Theoriefaden Herkunft und Zukunft der Museen als kulturelle Informationsspeicher

 

 

Michael Giesecke

(Erweiterte Schriftfassung des Vortrags auf der Kooperationsveranstaltung des Heinz Nixdorf Museumsforum (Paderborn) und des Fortbildungszentrums 'Abtei Brauweiler'/Rheinisches Archiv- und Museumsamt, Landschaftsverband Rheinland: Euphorie Digital? - Aspekte der Wissensvermittlung in Kunst, Kultur und Technologie, HNF Paderborn, 28. - 29. September 1998)

Gegenstand und Fokus der Betrachtung
 
Es kann in diesem Beitrag nicht um eine Anamnese, Diagnose und Therapie eines speziellen Typs von Ausstellungen und gar eines einzelnen Museums gehen. Natürlich stehen viele dieser Institutionen unter dem Druck, ihre Organisations- und Präsentationsformen, die sie vielleicht sogar erst in den 70er Jahren verändert haben, wieder an eine gewandelte soziale Umgebung anzupassen. Das Bedürfnis nach konkreten Vorschlägen ist insoweit verständlich. Diese können aber letztlich nur in maßgeschneiderten Organisationsentwicklungsmaßnahmen, in denen sich interne Strukturreflexionen und Umweltbeobachtung abwechseln, formuliert werden.
So sehr mich eine solche Beratungsaufgabe reizt, so wenig kann sie im Setting dieser Vortragsveranstaltung mit ihren vielen Teilnehmern aus den verschiedensten Museumstypen, Ausstellungseinrichtungen, Bibliotheken, Verlagen usf. in Angriff genommen werden.
Ich werde mich also nicht mit den Museen als Organisationen unseres Dienstleistungssektors, sondern als kulturelle Phänomene in einem viel allgemeineren Sinne befassen.
Der Ausgangspunkt meiner Betrachtung ist dabei informations- und kulturtheoretisch sowie historisch vergleichend: Museen, Bücher, Menschen und alle anderen Phänomene werden zum einen als informationsverarbeitende Systeme oder als deren Elemente betrachtet. Es wird dann gefragt, wie sie Informationen gewinnen, speichern, verarbeiten und darstellen. Oder aber sie erscheinen als Medien oder Kommunikatoren in kommunikativen Netzwerken.
Von Kulturen spreche ich, wenn ich die Vernetzung und Wechselwirkung unterschiedlicher Klassen von Informations- und Kommunikationssystemen: psychischen, sozialen, neuronalen, biogenen, technischen usf. im Auge habe. Ich betrachte sie also genauso wie die Menschen als Ökosysteme oder als Elemente in ökologischen Netzwerken.
Es macht vor diesem Hintergrund keinen Sinn von Kultur zu sprechen, wenn man nicht die Existenz und das Zusammenwirken völlig unterschiedlicher Kommunikations- und Informationssysteme annimmt. Weder läßt sich soziale Informationsverarbeitung auf psychische oder deren Addition noch die psychische Informationsverarbeitung auf neurophysiologische Vorgänge reduzieren. Und es ist auch nicht sinnvoll, kulturelle und soziale Informationsverarbeitung miteinander zu identifizieren.
In der Kulturgeschichte (und ebenso in der Naturgeschichte) werden aus den prinzipiell unendlich vielen Vernetzungsmöglichkeiten und den ebenfalls unendlich vielen Möglichkeiten, Menschen und andere Phänomene für die Informationsverarbeitung zu funktionalisieren, jeweils bestimmte Möglichkeiten und Funktionen ausgewählt, sozial, technisch und in anderer Weise stabilisiert und kulturell prämiert.
Von kultureller Entwicklung (Evolution) spreche ich, wenn die Vernetzungsmöglichkeiten bzw. die Funktionen, die Menschen in den Informationsverarbeitungsprozessen einnehmen können, steigen. Die Kulturen werden dann multimedialer, multisensorieller, multiprozessoraler und flexibler und stellen somit mehr Auswahlmöglichkeiten für
Vernetzungs- und Informationstransformation bereit.
Schon daraus folgt, daß neue Medien nur dann eine evolutionäre Funktion haben, wenn sie die vorhandenen nicht bloß ersetzen. Vielmehr müssen die Optionen der alten Medien oder Informationssysteme bis zu einem gewisse Grade erhalten bleiben. I. d. S. haben alle sogenannte Medienrevolutionen nicht nur Neues hinzugefügt sondern zugleich die Bedeutung von vorhandenen Systemen und Medien stabilisiert: Die Schrift hat die kognitive (psychische) Informationsverarbeitung gefördert, dem Gespräch eine größere Autonomie und mehr Funktionen gegeben und den sozialen Systemen eine Auswahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Speicherungsformen eröffnet. Der Buchdruck hat die skriptographische Informationsverarbeitung keineswegs zerstört - ebensowenig sind die privaten 'Schatzhäuser' als eine Vorstufe neuzeitlicher Museen in der Neuzeit verschwunden. Immer noch werden private Sammlungen angelegt und immer noch werden sie hin und wieder für die Allgemeinheit in der Form traditioneller Museen geöffnet.
Kolonalisierungen und andere Formen des Imperalismus verändern zwar Kulturen aber sie entwickeln sie nicht unbedingt weiter. ('Sowohl-als-auch' anstatt 'Entweder-oder'). Wie lange eine solche Steigerung der Auswahlmöglichkeiten und damit eben die Zunahme der Komplexität von Kulturen noch überlebensfördernd für die Menschheit ist, ist eine andere, durchaus diskussionswürdige Frage.
Läßt man ihre Behandlung einmal beiseite, so läßt sich für die Zukunft der 'Wissensvermittlung in Kunst, Kultur und Technologie' (vgl. das Tagungsthema) schon einmal vorab festhalten, daß wir, wenn dann die neuen Medien tatsächlich revolutionär sind, mit den traditionellen Formen weiterleben werden. Wenn das Ägyptische Museum in Kairo, das seine Sammlung ja im wesentlichen nach Ausgrabungs- und chronologischen Gesichtspunkten in Fensterschränken präsentiert, verschwände, dann wären auch die interaktiven, benutzerorientierten Ausstellungen wie etwa die 'All Hands Gallery' im National Maritime Museum in Greenwich keine Bereicherung. Gewinn und Verlust hielten sich die Waage.
Gerade in Zeiten in denen neue Formen der Informationsverarbeitung und Kommunikation 'euphorisch' aufgenommen und unterstützt werden, hat eine Kulturpolitik solche ökologischen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Die Erhaltung, Modifikation und das Umfunktionieren traditioneller Medien ist das Pendant zum Arten- und Naturschutz. Manche Museen werden ihr Überleben gerade nicht durch eine Anpassung an die Multimedialtechnologie sondern nur durch eine offensive Kultivierung ihrer Eigenart sichern, die aus anderen Zeitumständen herrührt.

