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Herkunft und Zukunft der Museen als kulturelle Informationsspeicher |
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Michael Giesecke (Erweiterte Schriftfassung des Vortrags auf der Kooperationsveranstaltung des Heinz Nixdorf Museumsforum (Paderborn) und des Fortbildungszentrums 'Abtei Brauweiler'/Rheinisches Archiv- und Museumsamt, Landschaftsverband Rheinland: Euphorie Digital? - Aspekte der Wissensvermittlung in Kunst, Kultur und Technologie, HNF Paderborn, 28. - 29. September 1998) Gegenstand und Fokus der Betrachtung Ich habe diese grundsätzlichen Bemerkungen vorangestellt,
weil es auf dieser Tagung und in der Folge in meinem Vortrag eher um die
neuen Informationssysteme und -medien gehen wird. Natürlich müssen
wir uns mit ihrer Gestaltung beschäftigen und es ist auch unstrittig,
daß sich im Zuge ihrer Durchsetzung die Bedeutung der traditionellen
Medien relativ verringern wird. Aber man kann die zukünftige Informationsgesellschaft
nicht verstehen und gestalten, wenn man sich ausschließlich mit
der Gegenwart und den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien
beschäftigt. Das beste Gegengewicht gegen den Sog der Medieneuphorie
ist der Ökocheck und die konsequente Berücksichtigung der Ambivalenz
aller Medien und Informationssysteme: ihren Leistungen in einzelnen Bereichen
stehen immer - verglichen mit anderen Informationssystemen und -medien
- Schwächen in anderen Bereichen gegenüber. Hypothesen Die positiven und negativen Auswirkungen des Buchdrucks
auf die individuelle und soziale Informationsverarbeitung sind in Tabelle
1 der nachfolgenden Darstellung zusammengefaßt. |
entwickelt, technisiert, sozialisiert | vernachlässigt |
Visuelle Erfahrung über die Umwelt· Sprachliche und bildhafte Speicher- und Darstellungsformen | Andere Sinne, Introspektion, Körpererfahrung· Nonverbale Ausdrucksmedien |
Rationale, logische Informations-verarbeitung | Affektive und zirkuläre Informations-verarbeitung |
Individuelle Selbsterfahrung | Soziale Selbstreflexion |
Monomediale, sprachlich oder mathematisch normierte Darstellung von Wissen | Multimediale und assoziative Informationsdarstellung |
Interaktionsfreie Kommunikation | Unmittelbare Kommunikation von Angesicht zu Angesicht |
Manufakturmäßig und bürokratisch organisierte intersubjektive Informationsverarbeitung | Gruppengespräche, Teamarbeit, selbstorganisierte Informations-verarbeitung |
Monomediale hierarchische Vernetzung mit einseitigem Informationsfluß | Dezentrale Vernetzung mit unmittelbaren Rückkopplungsmöglichkeiten |
Tab. 1: Auswirkungen des Buchdrucks auf die individuelle
und soziale Informationsverarbeitung |
Die typographischen Medien haben die privaten, institutionellen und berufsständischen Informationsspeicher für eine größere, im Ziel und am Ende nationale, Öffentlichkeit geöffnet. Damit ist der Übergang von einer sozialen Informationsverarbeitung im Maßstab kleiner Sozialsysteme, von mehr oder weniger zufälligen Zweiergesprächen, Familien, Berufsgruppen und hierarchisch gegliederten und klar umgrenzten Institutionen, wie etwa der kirchlichen und weltlichen Verwaltung, zu einer gesellschaftlichen Informationsverarbeitung möglich geworden. Lange Zeit war die Bedeutung dieses Wandels Geisteswissenschaftlern
kaum einsichtig zu machen. Nachdem nun aber die Probleme der Globalisierung
in unserer Gegenwart jedermann vor Augen führen, daß es Unterschiede
zwischen nationalen und globalen Vernetzungen gibt, scheint langsam die
Einsicht zu wachsen, daß bei einem ähnlichen Vergesellschaftungsschub
in der frühen Neuzeit auch nicht alles beim alten geblieben sein
kann. Informationstheoretisch gesprochen ermöglichen die gedruckten
Bücher im Zusammenwirken mit der marktwirtschaftlichen Verbreitung
(und den vielen Vermittlungsinstanzen) sowie der entsprechenden software
die Parallelverarbeitung von Informationen nicht nur wie bei den face-to-face
Kommunikationen zwischen wenigen Personen oder, wie bei den handgeschriebenen
Texten, zwischen absehbar wenigen Personen bzw. Rollen sondern zwischen
den Autoren und einem dispersen nationalen Publikum (jedermann, die Gemein,
die Nation etc.). Die neuzeitlichen Kulturen gewinnen die Möglichkeit
massiver Parallelverarbeitung im gesellschaftlichen, nationalen Maßstab,
sowohl im Bereich der Wahrnehmung als auch bei der Weiterverarbeitung,
der simultanen Reflexion und der Nutzung bestimmter Typen von Informationen.
