Die systematische Erzeugung von Unterschieden: Information als Nachricht
   
Wichtig ist für den Nachrichtenverkehr, dass diese Schwingungen regelmäßig erzeugt werden. Diese Trägerschwingungen sind aber an sich ebenso uninformativ wie das Schweigen (was ja auch eine Schwingung ist) oder das unbeschriebene Blatt Papier. Informativ werden für den Empfänger erst die Abweichungen, die dadurch entstehen, dass man mit geeigneten ,Minisendern' die Schwingungen in ihrer Amplitude (oder Frequenz) beeinflusst, moduliert. Der Empfänger ist auf einen bestimmten Schwingungsbereich eingestellt und registriert die Abweichungen. Information erscheint als Abweichung von Normalformen, als 'Unterschied' oder - in psychologisierender Redeweise - als Differenzerleben. So gesehen erweist sich die Fernmeldetechnologie als materielle Basis des Informationsbegriffs der Systemtheorie und anderer Schulen, die mit 'Unterscheiden' operieren.
Im Beispiel des Radios werden die ausgestrahlten Wellen durch Antennen eingefangen, im Rundfunkgerät verstärkt und in Stromimpulse umgewandelt, die dann ihrerseits eine Membran in dem Kopfhörer oder Lautsprecher proportional so in Bewegung setzen, dass wieder für uns hörbare Schallwellen ertönen. Man kann auch ausgehend von diesem Beispiel festhalten, dass Nachrichten abweichende oder wie etwa Luhmann sagt, ,informative Informationen' sind. Auch beim optischen Telegraphen musste man sich auf eine Ruhestellung, die uninformativ ist, einigen, um dann zu erkennen, dass er mit bestimmten Auslenkungen in Betrieb gesetzt wird. Dem gleichen Prinzip begegnen wir auch beim Fernsehen. Sein Grundbaustein, die nach dem Nobelpreisträger Carl Ferdinand Braun (1850-1918) genannte 'Kathodenstrahlröhre' (,Braun'sche Röhre') arbeitet ebenfalls nach dem Prinzip der Ablenkung. Der in der Röhre erzeugte gebündelte Strahl wird durch unterschiedliche Spannungen, die man an Ablenkplatten anlegt, systematisch in die verschiedenen möglichen Richtungen abgelenkt. Er erzeugt dann auf der fluoreszierenden Innenseite der Röhre jeweils an unterschiedlichen Stellen Lichtpunkte. Das entstehende Muster ist informativ, nicht der Lichtpunkt des abgelenkten Strahls.
Sowohl Maxwell, als auch Hertz, als auch die späteren maßgeblichen Entwickler des Fernsehens sind Naturwissenschaftler, Physiker, im neuzeitlichen Sinne gewesen. Ihre Entdeckungen waren, anders als jene des Pastors Chappe oder des Kunstmalers Samuel Morse oder auch des Taubstummenlehrers Daniel Bell Produkt ihrer theoretischen Neugierde. Ihre theoretischen Modelle regten sie zu Experimenten an, nicht irgendwelche alltäglichen praktischen Probleme ihrer Umgebung. Damit stellte sich vielleicht in der Nachrichtentechnik das erste Mal das Problem der Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis. Deutlich wird dieses Problem dann später im Zuge der Entwicklung des Fernsehens. Von K. F. Braun ist jedenfalls überliefert, dass er die Versuche seines Assistenten Max Dieckmann mit der Braun'schen Röhre Bilder zu erzeugen für eine ,artfremde Verwendung' hielt, ein ,übles Mätzchen, das ich mir in Zukunft verbitten lasse'. (Hadorn/Cortesi S. 167) Aber auch schon bei der Nutzung der Radiowellen gab es Überleitungsprobleme. Diese löste der Italiener Guglilmo Marconi (1874-1937). Er wollte die verschiedenen Entdeckungen auf dem Gebiet der elektromagnetischen Schwingungen kommerziell ausnutzen und suchte ein geeignetes Anwendungsfeld. Er fand es in der Funktelegraphie mit bewegten Objekten, vor allem mit Schiffen. 1901 sorgte Marconi auf seiner Schiffsreise von Southampton nach New York für größtmögliche Publicity für seine Produkte, indem er während der gesamten Reise in ständiger Funkverbindung mit England blieb. In unerhört kurzer Zeit machten sich die Kapitäne und Reeder die drahtlose Telegraphie zunutze. Spektakuläre Seenotrettungen, die aufgrund von Radioverbindungen gelangen, verstärkten den Siegeszug des neuen Mediums. Natürlich griffen auch die Militärs zu und rüsteten ihre Flotten mit Funktelegraphen aus, die freilich zu jener Zeit keine Botschaften in der Standardsprache, sondern lediglich Morsesignale weitergaben.
Der weitere Weg der Rundfunkentwicklung war im Grunde vorgezeichnet: Man brauchte sich nur am Beispiel der Telegraphie und des Telephons zu orientieren. Auch hier hatte man ja mit einfachen digitalisierten Signalen begonnen, um dann schließlich menschliche Sprache, Musik und andere Geräusche zu übertragen. Ab 1906 stand eine Technik zur Verfügung, die die für solche Übertragungen notwendigen 30 000 Schwingungen pro Sekunde erzeugte. Allgemein gilt der 24.12.1906 als Geburtsstunde der Radiosendungen.
