Theoriefaden Jendrik Petersen: Dialogisches Management: Charakteristika und Erwartungen

 

aus: "Dialogisches Management", Frankfurt am Main 2003 (Bildung und Organisation 13), S. 363-366.

 
„In diesem Teil der Erörterung wird zunächst einmal von der Grundannahme ausgegangen, dass sich der Dialog als gemeinsame Wahrheitssuche im Austausch zwischen Führungskräften und Mitarbeitern auszeichnet (vgl. Gebert/Boerner 1995, S. 286f), da es nicht 'die' von vornherein (monologisch) festgelegte und allgemeingültige Wahrheit i.S. eines 'one-best-way' (mehr) geben kann.

Bezogen auf das Management, bedeutet dies konkret, das Wagnis einzugehen, zunächst einmal im organisationalen Kontext im Sinne des Mentorenmodells Dialoge als animierender (Lern-)Partner und Katalysator zu führen. Auf diese Weise können auf Mitarbeiter- und Teamebene Selbstbewusstsein, Urteilsfähigkeit, Leistungs- und Innovationsbereitschaft sowie die „Entfaltung schöpferischer Kräfte auf allen Ebenen“ (Jantsch 1980, S. 57) ermöglicht und dementsprechend Raum dafür gegeben werden, sich im gesamten Kontext stärker Tugenden wie Kreativität, Querdenken, Spontanität und Risikofreudigkeit zuzuwenden.

Hieraus ergibt sich, dass - wie oben im Mitverantwortungs- bzw. Mentorenmodell vorgeschlagen - Manager und Mitarbeiter als (zumindest prinzipiell) gleichberechtigte Wahrheitsquellen anzusehen sind und hierzu den aktuellen Wissensstand ständig hinterfragen und verändern müssen.

Als Voraussetzung hierfür lassen sich nennen:
 

1. Die (für die Problemlösung wichtigen) Mitarbeiter werden über das jeweilige Problem und diesbezügliche Lösungsalternativen aufgeklärt, um sich an der Lösungsfindung zu beteiligen.
2. Ein Austausch der beiderseitigen Perspektiven ist möglich und wird von allen Beteiligten als für die Problemlösung notwendig und weiterführend angesehen.

 
Hierbei gilt es zu bedenken, daß eine derartige Qualität des Dialoges eben nicht möglich wäre, wenn die Mitarbeiter aufgrund beibehaltener „Machtasymmetrien“ (s. Lehnhoff 1997, auch Spandau 2000) befürchten müssten, dass Einwände gegenüber den Vorstellungen der Führungskräfte mit Missbilligungen, Abmahnungen, Nichtbeförderungen oder gar Entlassungen sanktioniert werden, weil die sich möglicherweise in ihrer Autorität und Kompetenz bedroht fühlen. Folglich darf sich dann auch nicht die Abhängigkeit der Mitarbeiter dermaßen darstellen, dass sie sich nicht mehr dazu in der Lage sehen, eigene Vorschläge zu entwickeln und zu vertreten, weil sie sich mehr oder weniger als „Sprachrohre“ ihrer Führungskräfte verstehen und dementsprechend denken und handeln.

Jede Öffnung zu einem Dialog ist nämlich zweifellos sowohl seitens der Führungskräfte als auch der Mitarbeiter immer mit einem Risiko verbunden, das Wagnis bezüglich der Verlässlichkeit des Partners eingehen zu müssen. Diese Verlässlichkeit lässt sich oftmals gar nicht anders als durch Vertrauen auf die Ehrenhaftigkeit und den guten Willen zur Sicherstellung des gemeinsamen Wohles absichern. Sonst wäre nämlich eine weitere partnerschaftlich-dialogische Beziehung nicht mehr möglich.
Dialog und dessen Voraussetzungen Vertrauen und Verläßlichkeit basieren auf einem Konsens, sprich: aus einer allgemeinen Überzeugung von der gegenseitigen Abhängigkeit, in der sich die Dialogpartner befinden. Hierbei wird sowohl auf der Seite der Mitarbeiter ein gewisses Maß an Zivilcourage, als wichtige Eigenschaft, im Sinne des Mentorenmodells reflexiv-eigenständig politisch denken und handeln zu können, verlangt, dementsprechend klar seine Ansichten zur Problemlösung zu äußern, als auch auf der Seite der Vorgesetzten ebenfalls die reflexiv-eigenständige Kompetenz, mit Argumenten von unten konstruktiv-kritisch umzugehen. Genauso wie die Mitarbeiter mit der Zeit lernen müssen, daß sie ihre Verbesserungsvorschläge wagen können, obliegt es ihren Führungskräften, selber akzeptieren zu lernen, dass die Mitarbeiter als Quelle guter Ideen für eine gemeinsame Weiterentwicklung anzusehen sind, und daß daraus nicht eine irgendwie geartete Bedrohung entsteht.
(1)

Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage, welche konkreten Anforderungen an einen konstruktiv-kritischen Dialog im organisationalen Kontext genau zu stellen sind. Um diesbezüglich eine Antwort zur Diskussion stellen zu können, galt es, die oben angesprochenen Anregungen aus den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und -traditionen zu verarbeiten und folgende Ansprüche in Gestalt eines 'Dialog-Dekalogs' zu formulieren.
Hierbei gilt es im Vorfeld dieses Dekalogs zu betonen, dass der Dialog als Entwicklungsfeld zu betrachten ist und mehr als eine 'bloße Methode der Kommunikation' darstellt:
 

1. Im allgemeinen: Der Dialog ist eine lernbare Disziplin und wird nicht als bloßes 'Miteinander reden' bzw. als beliebige Diskussion oder Meinungsaustausch angesehen. Die Absicht des Dialogs ist es, mit dem oder den Partner(n) ein gemeinsames Verständnis zu erreichen und über die Grundlagen des Denkens zu reflektieren. Der Dialog ist kein Selbstzweck, sondern hat die Steigerung der Problemlösungsfähigkeit und die Zukunftssicherung von Menschen, Organisationen und ihrer mit handlungslogischem Eigensinn versehenen Umwelt als Ziel. Der Dialog stellt generell ein die Beteiligten mit gegenseitig befruchtenden neuen Erkenntnissen und Erfahrungen belohnendes Gespräch dar.
2. Im besonderen: Durch einen sanktionsfreien-offenen Dialog gilt es dabei, das bisherige organisationale Miteinander und den Umgang der Organisation mit der Außenwelt zu hinterfragen und zu verbessern, um auf diese Weise ein vernünftige(re)s Entscheiden und Handeln zu ermöglichen und auszugestalten.
3. Der Dialog von (tendenziell gleichberechtigten) Partnern ist geprägt von der beiderseits empfundenen Vielschichtigkeit, Fragmentierung, Zerstrittenheit einerseits und dem Bemühen um Vertrauen und Verlässlichkeit andererseits.
4. Hierbei kann der Dialog dazu führen, dass im interaktiven Miteinander durch den freien Fluss von Gedanken und Gefühlen der (möglichen) Wahrheit schrittweise entgegengekommen wird.
5. Wahrheit(sfindung) ist aber nicht als Endziel des Dialogs anzusehen, sondern es gilt vielmehr anzuerkennen, dass der Dialog einen bewusst temporären und prozesshaften Charakter aufweist.
6. Dialoge im Zeichen tiefgreifender Wandlungsprozesse können nur durch aktives Zuhören und die gegenseitige Anerkennung ausgelöst werden, wobei erst ein gemeinsames Handeln und Reflektieren eine beidseitig empfundene Wahrhaftigkeit ermöglicht (vgl. dazu auch Roszak 1979, S. 28).
7. Dialog bedeutet nicht, über die Probleme in der Welt 'da draußen' zu lamentieren, sondern zu erkennen, dass die Welt ständiger Bestandteil des Dialoges ist (vgl. Lenssen 1995 [sic!]; S. 349).
8. An einem Dialog mitzuwirken, bedeutet zu erkennen, dass Wahrhaftigkeit und Vertrauen nur im gemeinsamen Handeln, Reflektieren und Bemühen um das gemeinsame Wohl entstehen kann.
9. Dialog bedeutet auch, die eigene Unvollkommenheit und die des Partners akzeptieren zu lernen und als ständige Lernaufgabe anzusehen. Die 'Fehler von einst' ständig vorzuhalten, dürfte die Dialogbereitschaft zum Erliegen bringen.
10. Die Teilnahme am Dialog erfordert von jedem Partner Authentizität und Selbstakzeptanz bzw. Selbstliebe und 'kritische Bescheidenheit' (s. Geißler 1996, 1997). Nur auf diese Weise kann auch dem Partner begegnet werden.