Wenn sich Soziologen, Historiker, Politiker und
die Öffentlichkeit mit der geschichtlichen Entwicklung unserer Kommunikation
beschäftigen, dann meist in der Form, daß sie die Abfolge technischer
Medien schildern: Vom Kerbstock, über die Tontafeln, Manuskripte,
gedruckte Bücher bis hin zu den elektronischen Medien. Man betreibt
Mediengeschichte und stellt sich die Medien als technische Produkte vor.
Dies ist ein grundlegender Mythos unserer europäischen Neuzeit. Sie
hat uns gelehrt, soziale Evolution grundsätzlich zunächst einmal
als eine zunehmende Technisierung zu begreifen. Genau genommen wachsen
in diesem Grundverständnis schon zwei Fortschrittsmythen zusammen,
nämlich das Akkumulationsprinzip (mehr vom selben) und eben das Technisierungsprinzip
(als Substitution menschlicher Arbeit und damit als Entlastung). |
prämiert und entwickelt | vernachlässigt |
Individuum, Institution, Staat/Nation | Gruppe, Team, Weltgesellschaft |
Bewußtsein, sprachliches Wissen | Affekte, Intuition |
Hierarchische Arbeitsorganisation | Interaktive Netzwerke, Rückkopplung, Projektorganisation |
Konsequenz und Rationalität | Redundanz und Sowohl-Als-Auch-Denken |
Ordnung | Chaos |
Legitimation durch allgemeingültige Verfahren | Funktionale ad hoc-Lösungen |
Verträglichkeitsprüfung im Hinblick auf das Individuum und die Nation | Verträglichkeitsprüfung im Hinblick auf die Menschheit und Umwelt (Globalisierung) |
Tab. 2: Etappen der Medienentwicklung |
Die übergreifende Frage, die ich mir stelle, lautet
deshalb auch: Wie entwickelt sich die kulturelle Informationsverarbeitung
und -vernetzung? Und eingebaut in diesen Kontext kann und muß man
dann nach den Effekten natürlicher sozialer, psychischer, technischer
u. a. Phänomene fragen. Ich sehe im Einklang mit psychologischen und gruppendynamischen
Entwicklungsmodellen grundsätzlich drei Phasen der Einführung
neuer Medien und Informationstechnologien: So wie J. Gutenberg mit seiner Erfindung schöner, schneller und billiger schreiben wollte als alle Skriptorien vor ihm, so sollten die elektronischen Rechner nach dem Willen ihrer Konstrukteure in den späten vierziger Jahren schneller und billiger und zuverlässiger rechnen als die vorhandenen Mensch-Maschine-Rechensysteme. Erst gut drei Generationen nach Gutenberg wurde die Parole ausgegeben, Drucktechnologie und marktwirtschaftliche Vernetzung für den Aufbau von nationalen Informationssystemen zu nutzen. Privates Wissen wurde gegenüber dem öffentlichen abgewertet, die Parallelverarbeitung als Beschleunigung erlebt und ebenso begrüßt wie die Akkumulation des versprachlichten Wissens in den Schatzhäusern der Nation, den zirkulierenden Büchern. Die Verwirklichung des Traums einer sozialen Informationsverarbeitung
im Maßstab von Nationen dauerte Jahrhunderte, setzte einen völligen
Umbau der gesellschaftlichen Organisation, die Normierung der Wahrnehmung
und des Denkens der Bürger in Schulen und Hochschulen, die Umstrukturierung
von Sprachen und vielem anderen mehr voraus. Diese Anstrengung und die
Verdrängung verhandener Formen der Kommunikation und Informationsverarbeitung
ließ sich überhaupt nur durchsetzen, indem der Buchdruck ideologisch
verstärkt, ihm übernatürliche Leistungen angedichtet wurden.
Es entstanden die Mythen der Buchkultur, wie z. B. die Verzauberung sprachlichen
Wissens, die Gleichsetzung von Drucken und Vergesellschaften, die Prämierung
visueller Information als 'Wirklichkeit', der Glaube an die Aufklärung
als Instrument der Humanisierung. Zugleich wurden die ungeheuren Kosten
dieser Entwicklung verdrängt. Konsequenzen für die Zukunft der Museen Anzustreben wäre entsprechend nicht mehr maximale
Autonomie der Ausstellungsstücke (Bücher) sondern ihre Funktionalisierung
für soziale Projekte. Was allein stehen kann, braucht keine Kooperation,
eignet sich nicht als Element in sozialen Kooperationszusammenhängen.
