Gespräche als Sinnesorgane von Kulturen

 

 
"Dem multisensuellen, massiv parallel verarbeitenden Charakter des Menschen entsprechend ist auch die ursprüngliche soziale Situation, das Gespräch von Angesicht zu Angesicht multimedial und interaktiv angelegt. Sprechen, Mimik, Gestik, Handeln u. a. leibliches Verhalten dienen gemeinsam als Informationsmedium. Das Gruppengespräch kann mehr Informationstypen gewinnen und aufbereiten, als dies einerseits technischen Systemen und andererseits den individuellen psychischen Systemen möglich ist. Schon zu Beginn der 60er Jahre hatte Michael Polanyi auf die Rolle des ‚tacit knowledge' für die Reproduktion der Kultur hingewiesen und festgestellt, dass unser "Körper das grundlegende Instrument ist, über das wir sämtliche intellektuellen oder praktischen Kenntnissen von der äußeren Welt gewinnen"[1]. Viele unserer Fähigkeiten und Fertigkeiten können wir überhaupt nicht in Wort fassen und nur durch Vormachen und Nachmachen, also durch Einsatz unseres Körpers als Kommunikationsmedium weitergeben. In einer vielgelesenen Studie wies David J. Teece Anfang der 80er Jahre darauf hin, dass der Erfolg großer, internationaler Konzerne in hohem Maße davon abhängt, dass es ihnen gelingt, das in den verschiedenen Abteilungen vorhandene taktile Know How weiterzugeben. Als einzige Form, die sich hierfür als möglich erwies, schildert er face-to-face Kontakte, insbesondere die Gruppenarbeit. "Wissen, dass eine hohe taktile Komponente enthält, lässt sich nur äußerst schwierig ohne engen persönlichen Kontakt und Vor- und Nachmachen weitergeben"[2]. Nach weiteren ausgedehnten empirischen Untersuchungen erschien dann 1995 das Buch "The knowledge-Creating Company" von Ikujiro Nonaka/Hirotaka Takeuchi, in dem das Management von impliziten Wissen zu einem Hauptfaktor zeitgemäßen Management erklärt wird. Das Fazit diese Bestellers ist, "das westliche Manager loskommen müssen von ihrem bisherigen Verständnis, man könne Wissen ausschließlich mit Hilfe von Handbüchern oder Vorträgen erwerben und weitergeben". (Ebd. S. 21) Weiterhin wird die Reduktion auf das Hören und Sehen als einzige Erfahrungsquelle als Ursache von Steuerungsproblemen in der Wirtschaft nachgewiesen.

Es geht jedoch hier nicht nur um das Wissen, das wir uns über unseren Körper aneignen und das wir ‚enactiv' gespeichert haben. Auch die emotionalen Informationen, die in minimal strukturierten Gruppen in freischwebender Aufmerksamkeit gewonnen, latent gespeichert und affektiv bewertet werden, gehören zu jenen Informationstypen, die für unsere Kultur wichtig sind und deren Nutzung an das Gespräch gebunden ist."


aus: Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Suhrkamp- Verlag, Frankfurt a.M. 2002
 
[1] V Ders.: Implizites Wissen, Frankfurt 1985 (zuerst New York 1966) S. 23
[2] Ders.: The Market for Know-How and the Efficient International Transfer of Technology - In: The Annals of the American academy of Political and Social Science, 458, Nov. 1981, S. 81 - 96, hier S. 86. (Übersetzung von mir, M. G.)