Die Bedeutung der Verwendung von phonetischen Schriftsystemen liegt, um
ein wichtiges frühes Integrationsbeispiel zu nennen, darin, daß
hiermit zwei durch die kulturelle Entwicklung schon stark ausdifferenzierte
und damit auch voneinander getrennte Erlebens- und Verhaltensformen, Sehen
und 'Schreiben' bzw. Hören und Artikulieren wieder näher zusammengeführt
werden. Es ist ein Akt der Integration, der freilich, was in der Literatur
meist übersehen wird, auf der Basis der Oralität stattfindet.
Wirklich multimedial ist von Anbeginn der Menschheit nur eine Kommunikationssituation,
das unmittelbare Gespräch von Angesicht zu Angesicht zwischen zwei
oder mehreren Menschen. Diese Kommunikation ist immer multisensoriell,
multimedial und sie bedient sich auch vieler unterschiedlicher Effektoren.
Sie ist deshalb die einzige Instanz, die die Vielfalt an Informationen,
die für die menschliche Kultur wichtig sind, wieder zusammenfassen
kann. Dieses soziale informationsverarbeitende System hat allein die erforderliche
Komplexität, um die unterschiedlichen Informationstypen wieder zusammenzuführen
und ineinander zu übersetzen.
Seine Bedeutung als Integrationsinstanz wächst in dem Maße,
in dem durch die Technisierung monomediale Informations- und Kommunikationssysteme
entstanden sind. Es verhält sich auf dem Felde der Informationsverarbeitung
genauso wie mit jeglicher Arbeitsteilung. Je mehr sie vorangetrieben wird,
umso stärker wird der Aufwand und die Notwendigkeit, sie wieder zusammenzuführen.
Ab einem bestimmten Punkt zahlt sich Differenzierung überhaupt nicht
mehr aus, weil der Planungs- und Integrationsaufwand zu groß wird
und dieser Punkt scheint auf dem Felder der Informationsverarbeitung schon
vielfach erreicht.
Mit der Spezialisierung der Informationsverarbeitung und der technischen
Ausdifferenzierung der Medien ist ein Verlust des Gefühls für
die rechten Proportionen zwischen den Sinnen und Prozessen einhergegangen.
Ähnlich wie die Gelehrten in der Renaissance das ausgehende Mittelalter
als eine Zeit kritisierten, in der die Harmonie verlorengegangen ist,
so wird auch jetzt der Ruf nach einer Aufhebung von Vereinseitigungen
laut. Das Stichwort ist gegenwärtig Ganzheitlichkeit oder - im wissenschaftlichen
Kontext - systemisches Herangehen. Damals ging es um die 'wahren Proportionen',
und vor allem der Kunst kann die Aufgabe zu, in diese Richtung neue Maßstäbe
zu setzen. Genauso wie damals der Mensch zum Maßstab und zur Integrationsinstanz
gemacht wurde, so könnte dies jetzt das dialogische Gespräch
sein. Möglicherweise wird nicht das Zweiergespräch, sondern
das Gruppengespräch die paradigmatische Rolle einnehmen.
(Gruppendynamiker wie K. Lewin haben dies schon vor 50 Jahren betont und
sich damit von der eher unter Philosophen und Soziologen z.B. A. Schütz
verbreiteten These abgesetzt, das Zweiergespräch sei die kommunikative
Grundsituation, die ideale Gesprächssituation.)
Möglicherweise ist die dyadische Kommunikation schon eine Spezialisierung
sozialer Informationsverarbeitung.
Dies soll natürlich nicht heißen, daß Technisierungen
in den nächsten Jahrzehnten aufhören werden.
Gerade die neuen technischen Medien ermöglichen erstmals in der Weltgeschichte
eine zumindest teilweise Technisierung des Gesprächs unter Beibehaltung
ihrer Spezifik: Rückkopplungsintensität, Multimedialität,
Simultanität.
Je mehr sich unsere Gesellschaft mit den Anforderungen den nächsten
Jahrhunderts auseinandersetzt, desto mehr wird sie nach einer oder wahrscheinlich
nach mehreren Erkenntnis- und Kommunikationstheorien suchen müssen,
die nicht bloß zum Verständnis monomedialer und hierarchischer,
sondern eben auch von multimedialer und interaktiver Informationsverarbeitung
beitragen. Und sie wird im nächsten Schritt die Disproportionen in
unserer Informationsverarbeitung und Kommunikation ausgleichen. Für
beide Aufgaben ist die Orientierung am Dialog eine zeitgemäße
medienpolitische Schwerpunktsetzung.
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