Ich habe diese grundsätzlichen Bemerkungen vorangestellt, weil es auf dieser Tagung und in der Folge in meinem Vortrag eher um die neuen Informationssysteme und -medien gehen wird. Natürlich müssen wir uns mit ihrer Gestaltung beschäftigen und es ist auch unstrittig, daß sich im Zuge ihrer Durchsetzung die Bedeutung der traditionellen Medien relativ verringern wird. Aber man kann die zukünftige Informationsgesellschaft nicht verstehen und gestalten, wenn man sich ausschließlich mit der Gegenwart und den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien beschäftigt. Das beste Gegengewicht gegen den Sog der Medieneuphorie ist der Ökocheck und die konsequente Berücksichtigung der Ambivalenz aller Medien und Informationssysteme: ihren Leistungen in einzelnen Bereichen stehen immer - verglichen mit anderen Informationssystemen und -medien - Schwächen in anderen Bereichen gegenüber.
Wenn die Aufmerksamkeit auf diesen Ergänzungs- und Ersetzungszusammenhang gelenkt würde, wäre meine wesentliche Botschaft schon angekommen. Sie hätte zur unmittelbaren praktischen Konsequenz, daß z. B. keine Großprojekte zur Gestaltung der Informationsgesellschaft durch die EU mehr gefördert werden, die sich ausschließlich der Entwicklung und Verbreitung neuer Technologien widmen. Wir wissen schon heute über die Informatik der Rechner viel mehr als über die Informatik vom natürlichen Zweiergespräch, von Gruppen und Teams ganz zu schweigen. Die immer noch kaum überwundene Konzentration auf technische Lösungen zeigt zuallererst, daß der eigentliche Inhalt der Schlagworte 'Multimedialität' oder 'Ökologie' nicht erkannt ist. Sie kann sich überhaupt nur legitimieren, indem sie sich auf die Mythen der Buchkultur der vergangenen Jahrhunderte stützt. Allen voran jenem, daß die Technisierung der Königsweg des Fortschritts ist.

