Fliesstext Funktionswandel der Gespräche in der Kulturgeschichte

 

 

Die Orientierung auf das (Gruppen)Gespräch als Vernetzungs- und Informationsverarbeitungsinstanz der Zukunft bedeutet keine nostalgische Rückbesinnung auf frühere Kulturstufen der Menschheit. Das Gespräch in den archaischen - und selbst in späteren, technisierten - Kulturen hatte andere Funktionen und entsprechend auch andere Strukturen und Dynamiken als die Gespräche, die in der Informationsgesellschaft möglich und notwendig sind.
Eine kurze Betrachtung der Gespräche in archaischen, oft als 'oral' bezeichneten Kulturen mag dies verdeutlichen.
 
Das Gespräch in den archaischen oralen Kulturen war beziehungsweise ist mit vielen Funktionen für die jeweilige Ortsgesellschaft belastet. Es unterscheidet sich darin von den Dialogen, die wir in unserer modernen multimedialen Kultur führen können. Wenn ausschließlich das leibliche Verhalten als Kommunikationsmedium eingesetzt wird, dann muss es notwendig auch viele derjenigen Leistungen erfüllen, die wir in unserer Gesellschaft den technischen Kommunikationsmedien anvertrauen.

Zusammenfassung
  

Um seine gesamtgesellschaftliche Funktion zu erfüllen musste das Gespräch in den einfachen Kulturen normiert werden - und zwar in einer Weise, die durchaus jener Standardisierung ähnelt, die wir gegenwärtig bei allen Formen der technisierten Kommunikation beobachten. Diese Form der Normierung wird in der historischen und ethnographischen Literatur meist 'Ritualisierung' genannt. Tanz, Mimik, Gestik, Gesang und die lautsprachlichen Äußerungen sind ritualisiert. D.h., sobald bestimmte soziale Situationen identifiziert sind, werden die Beteiligten zu Akteuren mit einem bestimmten Rollenrepertoire und die Interaktion folgt einem historisch ausgearbeiteten und sozial kontrolliertem Schema. Man sagt nicht irgendetwas sondern das, was die ritualisierte Interaktion erfordert und man typisiert sich auch nicht nach freiem Willen und tauscht je nach Lust und Laune die Rollen sondern man nimmt jene Positionen ein, die man auf Grund seines Alters, seines Geschlechts und bestimmter, ebenfalls durch Riten (z. B. durch Initiationen) bekräftigten Funktionen in der betreffenden Kultur zugewiesen bekommen hat.

Das Kriterium für die Glaubwürdigkeit einer Aussage ist die Person mit ihrer Stellung innerhalb der Stammesorganisation. Es gibt keine personenunabhängigen Wahrheiten. Insbesondere das Alter (und Geschlecht) der Person und die durch Riten vollzogenen Statuspassagen (Länge ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe) sind hier von Bedeutung.
Diese Personen kontrollieren (im Auftrag des Stammes), welches Wissen an wen weitergegeben werden darf. Es darf nicht zu vielen weitergegeben werden. In der Regel werden Novizen herangezogen, damit das Wissen des Stammes nicht verloren geht, vor allem das Wissen um die latenten Strukturen und Regeln. Wird Wissen überhaupt nach Außen hin an andere Stämme veröffentlicht, fehlen oft die wesentlichen Teilen.

Diese hochgradige Normierung gilt auch für alle Formen der sozialen Informationsverarbeitung.

Das Kriterium für die Glaubwürdigkeit einer Aussage ist die Person mit ihrer Stellung innerhalb der Stammesorganisation. Es gibt keine personenunabhängigen Wahrheiten. Insbesondere das Alter (und Geschlecht) der Person und die durch Riten vollzogenen Statuspassagen (Länge ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe) sind hier von Bedeutung.
Diese Personen kontrollieren (im Auftrag des Stammes), welches Wissen an wen weitergegeben werden darf. Es darf nicht zu vielen weitergegeben werden. In der Regel werden Novizen herangezogen, damit das Wissen des Stammes nicht verloren geht, vor allem das Wissen um die latenten Strukturen und Regeln. Wird Wissen überhaupt nach Außen hin an andere Stämme veröffentlicht, fehlen oft die wesentlichen Teilen.

Ein solches Verhalten ist vernünftig - solange es keine anderen Möglichkeiten gibt, kulturelles Wissen zu bewahren und als Regulativ für das soziale Miteinander zu nutzen. Wenn die Lieder, die den Rhythmus des Arbeitens koordinieren und/oder Mythen tradieren, nicht mehr gesungen würden, wenn alle Glieder des arbeitenden Kollektivs es verlernt haben, ihr Handeln aufeinander abzustimmen, so bedeutete dies in einer schriftlosen und nicht mit Tonaufzeichnungsgeräten ausgestatteten Kultur, dass wichtige Informationen für die nächste Generation verlorengegangen wären. Die Generation, die den Rhythmus des Gesanges eigentlich nicht mehr braucht, um ihre Aufgaben zu erfüllen, hätte zwar in diesem Fall mehr Freiheit, z.B. für Gespräche gewonnen, aber die nachfolgende Generation wäre der kulturellen Errungenschaft des Gesangs als Mittel der Arbeitsorganisation verlustig gegangen. Sie müssten es im günstigsten Fall neu erfinden - im ungünstigen Fall würde sich dabei das Mehrprodukt soweit verringern, dass Einzelne verhungern. Um dieses Risiko zu meiden, wird das Singen zum Ritual, welches auch dann vollzogen wird, wenn es im konkreten Fall für die Beteiligten gar nicht mehr notwendig ist. Und die Ritualisierung entzieht den Interaktionsbeteiligten auch die Möglichkeit, Gespräche entsprechend der individuellen Bedürfnisse zu gestalten.