 
Dieser 'Dialog-Dekalog' hat sowohl für die Ausgestaltung des organisationalen Miteinanders als auch für die Beziehung zur Außenwelt den gleichen kontrafaktisch-normativ-regulativen Charakter.

Um insbesondere die Auswirkungen dieses Dialog-Dekalogs in bezug auf ausgewählte typische Problemstellungen aus dem unternehmerischen Alltag aufzuzeigen, liegt es nahe, die Unterschiede zwischen einem traditionellen Fragen und einer dialogischen Behandlung von Herausforderungen herauszuarbeiten, wobei auch hier bewusst eine 'Schwarz-Weiß-Unterscheidung' gewählt wird:
 

Organisationales Problem Traditionelle Fragestellung Dialogische Fragestellungen
Verschlechterung der Kundenbindung
Welche Vertriebstechniken sollen verbessert werden? Inwieweit bin ich oder sind wir Teil des Problems?
Absatzrücklauf Welche Werbemittel sollen eingesetzt werden? Wo verlieren wir Anziehungskraft?
Unser Personal wird als unfreundlich wahrgenommen Welche Incentive-Programme können helfen, von wem müssen wir uns trennen? Was strahlen wir (oder ich) als Management aus?
Geschäftsabläufe sind unkoordiniert Welche Richtlinien sind zu aktualisieren? Wie hängt das mit uns zusammen?
Die Kosten sind unverhältnismäßig stark gestiegen Wo können wir einsparen? Folgen wir wirklich dem kürzesten Weg zu Mehrwert im Team?
Rendite auf Anlagekapital ist rückläufig Diverse investitionspolitische Maßnahmen Was können wir selbst tun, damit eine bewusstere Beziehung zwischen der materiellen Struktur und den Menschen entsteht?
 

(1) Vor diesem Hintergrund sind beispielsweise Zielvorgaben für die Organisation 'sinnvoll' aus dem allgemeinen Wandlungsprozess heraus zu formulieren. Hierbei ist eine sinnvolle Zielvorgabe jene, die die Zustimmung eines Großteils der Mitarbeiter erhält (s.o. zum grundsätzlichen Potenzial des Führungsmodells MbO)

Literaturangabe:

Benner, D.: Allgemeine Pädagogik. 2. Auflage. München 1991

Gebert, D./ Boerner, S.: Manager im Dilemma. Frankfurt 1995

Geißler, H.: Sinnmodelle des Managments: Vom Handwerker- über das Gärtner- zum Mitverantwortungsmodell. In: Geißler, H./Krahmann-Baumann, B./Lehnhoff, A. (Hg.): Umdenken im Managemtent des Umdenkens. Frankfurt 1996.

Geißler, H. (Hg.): Unternehmensethik, Managementverantwortung und Weiterbildung. Neuwied 1997.

Jantsch, E.: Die Grenzen westlicher Rationalität, Frankfurt 1980

Lehnhoff, A.: Vom Mangement Development zur Managementbildung. Frankfurt a. Main 1997.

Lenssen, G.: Besinnung in der Wirtschaft. In: Matheis, R. (Hg.): Leadership Revolution. Frankfurt a. Main 1996.

Spandau, U.: Mächtige Kommunikation im Organisationslernen. Dissertation. Hamburg/München 2000.