Hypothesen
 
Die Organisatoren dieser Veranstaltung haben mich gefragt, ob sich aus der Kultur- und Mediengeschichte Entwicklungstendenzen für die Museen, Bibliotheken und Archive in der Informationsgesellschaft ableiten lassen.
Mit Museen und Archiven habe ich mich bislang nur am Rande wissenschaftlich beschäftigt. Da sie jedoch in ihrer heutigen (traditionellen) Form ein neuzeitliches Produkt sind, liegt die Vermutung nahe, daß sie einen Ursprung in der typographischen Buchkultur besitzen. Die Veränderung dieser Kultur durch die neuen elektronischen Medien und die Globalisierung der sozialen Informationsverarbeitung, die wir gegenwärtig erleben, dürfte dann auf die Funktionen, die Struktur und Dynamik sowie auf das Selbstverständnis der Museen ähnliche Auswirkungen wie auf die Verlage und auf die typographische Informationsverarbeitung und Kommunikation überhaupt besitzen.
Da ich mich in der Entstehung und Entwicklungsgeschichte der typographischen Medien etwas auskenne, bin ich der Einladung zu dieser Tagung gerne gefolgt. Ich werde also zunächst einige wesentliche Leistungen der Buchkultur aus informationstheoretischer Sicht, dies sei nochmals betont, vortragen. Dabei gehe ich auch auf die Ambivalenzen dieses Mediums ein, mache also deutlich, welche Formen der Informationsverarbeitung und Kommunikation vernachlässigt werden. Als Vergleichsmaßstab dient mir dabei vor allem die soziale Informationsverarbeitung von Angesicht zu Angesicht, wie sie schon vor der Einführung des Buchdrucks existiert hat und bis heute weiterbesteht.

Die positiven und negativen Auswirkungen des Buchdrucks auf die individuelle und soziale Informationsverarbeitung sind in Tabelle 1 der nachfolgenden Darstellung zusammengefaßt.
 
Die typographische Kommunikationstechnologie

entwickelt, technisiert, sozialisiert vernachlässigt
Visuelle Erfahrung über die Umwelt· Sprachliche und bildhafte Speicher- und Darstellungsformen Andere Sinne, Introspektion, Körpererfahrung· Nonverbale Ausdrucksmedien
Rationale, logische Informations-verarbeitung Affektive und zirkuläre Informations-verarbeitung
Individuelle Selbsterfahrung Soziale Selbstreflexion
Monomediale, sprachlich oder mathematisch normierte Darstellung von Wissen Multimediale und assoziative Informationsdarstellung
Interaktionsfreie Kommunikation Unmittelbare Kommunikation von Angesicht zu Angesicht
Manufakturmäßig und bürokratisch organisierte intersubjektive Informationsverarbeitung Gruppengespräche, Teamarbeit, selbstorganisierte Informations-verarbeitung
Monomediale hierarchische Vernetzung mit einseitigem Informationsfluß Dezentrale Vernetzung mit unmittelbaren Rückkopplungsmöglichkeiten
Tab. 1: Auswirkungen des Buchdrucks auf die individuelle und soziale Informationsverarbeitung
 

Die typographischen Medien haben die privaten, institutionellen und berufsständischen Informationsspeicher für eine größere, im Ziel und am Ende nationale, Öffentlichkeit geöffnet. Damit ist der Übergang von einer sozialen Informationsverarbeitung im Maßstab kleiner Sozialsysteme, von mehr oder weniger zufälligen Zweiergesprächen, Familien, Berufsgruppen und hierarchisch gegliederten und klar umgrenzten Institutionen, wie etwa der kirchlichen und weltlichen Verwaltung, zu einer gesellschaftlichen Informationsverarbeitung möglich geworden.

Lange Zeit war die Bedeutung dieses Wandels Geisteswissenschaftlern kaum einsichtig zu machen. Nachdem nun aber die Probleme der Globalisierung in unserer Gegenwart jedermann vor Augen führen, daß es Unterschiede zwischen nationalen und globalen Vernetzungen gibt, scheint langsam die Einsicht zu wachsen, daß bei einem ähnlichen Vergesellschaftungsschub in der frühen Neuzeit auch nicht alles beim alten geblieben sein kann. Informationstheoretisch gesprochen ermöglichen die gedruckten Bücher im Zusammenwirken mit der marktwirtschaftlichen Verbreitung (und den vielen Vermittlungsinstanzen) sowie der entsprechenden software die Parallelverarbeitung von Informationen nicht nur wie bei den face-to-face Kommunikationen zwischen wenigen Personen oder, wie bei den handgeschriebenen Texten, zwischen absehbar wenigen Personen bzw. Rollen sondern zwischen den Autoren und einem dispersen nationalen Publikum (jedermann, die Gemein, die Nation etc.). Die neuzeitlichen Kulturen gewinnen die Möglichkeit massiver Parallelverarbeitung im gesellschaftlichen, nationalen Maßstab, sowohl im Bereich der Wahrnehmung als auch bei der Weiterverarbeitung, der simultanen Reflexion und der Nutzung bestimmter Typen von Informationen.
Die weiteren sozialen, psychischen und anderen Konsequenzen dieser Innovation und also ihre kulturellen Auswirkungen kann ich an dieser Stelle noch nicht einmal skizzieren.
[1] Ich begnüge mich mit einer weiteren schematischen Darstellung, die einige wichtige Punkte zusammenfaßt (Tab.2).

