Das Gespräch als Medium der Selbstreflexion von Kulturen und Menschen

 

 

Dass sich Gespräche als Medien der Selbstreflexion von Menschen eignen, ist seit altersher bekannt. Die Professionalisierung dieser Funktion in Therapie und Beratung lässt sich seit gut einhundert Jahren beobachten - und sie ist keine weniger imposante kulturelle Leistung als die gesellschaftliche Etablierung von Funk und Fernsehen[1]. Dass Gespräche auch als Medium der Reflexion von sozialen Systemen, zunächst von Gruppen, dienen können, wissen wir seit den gruppendynamischen Experimenten in den 30er und 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Seit etwa dreißig Jahren werden sie im Rahmen von Organisationsentwicklungsmaßnahmen auch zur Reflexion von Betrieben und Institutionen eingesetzt. Nunmehr scheint die Zeit gekommen, sie auch als ein Medium zur Reflexion kultureller Prozesse zu institutionalisieren. Auf die entsprechenden ‚Dialog'-Projekte werden wir gleich eingehen.

Die Gespräche, die als Steuerungs- und Vernetzungsinstanz für die Informationsgesellschaft geeignet sind, werden sich grundlegend von den Gesprächen unterscheiden, die die Industriegesellschaft ganz im Einklang mit ihrem monokausalem Selbstverständnis entwickelt hat. In dem Maße, in dem Selbstregulationsprozesse in Technik und Gesellschaft als wichtig erkannt wurden, in dem in vielen Funktionalbereichen von einer direktiven zu dezentraler Steuerung übergegangen wurde, entstand ein neues Verständnis sowohl von ‚Führung/Management' als auch von ‚Gespräch'. Es geht darum, Steuerungsmechanismen und Gesprächsformen für unsere Gesellschaft, ihre Institutionen und Gruppen zu entwickeln, die nicht auf Gleichschaltung hinauslaufen und nach dem Entweder-Oder-Prinzip ablaufen, sondern die die Unabhängigkeit der Gesprächspartner respektieren und ihnen damit die Freiheit zur Entfaltung ihrer Ressourcen lassen.

Die Konturen dieses Gesprächs werden gegenwärtig typischerweise dort besonders intensiv diskutiert, wo es um die Steuerungsprobleme geht, vor denen die Betriebe in der Informationsgesellschaft stehen: In der Managementliteratur[2]. In dem ‚Theme paper' des Forum Information Society wird der Zusammenhang zwischen der Informationsgesellschaft und den neuen Leitungsstrukturen wie folgt zusammengefasst: "Unter dem Druck des globalen Wettbewerbs und im Gefolge der Durchsetzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ändern sich die Unternehmensformen und die Beschäftigungsstrukturen. Re-engineering, Verschlankung, Dezentralisierung, Verflachung der Hierarchien, Profitcenter, total quality management, Teilzeitbeschäftigung und Telearbeit sind gleichermaßen Ausdruck eines unabweisbaren Anpassungsprozesses an eine neue Umwelt - jene der postindustriellen Informationsgesellschaft.[3]" Dieser Anpassungsdruck beschränkt sich nicht auf die Unternehmen, sondern er erfasst auch die Kulturen. Und er führt dazu, dass sich die Bedeutung selbstreflexiver Formen sozialer Informationsverarbeitung und interaktiver kommunikativer Vernetzungsformen erhöht.[4]


aus: Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Suhrkamp- Verlag, Frankfurt a.M. 2002
 
[1] Vgl. zu dieser Geschichte M. Giesecke/K. Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung, Frankfurt 1997, S. 15 ff.
[2] Die Literatur zum kommunikativen Management hat sich in den 80er und 90er Jahren explosionsartig ausgedehnt. Ein Ausgangspunkt ist gewiss das St. Gallener Management Modell (vgl. H. Ulrich/W. Krieg: Das St. Galler Management Modell. Bern 1973) gewesen. Es wurde systemtheoretisch und kybernetisch beständig weiterentwickelt. (Vgl. vor allem Gilbert J. B. Probst: Selbstorganisation. Ordnungsprozesse in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht. Berlin/Hamburg 1987, P. Gomez/G. J. B. Probst: Vernetztes Denken im Management. Bern 1987, H. Ulrich/G. J. B. Probst (g.): Selforganization and management of social systems. Heidelberg 1984, u. a. ) Roswita Königswieser/Christian Lutz (Hg.): Systemisch-evolutionäres Management. Wien 1989, u. ö.
[3] Theme Pap. Doc. Theme 1: The Impact on Organisations and the Way we Work.
[4] "Paradoxerweise hat sich jedoch die Bedeutung der direkten zwischenmenschlichen Kommunikation, die die physische Nähe erfordert, in der Arbeitswelt nicht notwendigerweise verringert, eher im Gegenteil. Die moderne Managementtheorie weist darauf hin, wie wichtig die zwischenmenschlichen Kontakte sind, und die Dezentralisierung der Verantwortlichkeiten führt zu einem noch größerem Bedarf an direkter Kommunikation. "Gruppe hochrangiger Experten, Abschlussbericht, S. 45