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Strukturen von Gesprächen und die Vielfalt der Gesprächstypen

 

 
Damit das Gespräch als Spiegel von Kulturen, als Medium der Selbstreflexion von Menschen und Gemeinschaften, als Steuerungsmechanismus und Relais in kulturellen Netzwerken als Synthese von Interaktionen, Markt und Organisation, als Sinnesorgan von Kulturen und als Mittler zwischen Menschen, technischen Medien, Organisationen und Kulturen dienen kann, müssen bestimmte Rahmenbedingungen hergestellt werden: Es sollten sich mehr als zwei Personen beteiligen (Gruppengespräch), die sich face-to-face gegenüberstehen oder sitzen. Dies ermöglicht multisensuelle Informationsverarbeitung und multimediale Kommunikation. Eine formale Hierarchie würde die freie Balance zwischen den drei Steuerungsmechanismen erschweren. Asymmetrien werden im Verlauf des Gesprächs durch die Aufgaben/Themen entstehen. Idealer Weise wechseln die Rollen im Verlaufe des Gesprächs.

In diesen Rahmenbedingungen gibt es Maximen (Steuerungsprogramme) für den Gesprächsablauf: Die binäre Schematisierung der Aktivitäten und das turn-taking System aus der Interaktion sollte zunächst als Basis genommen werden. Entsprechend ist Selbst- und Fremdauswahl von Sprechern möglich. Die Selbstreflexion der Interaktionsgeschichte und die Verbalisierung von deren Ergebnissen (Metakommunikation) dient immer wieder der Herstellung von Gemeinsamkeiten und der Bewältigung von Krisen.

Auf dieser Basis können andere Ordnungsprinzipien für das Gespräch phasenweise in Kraft gesetzt werden.
Grundsätzliches Ziel der Gruppengespräche ist die gemeinsame Lösung von Aufgaben der Informationsverarbeitung, die jeder einzelne allein nicht bewältigen kann. Hieraus folgt die Einsicht, in die eigene Unvollkommenheit und der Respekt vor dem Kommunikationspartner.

Die Rahmenbedingungen (Setting) und die Steuerungsprogramme werden präziser, sobald wir genauer wissen, um welche Themen und Aufgaben es in den Gesprächen geht. Zur Lösung von immer wiederkehrenden Aufgaben sozialer Informationsverarbeitung und Vernetzung haben sich in der Geschichte bestimmte Typen kommunikativer Kooperationsformen herausgebildet. Vielfach gehören sie zum professionellen Sonderwissen einzelner Berufsgruppen. Daneben gibt es aber in der Industrie- und Buchkultur auch eine begrenzte Anzahl von Gesprächsqualifikationen, die alle mündigen Bürger mehr oder weniger gut beherrschen. Die allgemeinbildenden Schulen organisierte man nicht zuletzt auch, um genau diese Basisprogramme für die Kooperation bei der Informationsgewinnung, -verarbeitung und -darstellung kulturell zu vererben.

Die wichtigsten Formen solcher elementarer Kooperationsformen sind das Argumentieren, Beschreiben und Erzählen[1]. Die Tabelle zeigt, welche Aufgaben diese Formen jeweils lösen und welche Berufe an ihrer Ausarbeitung besonderen Anteil hatten.
Die letzte Reihe der Tabelle zeigt die Umrisse einer neuen Form des Gruppengesprächs, das sich offenbar im Gleichklang mit der Informationsgesellschaft entwickelt, dem Dialog. Er nutzt die bekannten kommunikativen Errungenschaften, in dem er, je nach dem anstehenden Aufgaben oder zu bewältigenden Krisen, mal das eine, mal das andere Programm anwendet - und dabei latent immer die nichtgenutzten weiteren Möglichkeiten wach hält.


aus: Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Suhrkamp- Verlag, Frankfurt a.M. 2002
 
[1] Giesecke/Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung, Frankfurt 1997, S. 98 ff