Wenn sich Soziologen, Historiker, Politiker und die Öffentlichkeit mit der geschichtlichen Entwicklung unserer Kommunikation beschäftigen, dann meist in der Form, daß sie die Abfolge technischer Medien schildern: Vom Kerbstock, über die Tontafeln, Manuskripte, gedruckte Bücher bis hin zu den elektronischen Medien. Man betreibt Mediengeschichte und stellt sich die Medien als technische Produkte vor. Dies ist ein grundlegender Mythos unserer europäischen Neuzeit. Sie hat uns gelehrt, soziale Evolution grundsätzlich zunächst einmal als eine zunehmende Technisierung zu begreifen. Genau genommen wachsen in diesem Grundverständnis schon zwei Fortschrittsmythen zusammen, nämlich das Akkumulationsprinzip (mehr vom selben) und eben das Technisierungsprinzip (als Substitution menschlicher Arbeit und damit als Entlastung).
Aus kultur- und informationstheoretischer Sicht kann ein solcher Ansatz nicht befriedigen. Die Natur und die Technik wird nur zum Medium, indem sie in kulturelle Informationsverarbeitungs- und Kommunikationssysteme eingebaut wird. Was informativ ist, klärt sich letztlich nur im Bezug zu dem wahrnehmenden und Informationen verarbeitenden Systemen.

 
Die Buchkultur

prämiert und entwickelt vernachlässigt
Individuum, Institution, Staat/Nation Gruppe, Team, Weltgesellschaft
Bewußtsein, sprachliches Wissen Affekte, Intuition
Hierarchische Arbeitsorganisation Interaktive Netzwerke, Rückkopplung, Projektorganisation
Konsequenz und Rationalität Redundanz und Sowohl-Als-Auch-Denken
Ordnung Chaos
Legitimation durch allgemeingültige Verfahren Funktionale ad hoc-Lösungen
Verträglichkeitsprüfung im Hinblick auf das Individuum und die Nation Verträglichkeitsprüfung im Hinblick auf die Menschheit und Umwelt (Globalisierung)
Tab. 2: Etappen der Medienentwicklung
 

Die übergreifende Frage, die ich mir stelle, lautet deshalb auch: Wie entwickelt sich die kulturelle Informationsverarbeitung und -vernetzung? Und eingebaut in diesen Kontext kann und muß man dann nach den Effekten natürlicher sozialer, psychischer, technischer u. a. Phänomene fragen.
Letztlich muß man natürlich auch bei diesem Ansatz den Bezugspunkt klären. So wie die Biologen das Überleben der Individuen, der Art, der Gattungen, der Reiche zum Kriterium der Evolution machen, so muß auch der Informations- und Kulturwissenschaftler klären, von welchem System er die Überlebensfähigkeit zum Evolutionskriterium erheben will. Nachdem die Nationen als Bezugspunkt viel Kredit verspielt haben, drängt in letzter Zeit immer mehr die 'Menschheit' als Kriterium in den Vordergrund.

Ich sehe im Einklang mit psychologischen und gruppendynamischen Entwicklungsmodellen grundsätzlich drei Phasen der Einführung neuer Medien und Informationstechnologien:
In der ersten Phase werden die herkömmlichen Problemstellungen übernommen und man versucht, die alten Aufgaben besser zu lösen als dies mit den traditionellen Medien und Formen der Informationsverarbeitung und Kommunikation möglich war. Die Devise lautet: Mehr vom selben, aber schneller und billiger! (Phase der Abhängigkeit)
Die zweite Phase stellt sich in dem Maße ein, in dem die 'besseren' Lösungen zu einem gesteigerten Prestige der neuen Medien und Kommunikationsformen sowie zu einer größeren Distanz gegenüber den traditionellen führen: die Schwächen der alten Medien, die bislang kaum thematisiert wurden, treten ins öffentliche Bewußtsein und man sucht alternative Lösungen. Dieses kompensatorische Konzept bleibt aber, um noch einmal auf das psychodynamische Konzept zurückzugreifen, in einer Gegenabhängigkeit verhaftet. Man arbeitet sich kritisch an den vorgefundenen Kommunikationsformen ab und bleibt eben dadurch den alten Strukturen und Funktionssetzungen noch verhaftet.
Erst in der dritten Phase besteht die Chance die Ressourcen der neuen Technologie zu erkennen und sie ohne Rücksicht auf traditionelle Funktionssetzungen und Legitimationsformeln zu entwickeln. Es geht um eine ökologische Vernetzung zwischen den neuen und den alten Systemen und Medien, die synergetische Effekte freisetzt.