Auch was die institutionelle Einbettung der drahtlosen Telegraphie anging, griff man auf die Erfahrungen der verkabelten Kommunikationssysteme zurück: Der Seefunkverkehr entsprach weitgehend den institutionellen Telephonnetzen der einzelnen Betriebe. Daneben etablierten sich aber auch sehr rasch Amateurfunker, die untereinander ,private' Nachrichten austauschten. Sie machten den Äther zu einem öffentlichen, jedermann zugänglichen Netz. Im Prinzip besaß er eine ähnliche Funktion wie der freie Markt für die Autoren und Leser - und wie die öffentlichen Telephonnetze für die einzelnen Fernsprechteilnehmer.
Auch die eigentlichen Radiosendungen, also die Nutzung der drahtlosen Telegraphie als Masseninformationsmedium zu den verschiedensten Zwecken war durch den Telephonrundspruch schon vorgezeichnet. Nicht nur in Amerika sondern auch in London, Paris und Budapest konnte man zur Jahrhundertwende zum Teil 12 Stunden lang Musik, Nachrichten und Marktberichte über das Telephon empfangen. Diese ,Gebrauchsdefinition' konnte von der Radioindustrie übernommen werden. In diesem Sinne prophezeite etwa David Sarnoff (1891-1971) 1916, dass er innerhalb von 3 Jahren eine 1 Mill. Radiogeräte verkaufen könnte, wenn man von geeigneten Sendern nur genügend Musik abspielte. Genau das machte 1919 der Funkamateur Frank Conrad, indem er ein Grammophon vor sein Mikrophon stellte und Musik abspielte. Er erhielt daraufhin nicht nur von seinen Funkerkollegen positive Rückmeldungen sondern auch Berge von Briefpost (bimedial!), mit Musikwünschen. Da sein privates Archiv recht bald nicht ausreichte, sprang ein benachbarter Schallplattenhändler ein und stellte ihm unter der Bedingung, dass Conrad für ihn Werbung machte, Schallplatten zur Verfügung. "Die Geburtsstunde des Radios als Massenmedium wurde so praktisch auch zur Geburtsstunde der elektronischen Werbung." (Hadorn/Cortesi S. 141)
Ob die Konzentration auf Musik als Informationstyp ausgereicht hätte, um dem Radio zum Durchbruch zu verhelfen, ist allerdings unklar. In Amerika mussten jedenfalls noch andere Informationstypen hinzutreten. Ein Meilenstein war die Übertragung der Präsidentschaftswahlen 1920, also politische Informationen, ein anderer die Übertragung des Boxkampfes zwischen Jack Dempsey und George Carpentier, 1921, also Sport. Mit dieser Ausweitung des Programmangebots war das Repertoireproblem des Radios eigentlich gelöst. Von Jahr zu Jahr entstanden mehr Radiostationen und wurden mehr Rundfunkempfänger verkauft. Die Durchsetzung des Radios wurde - anders als bei den älteren technischen Erfindungen - von der Industrie schon geschäftsmäßig betrieben.
1923 stellte der spätere amerikanische Präsident Herbert Hoover in einer Ansprache fest: "Wir sind in den letzten vier oder fünf Monaten Zeugen eines der erstaunlichsten Ereignisse der amerikanischen Geschichte geworden. Heute besitzen über 600 000 Menschen einen Empfänger für drahtlosen Rundfunk (manche schätzen, dass es eine Million sind), während es vor einem Jahr bloß 50 000 waren. Wir stehen an der Schwelle der Entwicklung eines Mittels zur Verbreitung menschlicher Erkenntnisse das von größter Bedeutung im Hinblick auf die öffentliche Wohlfahrt sein wird." (Hadorn/Cortesi S. 142)
Es ist schon merkwürdig, wie in der Geschichte der Neuzeit jedes Kommunikationsmedium, das sich allgemein durchsetzt, als ein Mittel der Aufklärung und der Verbesserung der sozialen Wohlfahrt gepriesen wurde!
Aber wie der Einführung der Schrift und des Drucks gab es natürlich auch Skeptiker. Der englische Oberpostmeister entzog der ,Marconi Company' 1920 die Versuchslizenz für Radiotests, weil sie die ,legitimen Dienste' des drahtlosen Telegraphie störe; ein Vertreter der schweizerischen Post beantwortete eine Bitte eines Radioclubs mit den Worten: "Nehmen Sie von mir die amtliche Erklärung an, dass wir das Radio in der Schweiz nicht aufkommen lassen werden. Ihr Institut ist also gänzlich zwecklos." (Hadorn/Cortesi S. 143) Schon 1917 hatten die Vorgesetzten des später ,Vater des deutschen Rundfunks' genannten Hans Bredow (1879-1959) die von ihm für die Frontsoldaten funktelegraphisch übertragenen Unterhaltungsprogramme mit den Worten ,grober Unfug!' beendet.
Während sich in Amerika die Programme zunächst aus dem Verkauf der Rundfunkgeräte und später dann aus Werbung finanzierten und sich erst naturwüchsig aus sehr vielen privaten Sendern große Rundfunkanstalten in privater Regie herausbildeten, hatte sich in England ab 1922 ein anderes Prinzip durchgesetzt. Die großen Radioproduzenten schlossen sich zur BBC (British Broadcasting Corporation) zusammen. Alle Gerätehersteller zahlten für jedes produzierte Gerät eine Steuer und die Benutzer zahlten Empfangsgebühren. Die BBC wurde später in eine halbstaatliche Monopolgesellschaft, die im ,königlichen Auftrag' zu senden hatte, umgewandelt. Ähnlich entwickelten sich auch die Verhältnisse im deutschen Reich. Der privatwirtschaftlichen Organisation des Rundfunks stand man skeptisch gegenüber. Der Rundfunk wurde als eine öffentliche staatliche Angelegenheit organisiert und aus den Gebühren der Rundfunkteilnehmer finanziert.
 

www.kommunikative-welt.de Geschichte ©Michael Giesecke