Theoriefaden
Hartkemeyer/Hartkemeyer/Dhority: Prozessphasen im Dialog

 

 
Der Dialogprozess zeigt trotz seiner Unvorhersehbarkeit auch typische Phasen, Probleme und Krisen. In Anlehnung an die Erfahrungen des Projektleiters William Isaacs vom MIT werden nachstehend vier Phasen als typisch herausgestellt.
 
  1. Labiler Container
Die Tatsache, dass unterschiedlichste Erwartungen und Weltanschauungen in der Gruppe zusammenkommen, ist die erste Herausforderung. Diese Tatsache darf im ersten Prozessabschnitt nicht unter den Tisch fallen, sondern es muss ein Weg gefunden werden, die Unterschiede zu erforschen. Wie in jedem neuen Gruppenprozess findet zunächst eine Balancierungsphase statt, in der jeder sich fragt: Wer hat welche Meinungen? Wo liegen meine Sympathien? Mit wem möchte ich mich eigentlich unterhalten?Dieser Prozess gewöhnlicher selektiver Wahrnehmung, die wir auch im Alltag pflegen, ist das erste Problem für die Gestaltung eines gemeinsamen ‘Behälters’. Trotz der guten Absichten der Gruppenmitglieder tritt – wie auch im Alltagsdenken – das Problem in den Blickpunkt: Wie können wir trotz unserer unterschiedlichen Anschauungen in den Dialogprozess kommen? Es zeigt sich, dass dieser Schritt nur gelingt, wenn wir zu hören beginnen, ohne gleichzeitig den selektiven Filter der Wertung zu benutzen.
Loslassen von Vorannahmen oder Diskussion? 2. Instabilität im Container
Nachdem im ersten Schritt der Container selbst als Faktor der Labilität und Unsicherheit im Vordergrund des Prozesses steht, beginnt nun die Suche nach etwas Neuem. In dieser Phase springt der Prozess häufig zwischen dem Loslassen von Vorannahmen und ihrer inhaltlichen Diskussion hin und her. Anstatt den Vorgang der Wahrnehmung selbst zu thematisieren, fällt auch hier der Prozess noch häufig auf die gewohnten Diskussionsstile und -strukturen zurück. Dies kann der Auslöser für Frustration sein. Dazu kann auch der erste Erkenntnisschritt beitragen, in dem etliche Gruppenmitglieder zu erkennen beginnen, wie abhängig ihre Einstellung vom Denken und Verhalten anderer Gruppenmitglieder ist. Das ist insofern frustrierend, als in gewöhnlichen Konversationssituationen diese Tatsache unter der Oberfläche der Konvention versteckt bleibt. Dieser Bewusstwerdungsprozess führt zur Erforschung der Bedeutung und Rangordnung von Annahmen nach dem Motto: Was ist denn nun wirklich richtig oder falsch? Das bringt erneut Unsicherheit in den Prozess, weil die Fragmentierung unseres Wissens sichtbar wird und bestehende Annahmen als falsche Sicherheiten erkannt werden. Diese Verunsicherung kann sich zu einer Prozesskrise auswachsen – vor allem, wenn die persönliche Desorientierung nicht von der Prozessrichtung der Gruppe getrennt werden kann. Um diese Krise der Suspendierung und Verdeutlichung von Annahmen zu überstehen, ist es wichtig, dass jeder erkennen kann, was sich gerade in der Gruppe ereignet. Die komplizierte Aufgabe des Facilitators ist es in diesem Moment, sichtbar zu machen, was sich gerade ereignet und wie vielleicht eine größere Einsicht in die aktuelle Denk- und Wahrnehmungskonstellation zu gewinnen ist. Was verspüre ich warum in mir? Was höre ich?
Eine neue Art des ‘Ideenflusses’ 3. Neue Fragehorizonte im Container
Wenn die Mehrzahl der Dialogteilnehmer in ihrer Aktivität bis zu diesem Stadium vorgedrungen ist und eine ‘kritische Masse’ erreicht hat, besteht die Chance einer neuen Art des ‘Ideenflusses’. Das Überraschende ist, dass die Menschen in der Lage sind, die üblichen Statusschranken zu überschreiten, und sich selbst in einer kritischen Weise während des Denkens zu beobachten lernen. Aber auch in dieser Phase besteht noch die Gefahr einer Krise. Die Menschen beginnen, die unzulängliche Art des konventionellen Denkens zu spüren, welches ihren Alltag, den Arbeitsplatz, die Kultur prägt. Sie fühlen sich einsam und spüren die selbstverursachten Grenzen, Begrenzungen menschlicher Erfahrung. Und eine solche Erkenntnis bringt Schmerzgefühle mit sich, die sich in der Gruppe ausbreiten können und die zur Weiterentwicklung einen sicheren Container erfordern.
Wahrnehmung von Bewertung trennen 4. Durchbruch zu neuer Kreativität
Wenn die Gruppe in der Lage ist, diese Krise konstruktiv zu bearbeiten, besteht die Chance zur Entwicklung einer kreativen Achtsamkeit. Die Teilnehmer können fühlen, dass sie wirklich an dem Pool eines gemeinsamen Gedankenfeldes partizipieren, und sie können neue Gedanken und Denkzugänge erforschen, selbst wenn sie damit nicht übereinstimmten. Sie beginnen, Wahrnehmungen von Bewertung zu trennen. Häufig wird jetzt die Begrenzung des bisherigen sprachlichen Repertoires empfunden. Das kann dazu führen, dass die Teilnehmer zu schweigen beginnen, die sich nicht in der Lage sehen, sich adäquat auszudrücken. Aber dies ist nicht eine unbeteiligte Art der Schweigsamkeit, sondern eine Phase der Selbsterforschung, in der die Erfahrung gemacht werden kann, dass unsere Sprache nicht in der Lage ist, den Reichtum der gedanklichen Welt zu fassen und auszudrücken. Die Bedeutung und die Inhalte von Begriffen beginnen sich zu ändern, und eine neue Qualität des Gruppendenkens und der kollektiven Intelligenz ist erreichbar.
 
aus: Hartkemeyer, M./Hartkemeyer, J. F./Dhority, Freeman L.: Miteinander Denken – Das Geheimnis des Dialogs. Klett-Cotta 1998.