So wie J. Gutenberg mit seiner Erfindung schöner, schneller und billiger schreiben wollte als alle Skriptorien vor ihm, so sollten die elektronischen Rechner nach dem Willen ihrer Konstrukteure in den späten vierziger Jahren schneller und billiger und zuverlässiger rechnen als die vorhandenen Mensch-Maschine-Rechensysteme.

Erst gut drei Generationen nach Gutenberg wurde die Parole ausgegeben, Drucktechnologie und marktwirtschaftliche Vernetzung für den Aufbau von nationalen Informationssystemen zu nutzen. Privates Wissen wurde gegenüber dem öffentlichen abgewertet, die Parallelverarbeitung als Beschleunigung erlebt und ebenso begrüßt wie die Akkumulation des versprachlichten Wissens in den Schatzhäusern der Nation, den zirkulierenden Büchern.

Die Verwirklichung des Traums einer sozialen Informationsverarbeitung im Maßstab von Nationen dauerte Jahrhunderte, setzte einen völligen Umbau der gesellschaftlichen Organisation, die Normierung der Wahrnehmung und des Denkens der Bürger in Schulen und Hochschulen, die Umstrukturierung von Sprachen und vielem anderen mehr voraus. Diese Anstrengung und die Verdrängung verhandener Formen der Kommunikation und Informationsverarbeitung ließ sich überhaupt nur durchsetzen, indem der Buchdruck ideologisch verstärkt, ihm übernatürliche Leistungen angedichtet wurden. Es entstanden die Mythen der Buchkultur, wie z. B. die Verzauberung sprachlichen Wissens, die Gleichsetzung von Drucken und Vergesellschaften, die Prämierung visueller Information als 'Wirklichkeit', der Glaube an die Aufklärung als Instrument der Humanisierung. Zugleich wurden die ungeheuren Kosten dieser Entwicklung verdrängt.
Die Entmystifizierung der Buchkultur hat in Europa gerade erst begonnen.
[2] Sie scheint hier überhaupt erst in dem Maße möglich zu werden, in dem die neuen elektronischen Medien ein Alternativmodell zur Verfügung stellen. Ohne eine solche Entmystifizierung wird es aber schwierig werden, die Ressourcen, die in den neuen Medien schlummern, realistisch einzuschätzen und eine ökologische Planung des Zusammenspiels der beiden Informationsverarbeitungsformen zu verwirklichen.
Diese Einschätzung ergibt sich jedenfalls, wenn man das oben skizzierte Entwicklungsmodell zugrunde legt: In den beiden Anfangsphasen wird eine realistische Selbsteinschätzung durch eine positive bzw. negative Fixierung an den Strukturen und Zielen in den alten Informationsverarbeitungsformen erschwert.
Wenn man sich vor diesem Hintergrund noch einmal die schematische Darstellung 'Auswirkungen des Buchdrucks auf die individuelle und soziale Informationsverarbeitung' anschaut, so wird deutlich, daß praktisch alle Schlagworte, die gegenwärtig zur Beschreibung der Entwicklungsrichtung der neuen elektronischen Medien benutzt werden, die Positionen der rechten Spalte paraphrasieren. Es geht darum, bislang vernachlässigte Funktionen zu erfüllen: Multisensualtät, nonverbale Medien und affektive Informationsverarbeitung, Multimedialität, Interaktivität usf.
Paradoxerweise wird durch diese Betonung der Schwächen der typographischen Informationsverarbeitung und der öffentlichen Massenkommunikation die Aufmerksamkeit, schrittweise und kaum merklich, überhaupt weg von der technisierten und gesellschaftlichen Informationsverarbeitung hin auf das Gespräch von Angesicht zu Angesicht zwischen mehreren Menschen gelenkt. Dieses ist nämlich bislang noch immer dasjenige Informationssystem, wo die meisten Sinne und Prozessoren zum Einsatz kommen, die vielfältigsten Medien verwendet werden und ein Höchstmaß an flexibler Rückkopplung erreicht werden kann. Es geht nicht darum, die alten skriptographischen und typographischen Informations- und die Massenkommunikationssysteme elektronisch aufzumotzen, offensichtliche Schwächen durch das Anfügen zusätzlicher Aggregate zu reparieren. Ich plädiere vielmehr dafür, in der Diskussion um die Zukunft der Informationsverarbeitung und Kommunikation die einseitige Orientierung an diese technisierten Informationssysteme zu verlassen und stattdessen das Gruppengespräch als Orientierungsgröße (mit) zu verwenden. Die neuen Medien sind entsprechend als Technisierung dieses Typs von Informationsverarbeitung und Kommunikation zu entwickeln. Mit dieser Umorientierung kann die Abhängigkeit und Gegenabhängigkeit der aktuellen Medienpolitik und -entwicklung von den Idealen der Buchkultur überwunden werden. Diese haben zwar den Aufbau der modernen Industrienationen und einer der Massenproduktion von materiellen Waren ähnlicher standardisierter Informationsproduktion ermöglicht, aber sie eignen sich nicht mehr zur Bewältigung der anstehenden Menschheitsprobleme.

