meint.
Dieses Verständnis hat bei der Entwicklung des Modells ‘einfacher Interaktionssysteme’ Pate gestanden. Kommunikation erscheint als wechselseitiges Verstehen zweier psychischer Systeme nach dem Mechanismus des Turn-Taking-Modells. Alle interaktionistischen Theorien in Soziologie und Sozialpsychologie reduzieren letztlich die Komplexität zwischenmenschlicher Kommunikationen auf solche Dyaden.
Obwohl diese Form des Gesprächs natürlich in unserem Alltag vielfach vorkommt und immer für zahlreiche Zwecke seine Bedeutung behalten wird, eignet es sich nicht als Vorbild für das Informationszeitalter. Es reduziert zuviel Komplexität, erscheint eher als die Minimal- denn als die Optimalform multimedialer sozialer Informationsverarbeitung. Das Gespräch, das zur Steuerung der Informationsgesellschaft mit all ihren technischen Medien und den vielen Subsystemen und Sinnwelten notwendig ist muss die Grenzen einfacher Interaktion überschreiten und als Gruppengespräch geführt werden. Diese Idee ist nicht neu. Vor allem Kurt Lewin hat in den 40ger Jahren das Gruppengespräch als Möglichkeit der Lösung sozialer Konflikte und des Erkenntnisgewinns propagiert. (Die Lösung sozialer Konflikte – Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik (hrsg. von Gertrud Weiss Lewin) Bad Nauheim 1953, zuerst New York 1948) Die auf seinen Gedanken und auf jenen von Jakob Levi Moreno fußenden gruppendynamischen Bewegung hat in den letzten 50 Jahre große Erfahrungen über die Funktionsweise von Gruppengesprächen gesammelt und zahlreiche Instrumente ihrer Organisation und Selbstorganisation beschrieben. (Vgl. J. L. Moreno: Psychodrama und Soziometrie. Hrsg. von Jonathan Fox, Köln 1989, zuerst New York 1987)
Komplexe Mehrpersonengespräche lassen sich nicht mehr zureichend als einfache Interaktionssysteme begreifen. Zwar nutzen sie das System der binären Schematisierung der Rollen (Sprecher/Hörer) und der Aktivitäten (Sprechen/Zuhören) als grundlegendes Steuerungsprogramm, aber daneben wird das Gruppengeschehen von den Beteiligten auch als ein Marktplatz für ihre Meinungen angesehen und dann wieder zeitweise straff hierarchisch organisiert. Es gibt also nicht nur binäre Schematismen als Steuerungsformen.
Die Notwendigkeit von Arbeitsgruppengesprächen für die Entwicklung moderner Wirtschaftsunternehmen wird in der Managementliteratur in letzter Zeit häufig betont und sie ist auch aus empirischen Analysen wie bspw. der eindrucksvollen Studie von Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi, ableitbar. (Die Organisation des Wissens: Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen. Frankfurt 1997) Wissensschöpfung im Unternehmen sei nicht möglich ohne den Dialog in der Gruppe. Während die Stärken herkömmlicher bürokratischer Kommunikationsformen eher in der Akkumulation und der Systematisierung von Wissen sowie in der Weiterverbreitung von ausgearbeiteten Kenntnissen gesehen werden, können in den Gruppengesprächen implizite Informationen kreativ ausgenutzt und neues Wissen geschaffen und verbreitet werden. (ebenda S. 183/84)
Eine weitere Vorstellung, die für das Gespräch in der Industriekultur üblich war und die besser nicht als Programm mit in das Informationszeitalter hinüber genommen werden sollte, ist jene der Entkopplung des Gespräches aus den sozialen Handlungszusammenhängen und die Fixierung auf die Sprache. Neben der Vernachlässigung der funktionalen Einbettung und des Themenbezuges ist die nächst auffällige Idealisierung des Gesprächs, die es zu überwinden gilt, die Unterschätzung des Beziehungsaspekts. Jedes Gespräch erfordert die Herstellung und Aufrechterhaltung einer Sozialbeziehung, die Regulation von Nähe und Distanz. Themenbezug und Beziehungsklärung müssen wie dies bspw. vom Ansatz der themenzentrierten Interaktion praktiziert wird (Ruth Cohn) in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden. Die Berücksichtigung des Interaktionsaspekts führt unter anderem zu der Einsicht das nicht Jeder mit Jedem bzw. nicht Jede mit Jeder/Jedem sprechen kann und das ganz allgemein die Bildung von größeren Gesprächssystemen ein längeres ‘Warming up’ benötigt, um überhaupt mit der thematischen Arbeit beginnen zu können. Das ideale Gespräch, wie es die Buchkultur propagierte, konnte sich demgegenüber praktisch voraussetzungslos zu jeder Zeit ad hoc in Gang setzen. Die Gesprächsteilnehmer brauchten sich nicht kennen zulernen, es war keine gemeinsame Geschichte erforderlich. Natürlich weiß jeder aus der Erfahrung dass genaue diese Annahme zum Scheitern von Kommunikation führt. Gruppengespräche besitzen eine historische Dimension und man kann sie nur in seltenen Fällen ungestraft vernachlässigen.
Im krassen Widerspruch zur Bedeutung des Gruppengesprächs steht unser Wissen über seine Strukturen und ‘Betriebsweisen’. Über die Funktionsweise der elektronischen und der psychischen Informationsverarbeitung besitzen wir jedenfalls weit genauere Vorstellungen als über die kooperative Informationsverarbeitung in Gruppen. Aber vielleicht sollte man hier genauer formulieren: ‘Objektives’ Wissen im Sinne der neuzeitlichen beschreibenden Wissenschaft fehlt uns. Als Beteiligte in der alltäglichen Praxis dagegen sind wir oftmals gut in der Lage, die Aufgaben zu erfüllen. Wir ähneln in soweit dem Handwerker, der seine Kunstfertigkeit täglich mit seinem Produkt unter Beweis stellt, aber uns nicht sagen kann, wie genau er sein Ziel erreicht hat. Diese Parallele lässt sich in einer sozialhistorischen Perspektive noch weiter verfolgen. Ähnlich wie die Technisierung in der frühen Neuzeit durch die Reflektion der Künste der Handwerker und deren Beschreibung und Veröffentlichung in Büchern angeschoben wurde, so setzt auch die Optimierung des Gesprächs in der Gegenwart die Reflexion von professionellen Interaktionen voraus. Es geht zunächst weniger um die Schaffung von neuem Wissen als zunächst vielmehr um die Transformation der vorhanden unbewussten Programme in eine Form, die ihre Übertragung auf andere Bereiche, ihre Kombination mit anderen Programmen und die Möglichkeiten zu einer abgekürzten Anleitung erleichtert. Es geht um Versprachlichung und Systematisierung latenter professioneller Routinen. Hier liegt ein weites Aufgabenfeld für die Kommunikationswissenschaft. Die Zeit drängt, dieses Feld nicht allein anderen Disziplinen und Professionen zu überlassen. Allerdings erfordert dies von den Kommunikations- und Medienwissenschaftlern, die einseitige Orientierung an interaktionsarmer Massenkommunikation aufzugeben und die Aufmerksamkeit auch auf die Struktur und Dynamik rückkopplungsintensiver Gruppengespräche zu richten.