Es liegt auf der Hand, daß diese Entwicklung dem Ideal des autonomen
Kunstwerkes/Exponats ebenso entgegensteht wie einer Konzentration auf
Kuriositäten, Sensationen und anderen Abweichungen, die ein hauptsächliches
Selektionskriterium sowohl für die Ausstellungsstücke als auch
für die Veröffentlichung von Informationen in den Druckmedien
(gewesen) sind. Weniger häufig angesprochen wird eine weitere
Konsequenz, die sich aus der Relativierung des Ideals der Aufklärung
im Post-Gutenberg-Zeitalter herleitet. Der eigentliche Gegensatz zum aufgeklärten
Wissen ist ja nicht das Vergnügen sondern die latente, nicht sprachlich
begrifflich explizierte oder auch nur explizierbare Information. Traditionelle
Wissensvermittlung hat auch Spaß gemacht und insoweit ist die Forderung
nach besserer Unterhaltung bloß reformistisch. Eine alternative
Konzeption schriebe weniger den Unterhaltungswert als vielmehr die Schaffung
eines nicht kognitiven Informationstyp auf ihre Fahnen. Des weiteren müßten die Exponate die Möglichkeit
multisensueller Erfahrungsgewinnung und -verarbeitung ermöglichen.
Bloßes Anschauen sollte die Ausnahme sein. |
Verstärkung folgender (vorhandener) Tendenzen | Relative Abschwächung von | |
Katalysator für Gruppengespräche, soziale Rollen | vs. | Orientierung am individuellen Besucher |
Funktionalisierung für Projekte → Thematische Module | vs. | autonome Ausstellungsstücke Multimediale und -sensuelle Präsentation |
interaktionsfreies Betrachten Schaffung kollektiver impliziter Vorstellungen/ Wissen |
vs. | sprachlich-begriffliche Aufklärung |
Tab. 3: Entwicklungstendenzen alternativer Museumkonzeptionen |
Die Zusammenstellung mag ein weiteres Mal signalisieren, daß Museen aus informationstheoretischer Sicht mehr sind als bloß ein Departement des kulturellen Gedächtnisses. Neben der Speicherfunktion können sie Wahrnehmungsfunktionen, Reflexionsfunktionen und eine aktive Rolle in kooperativen Kommunikationssystemen einnehmen: Sensor, Speicher, Reflektor und Effektor. Im Ernst wissen wir augenblicklich noch kaum, wie wir
diese und andere Forderungen konkret einlösen können. Wenn die
Entwicklung auf diesem Gebiet ähnlich verläuft wie die Umgestaltung
in der frühen Neuzeit, dann wird es noch mehr als 30 Jahre brauchen,
bis wir den neuen technischen Möglichkeiten angemessene Arbeits-
und Umgangsformen entwickelt haben. Schlussbemerkung Ein weiterer Sinn des Vortrags lag darin, die Forderung nach einer Orientierung am Informationsverarbeitungs- und Kommunikationsideal von zielgerichteten Gruppengesprächen, wie sie sich in den Kampfbegriffen Multimedialität, Interaktivität, Teamarbeit u.ä. ausdrücken als eine logische Konsequenz der Mediengeschichte der letzten Jahrhunderte zu begründen. Insoweit habe ich auf die neueren Präsentationsformen und Ausstellungstechnologien als Datenmaterial gar nicht zurückgreifen müssen. Sie erscheinen eher als Bestätigung von Prognosen, die aus weiträumigen kulturellen Strukturen und langfristigen Dynamiken abgeleitet sind. Die historisch vergleichende Wissenschaft kann helfen, stabile Entwicklungen von Moden zu unterscheiden und insofern größere Planungssicherheit zu geben.[5] |
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[1] Wer
an einer ausführlichen Darstellung interessiert ist, sei auf meine
Bücher: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische
Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien.
Frankfurt 19983 und 'Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel - Studien
zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft', Frankfurt 19982 verwiesen. [2] Nordamerika, das seine Identität viel weniger stark an die Buchkultur gebunden hat, verdankt seine momentane Vorreiterrolle in der Entwicklung und Reflexion neuer Technologien unter anderem genau der größeren Distanz und damit einer nüchterneren Einschätzung und geringeren sozialen Prämierung der Ideale der Buchkultur. [3] Andererseits sollten die Museen natürlich immer auch die Schwäche des monomedialen Buchmediums ausgleichen - ihnen eine multisensuelle Informationsgewinnung gegenüberstellen. Aber diese Aufgabe haben sie in den meisten Fällen nur ganz unvollkommen übernommen. Die Ausstellungsstücke blieben unantastbare 'Anschauungs'-Objekte. [4] Vgl. I. Nonaka/ H. Takeuchi: Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen. Frankfurt 1997 [5] Die mit der Erforschung der Massenkommunikationsmedien beschäftigte 'Kommunikationswissenschaft' in Deutschland ist dazu allerdings nur ausnahmsweise in der Lage. Insofern sie sich kaum mit den face-to-face-Gesprächen beschäftigt hat, fehlen ihr alle Kategorien zur Erfassung multimedialer Kommunikation und zum Verständnis der komplexen Rückkopplungsphänomene. |