Konsequenzen für die Zukunft der Museen
 
Ich will die Konsequenzen dieses Ansatzes am Beispiel der Museumskonzeption in einigen Punkten konkretisieren.
Die Museen knüpfen ja in vielerlei Hinsicht an das Konzept der interaktionsfreien Massenkommunikation, wie es für die typographischen Medien seit der frühen Neuzeit entwickelt wurde, an. Die Exponate sollen von vielen Menschen wahrgenommen und verarbeitet werden, ohne daß man die Kontexte, aus denen sie stammen aufsuchen muß und ohne daß Erläuterungen von Experten unbedingt erforderlich sind.
[3] Die 'Masse' der Leser und der Besucher der Museen wird als Summe von Individuen betrachtet. Man beschäftigte sich entsprechend auch praktisch ausschließlich mit der psychischen Informationsverarbeitung, wenn Rezeptionsforschung oder Museumspädagogik betrieben wird.
Das alternative Konzept wäre, die Museen als informative Umwelt nicht für Individuen sondern für Gruppen zu gestalten, als Katalysator für Gespräche, für soziale Informationsverarbeitung. Die Ausstellungsstücke müßten dann als Prozessor oder als Medium in sozialen Netzwerken oder Räumen ihre Kraft entfalten.

Anzustreben wäre entsprechend nicht mehr maximale Autonomie der Ausstellungsstücke (Bücher) sondern ihre Funktionalisierung für soziale Projekte. Was allein stehen kann, braucht keine Kooperation, eignet sich nicht als Element in sozialen Kooperationszusammenhängen. Es liegt auf der Hand, daß diese Entwicklung dem Ideal des autonomen Kunstwerkes/Exponats ebenso entgegensteht wie einer Konzentration auf Kuriositäten, Sensationen und anderen Abweichungen, die ein hauptsächliches Selektionskriterium sowohl für die Ausstellungsstücke als auch für die Veröffentlichung von Informationen in den Druckmedien (gewesen) sind.
Bekanntlich geht die Entwicklung schon vielfach in diese Richtung. Es entstehen Museen und Ausstellungen, die sich an einen begrenzten, mehr oder weniger klar genannten Benutzerkreis wenden und die sich auf ein bestimmtes Themengebiet beschränken. Dies hat nicht nur zur Ausdifferenzierung der Museenlandschaft sondern auch zu einer stärkeren Benutzerorientierung und Betonung des Dienstleistungscharakters geführt. Soziale Gruppen und einzelne Professionen, die ähnliche Interessen haben, nutzen 'Ausstellungen' als Arbeitsstätten und als Katalysatoren für die Bildung von neuen Netzwerken und Arbeitszusammenhängen.
Solche Arbeitszusammenhänge erfordern - genauso wie jede Team- oder Projektarbeit - ein klares Ziel, ein Thema. Daß mindestens ein Typ zukünftiger Ausstellungen in dieser Weise thematisch strukturiert sein muß, deutet sich ja seit längerem schon durch den Aufstieg der Metapher 'Thema' an. Dieser ursprünglich ausschließlich zur Beschreibung von Sprachstrukturen verwendete Begriff erfährt augenblicklich eine Ausweitung auf sehr viele soziale und kulturelle Bereiche. Die EXPO bietet natürlich einen 'Themenpark' - und 'unklare' Thematik ist ein wichtiger Kritikpunkt ihrer Gegner.
Sinnvoll ist die Verwendung des Themenbegriffs, wenn damit die Kommunikation zwischen den Besuchern vorstrukturiert werden soll. Themen geben den Gesprächen Kohärenz. Konsequenterweise müßte dann aber die Ausstellung als Katalysator oder als Element von solchen Gesprächen organisiert werden. Davon sind wir augenblicklich noch weit entfernt. Die Exponate richten sich im wesentlichen noch an das Individuum, nicht an Gruppen. Es sollen psychische Sinne angesprochen und individuelle Fähigkeiten entwickelt werden. Die Beschäftigung mit sozialen Schlüsselqualifikationen, sozialer Selbstreflexion, kollektiver Informationsverarbeitung usf. bilden kaum die Thematik selbst avangardistischer Ausstellungen. Die Vereinsamung des Museumsbesuchers wird noch nicht konsequent aufgebrochen. Sinnvoll wären beispielsweise Exponate, die überhaupt nur nach und durch kollektive Anstrengungen erlebt werden können. Die gemeinsame Reflexion des gemeinsamen Umgangs mit den Dingen gehört noch immer zu den Ausnahmen und natürlich dürfte Reflexion nicht wieder ausschließlich auf sprachlichen Beschreibungen und kognitiven Anstrengungen, also den Markenzeichen der aufgeklärten Buchkultur, aufgebaut werden.

