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Michael Giesecke: Das Glasscheibenideal |
Die umfassendste Darstellung eines Modellbildungsprozesses samt einer konsequenten Reflexion seiner Prinzipien findet sich in den Werken von Albrecht Dürer, vor allem in seinen "Vier Büchern von menschlicher Proportion" (1538) und in der "Underweysung der Messung" (1525). Die Bedeutung Dürers für die Ausbildung der neuzeitlichen wissenschaftlichen Methodologie ist meines Erachtens bislang kaum hinreichend gewürdigt worden. Sieht man einmal von Leonardo Olschky ab, so werden die Arbeiten Dürers in der Fachliteratur - auch von seinem wohl bedeutendsten Biographen Erwin Panofsky - einseitig unter dem Aspekt der künstlerischen Darstellungsmethode behandelt. Im Grunde finden sich in seinem Werk aber die wesentlichen Prinzipien der neuzeitlichen ,beschreibenden‘ Wissenschaften ausformuliert: Verfahren zur Gewinnung visueller Daten, zu ihrer standardisierten Transformation in ,Beschreibungen‘ und zu ihrer weiteren Auswertung. An der folgenden Abbildung kann man das Ideal der neuzeitlichen Beschreibung gut veranschaulichen und einige Kategorien einführen. |
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Das Forschungssystem und seine Umwelt: Holzschnitt aus der 3. Auflage von 'Vier Bücher von menschliche Proportion', 1538. |
Links sehen wir das 'natürliche Phänomen', einen weiblichen 'Körper'. Er ist der Gegenstand der Darstellung, das Referenzobjekt. Davor - gleichsam als Grenze des Forschungssystems - steht senkrecht in einem Rahmen eine Glasscheibe, durch die der Körper von dem 'Betrachter' gesehen wird. Die Glasscheibe ist ein Hilfsmittel, um die vielen Dimensionen und die vielen Merkmale des Referenzobjekts systematisch zu reduzieren: Nimmt man an, daß das Objekt dreidimensional ist, so ist die Projektion auf der Scheibe und ebenso deren Übertragung in eine Zeichnung auf einem Blatt Papier zweidimensional.Außerdem werden nur die 'Umrisse', die der Betrachter auf der Glasscheibe - ideell oder faktisch - nachzeichnet, in das Forschungssystem projiziert. An sich hat weder der weibliche Körper noch ein anderer natürlicher Gegenstand eine 'Seite' oder eine 'Umrißlinie'. Die Reduzierung der Dimensionen und die Konstitution von Umrißlinien sind erst das Ergebnis einer spezifischen Beziehung zwischen dem Referenzobjekt und dem Betrachter, der in der Abbildung rechts im Bild zu sehen ist. Um diese Beziehung (oder Perspektive) konstant zu halten, ist auf dem Tisch ein 'Richtscheid' befestigt, über den das Auge des Betrachters mit immer gleichem Abstand den Beschreibungsgegenstand 'anvisiert'. Sein Standpunkt ist gleichsam fixiert, genau wie derjenige des Referenzobjekts und der Projektionsfläche. 'Umrißlinien' existieren an natürlichen Körpern nur als unendlich viele Möglichkeiten - bestimmte Linien treten nur hervor, wenn der Betrachter aus einem bestimmten Blickwinkel und mit einem konstanten Abstand den unbeweglichen - oder als unbeweglich vorgestellten - Körper betrachtet. Unter dieser Bedingung zeichnen sich beständig bestimmte Konturen von Körperteilen vor einem Hintergrund ab. |
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Bei diesem Text handelt es sich um einen leicht veränderten Ausschnitt des Exkurses "Die Logik der Modellbildung bei A. Dürer" In: Giesecke, Michael (1988): Die Untersuchung institutioneller Kommunikation, Opladen, 117-128. |