Entritualisierung der Kommunikation
 
Soziologisch betrachtet tendiert alles menschliche Verhalten in einfachen Kulturen dazu, sozial organisiert zu werden. Rituelle Interaktion vollzieht sich in organisierten Sozialsystemen. Einfache Sozialsysteme, die der Befriedigung der psychischen Bedürfnisse der beteiligten Personen dienen und in denen der Gang der Interaktionen und die dabei einzunehmenden Rollen jeweils ad hoc ausgehandelt werden, nehmen in den nicht technisierten Kulturen einen ungleich geringeren Raum ein - jedenfalls solange kein Überfluss herrscht. So betrachtet, ist es ganz einseitig, die Entwicklung unserer modernen Gesellschaft nur als einen Prozess zunehmender Institutionalisierung und Bürokratisierung zu begreifen: Die viel zu wenig als solche betrachtete Kehrseite ist die Entritualisierung der sogenannten Alltagskommunikation, die relative Zunahme einfacher Sozialsysteme auf Kosten der organisierten. Kommunikationstheoretisch betrachtet gewinnt das Gespräch, so wie wir es heute kennen, an Raum.

 
Technisierung als Voraussetzung der Dialogisierung der Kommunikation


Eine Voraussetzung für die Entritualisierung der face- to- face- Kommunikation ist die Zunahme technischer Informations- und Kommunikationsmedien.
Die Technisierung entlastet die sozialen Systeme von gesellschaftlich notwendiger Informationsverarbeitung, -speicherung und -weitergabe. Der Sozialkontakt braucht nicht immer sogleich Funktionen als Teil eines gesellschaftlichen Kommunikationsnetzes wahrzunehmen; die Gespräche brauchen nicht immer zur Lösung von übergeordneten Aufgaben gesellschaftlicher Informationsverarbeitung genutzt zu werden und die psychischen Systeme der Menschen brauchen nicht mehr als das vorrangige und für zahlreiche Informationstypen einzige Gedächtnis der Gesellschaft in Anspruch genommen zu werden. Dies alles ermöglichte es, vermehrt soziale Kommunikationssysteme einzurichten die eben nicht für andere, sondern für die psychischen Systeme der Beteiligten Leistungen erbringen.
Die Soziologen bezeichnen eben solche Kommunikationssysteme als 'einfache Sozialsysteme'. Gesellschaftliche und private Kommunikation differenzieren sich aus. - Mit allen bekannten Nachteilen der Zunahme von eigennützigen Denken und dem Verlust an Bindungskraft staatlicher Normen.

Einfache Sozialsysteme in diesem Sinne dürfte es zwar in der Kulturgeschichte immer schon gegeben haben, aber sie nahmen keinen so breiten Raum ein. Erst recht die Professionalisierung dieser Gattung zu selbstreflexiven Kooperationsformen, wie sie sich in den verschiedenen Therapieschulen seit gut 100 Jahren vollzieht, ist eine innovative Leistung.
Die Entritualisierung der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht bedeutet nicht, dass nun die Verständigung einfacher würde. Wenn die Gesprächspartner die Möglichkeit haben, die Regeln der Kommunikation selbst festzulegen und sie Zug für Zug im Gespräch so auszuhandeln, wie sie für die Befriedigung der Bedürfnisse der Beteiligten am günstigsten sind, so verlangt dies von ihnen Kreativität und selbstreflexive Aufmerksamkeit. Natürlich gibt es auch für diese Aushandlungsprozesse Normen - aber sie wirken eben nicht über so lange Zeiträume, so weiträumig wie jene Ordnungsstrukturen, die für die ritualisierte Kommunikation bzw. für die organisierten Sozialsysteme typisch sind. Es geht also nicht um den Gegensatz zwischen programmgesteuert und nicht programmgesteuert oder normiert und nicht normiert, sondern es geht um unterschiedliche Typen von Programmen oder Normen. Die Normen der Rituale und der organisierten Sozialsysteme sind, wie dies die Institutionssoziologie herausgearbeitet hat, historisch geworden und kontrafaktisch stabilisiert. Da sie der Erhaltung der Gesamtgesellschaft dienen, können sie auch nur von dieser außer Kraft gesetzt werden. Abweichungen in konkreten Gesprächen werden als Abweichungen behandelt und führen nicht dazu, dass sich neue Programme etablieren.
Das ist nun in den einfachen Sozialsystemen ganz anders. Hier können die Beteiligten experimentieren und immer wieder neue Regeln erarbeiten, an die sie sich selbst solange halten, wie es ihnen günstig erscheint. Selbstverständlich greifen sie dabei auf etablierte Programme zurück, aber diese geben nur die Folie für ihre konkrete Interaktion ab.
Vor allem können in den Dialogen zugleich mehrere- sich teilweise widersprechende- Programme parallel die Kommunikation steuern. Die verstärkt die Flexibilität von Gesprächssystemen, in dem es ihnen die Möglichkeit eröffnet, je nach den anstehenden Aufgaben bzw. zur Bewältigung von Krisen mal das eine und mal das andere Programm zu nutzen.