Weniger häufig angesprochen wird eine weitere Konsequenz, die sich aus der Relativierung des Ideals der Aufklärung im Post-Gutenberg-Zeitalter herleitet. Der eigentliche Gegensatz zum aufgeklärten Wissen ist ja nicht das Vergnügen sondern die latente, nicht sprachlich begrifflich explizierte oder auch nur explizierbare Information. Traditionelle Wissensvermittlung hat auch Spaß gemacht und insoweit ist die Forderung nach besserer Unterhaltung bloß reformistisch. Eine alternative Konzeption schriebe weniger den Unterhaltungswert als vielmehr die Schaffung eines nicht kognitiven Informationstyp auf ihre Fahnen.
Die Bedeutung gemeinsamen impliziten Wissens für Betriebskulturen und den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen hat das Management im Profit-Bereich schon länger erkannt.
[4] Aber diese brachliegende Ressource kann nicht nur für Profit-Unternehmen sondern auch für andere soziale Systeme und Unternehmen im Nonprofit-Bereich genutzt werden.

Des weiteren müßten die Exponate die Möglichkeit multisensueller Erfahrungsgewinnung und -verarbeitung ermöglichen. Bloßes Anschauen sollte die Ausnahme sein.
Das Ansprechen aller Sinne, die Gestaltung des Museums als Sinnenpark, breitet sich gegenwärtig geradezu modisch aus. Interaktiver Umgang mit den Exponaten und Multimedialität gehören zu den Grundprinzipien beispielsweise auch der Konzeption der EXPO 2000.
In der nachfolgenden Tabelle 3 sind die angesprochenen Entwicklungstendenzen noch einmal zusammengefaßt.

 
Verstärkung folgender (vorhandener) Tendenzen   Relative Abschwächung von
Katalysator für Gruppengespräche, soziale Rollen vs. Orientierung am individuellen Besucher
Funktionalisierung für Projekte Thematische Module vs. autonome Ausstellungsstücke
Multimediale und -sensuelle Präsentation
interaktionsfreies Betrachten
Schaffung kollektiver impliziter Vorstellungen/ Wissen
vs. sprachlich-begriffliche Aufklärung
Tab. 3: Entwicklungstendenzen alternativer Museumkonzeptionen
 

Die Zusammenstellung mag ein weiteres Mal signalisieren, daß Museen aus informationstheoretischer Sicht mehr sind als bloß ein Departement des kulturellen Gedächtnisses. Neben der Speicherfunktion können sie Wahrnehmungsfunktionen, Reflexionsfunktionen und eine aktive Rolle in kooperativen Kommunikationssystemen einnehmen: Sensor, Speicher, Reflektor und Effektor.

Im Ernst wissen wir augenblicklich noch kaum, wie wir diese und andere Forderungen konkret einlösen können. Wenn die Entwicklung auf diesem Gebiet ähnlich verläuft wie die Umgestaltung in der frühen Neuzeit, dann wird es noch mehr als 30 Jahre brauchen, bis wir den neuen technischen Möglichkeiten angemessene Arbeits- und Umgangsformen entwickelt haben.
Vor allem gilt es aber im Auge zu behalten, daß neben den neuen, alternativen Modellen die klassischen Museumsformen weiterhin ihre Berechtigung behalten. Eine Bereicherung der Museumskultur setzt geradezu den Erhalt von Modellen voraus, die sich, wie gewohnt an die einzelnen Individuen richten und die Authentizität der Ausstellungsstücke zum Prinzip erheben. Für praktisch alle Präsentationsformen dürften sich Nischen finden lassen und wenn sie nur konsequent genutzt werden, so finden sie auch ihre Nutzer. Gleichförmigkeit ist ja auch ein Erbe der Massenproduktion des Industriezeitalters- und insofern kein zukunftsweisendes Ideal.

Schlussbemerkung
 
Die hier vorgetragenen Überlegungen dürften die meisten Tagungsteilnehmer wenig überrascht haben. Vieles wird schon praktiziert, anderes ist schon länger in der Diskussion. Die Wissenschaft läuft als eine reflexive Veranstaltung den Aktionen eben immer hinterher.
Der gute Sinn meines Vortrags lag zum einen darin, eine alternative, zeitgemäße Perspektive auf die in ihrem Totalitätsanspruch zu Ende gehende Buchkultur zu eröffnen. Solange wir deren Wertmaßstäbe und Ziele noch beibehalten, können wir eine andere Informationsgesellschaft nicht gestalten. Wer weiter nach möglichst allgemeingültigen, zeit-, personen- und ortsunabhängigen Informationen (Wahrheit) sucht, wer die globale simultane massenhafte interaktionsfreie Verarbeitung von Informationen anstrebt, wer eine Prämie auf die Transformation von Informationen in das visuelle und symbolische Medium in Aussicht stellt, wer bei Informationsverarbeitung und Kommunikation im wesentlichen an psychische Vorgänge und an die Weitergabe von sprachlichen Informationspaketen denkt, der lebt in der Buchkultur und perfektioniert sie. Sich diese Abhängigkeit trotz aller modernen Vokabeln und der Nutzung der neuesten Medien klarzumachen, fällt offenbar schwer und ist ohne eine systematische historisch-vergleichende Reflexion - zumindest für meine Generation - kaum möglich.

Ein weiterer Sinn des Vortrags lag darin, die Forderung nach einer Orientierung am Informationsverarbeitungs- und Kommunikationsideal von zielgerichteten Gruppengesprächen, wie sie sich in den Kampfbegriffen Multimedialität, Interaktivität, Teamarbeit u.ä. ausdrücken als eine logische Konsequenz der Mediengeschichte der letzten Jahrhunderte zu begründen. Insoweit habe ich auf die neueren Präsentationsformen und Ausstellungstechnologien als Datenmaterial gar nicht zurückgreifen müssen. Sie erscheinen eher als Bestätigung von Prognosen, die aus weiträumigen kulturellen Strukturen und langfristigen Dynamiken abgeleitet sind. Die historisch vergleichende Wissenschaft kann helfen, stabile Entwicklungen von Moden zu unterscheiden und insofern größere Planungssicherheit zu geben.[5]


[1] Wer an einer ausführlichen Darstellung interessiert ist, sei auf meine Bücher: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt 19983 und 'Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel - Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft', Frankfurt 19982 verwiesen.
 

[2] Nordamerika, das seine Identität viel weniger stark an die Buchkultur gebunden hat, verdankt seine momentane Vorreiterrolle in der Entwicklung und Reflexion neuer Technologien unter anderem genau der größeren Distanz und damit einer nüchterneren Einschätzung und geringeren sozialen Prämierung der Ideale der Buchkultur.
 

[3]
Andererseits sollten die Museen natürlich immer auch die Schwäche des monomedialen Buchmediums ausgleichen - ihnen eine multisensuelle Informationsgewinnung gegenüberstellen. Aber diese Aufgabe haben sie in den meisten Fällen nur ganz unvollkommen übernommen. Die Ausstellungsstücke blieben unantastbare 'Anschauungs'-Objekte.
 

[4] Vgl. I. Nonaka/ H. Takeuchi: Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen. Frankfurt 1997
 

[5] Die mit der Erforschung der Massenkommunikationsmedien beschäftigte 'Kommunikationswissenschaft' in Deutschland ist dazu allerdings nur ausnahmsweise in der Lage. Insofern sie sich kaum mit den face-to-face-Gesprächen beschäftigt hat, fehlen ihr alle Kategorien zur Erfassung multimedialer Kommunikation und zum Verständnis der komplexen Rückkopplungsphänomene.