Kurvenmodelle des Wechsels von Chaos und Ordnung
   
Ein Spezialfall des Veränderungskonzeptes ist das Modell des Wechsels zwischen Chaos und Ordnung. Es entsteht, wenn man die Modelle der Struktur- bzw. der Systembildung und der Struktur- bzw. Systemauflösung miteinander verknüpft. Daraus erwächst ein Modell der Veränderung als beständiges Auf und Ab zwischen Systementwicklung und Systemauflösung. Die Abbildung fasst dieses Verständnis in einem einfachen Schema zusammen.
Schema: Kurvenmodell des Wechsels von Chaos und Ordnung

Dieses vor allem in der Synergetik verwendete Grundverständnis physikalischer, biogener, sozialer u. a. Prozesse wird von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen aufgenommen.[1]

Jeder Ordnungsprozess 'versklavt' zuvor unabhängige Teile, vergrößert also ihre Abhängigkeit, wie vor allem die synergetische Schule in vielen Beispielen deutlich gemacht hat. In der Darwinschen Evolutionslehre etwa wird nach dem Stadium der Variation eine Phase der Auswahl und Regelung angenommen, in der sich Organismen und Arten stabilisieren. Erneute Variation vergrößert dann wieder die Selektionsmöglichkeiten. Auch sozialen Systemen wird ein ähnlicher Zyklus der Erneuerung zugeschrieben. So unterscheidet Ed Schein in seinem Modell der Organisationsentwicklung (OE) bei Unternehmen etwa zwischen der Gründungsphase (Formation), einer (zweiten) Reifungsphase, in der sich Strukturen stabilisieren, und schließlich einer Niedergangsphase, die entweder in der Auflösung des Unternehmens oder in einer Neuordnung mündet.[2]

Legt man eine strukturelle System- oder Netzwerktheorie zugrunde, so lassen sich die in diesen Ansätzen beschriebenen Prozesse – und das Kurvenmodell – einmal als Reduktion von Vernetzungs- und Selektionsoptionen (Komplexitätsreduktion, Auswahl und Regelung) verstehen. Zum anderen vergrößert die Struktur- und Systemauflösung die Auswahl von Vernetzungsalternativen (Komplexitätssteigerung, Variation).

Die unerreichbaren Pole der y-Achse in dem Kurvenmodell der Abbildung sind einerseits vollständig geschlossene Systeme und andererseits Netzwerke, in denen alles mit allem verbunden ist und keine Selektionsbeschränkungen bestehen.

Wann Strukturarmut/Variationsreichtum als Chaos bzw. Strukturbildung als Ordnung definiert wird, entscheidet der Beobachter bzw. die Kultur. Er kann den 0-Meridian (die t- bzw. x-Achse) verschieben, und er kann die Wertmaßstäbe dafür, was als Chaos und was als Ordnung gilt, verändern, ggf. auch vertauschen. Bei informationsverarbeitenden Phänomenen, die sich - wie soziale Systeme, Menschen und Kulturen - selbst beobachten, findet immer auch eine Bestimmung des Verlaufs der eigenen Entwicklung statt. Die Selbstwahrnehmung beeinflusst den Kurvenverlauf. Dieser Aspekt wird durch Selbstorganisationskonzepte betont und herausgearbeitet.[3]

Jede konkrete Beschreibung, auch Selbstbeschreibung, und jede Beschreibungstheorie kann aus der Veränderungskurve mehr oder weniger große Abschnitte auswählen und sie zu einem ausschließlichen Beschreibungsgegenstand machen. Bei langlebigen Phänomenen ist eine solche Sequenzierung des Zyklus kaum zu vermeiden. Entsprechend entstehen Aufstiegs- oder Niedergangstheorien, System- oder Chaostheorien – je nachdem, mit welcher Phase einer Entwicklung sich die Theoretiker beschäftigen.

Wenn beispielsweise Betriebe und Unternehmen unter betriebswirtschaftlichen Aspekten oder den Gesichtspunkten des Managements untersucht werden, dann stehen Strukturbildung und der Systemerhalt im Vordergrund. Auch die Techniksoziologie sieht historische Prozesse vorwiegend unter dem Aspekt von Innovation, Selektion und und Institutionalisierung.[4]  Mit der chaotischen Gründungsphase beginnt man sich erst langsam unter dem Stichwort 'Existenzgründung' zu befassen, und das Streben von Unternehmen wird ebenfalls erst jüngst durch Schulen wie die OT (Organizational Transformation) zu einem ernsthaften Analyse- und Beratungsgegenstand.[5]  Andererseits hat es kulturgeschichtliche Niedergangstheoretiker, meist bar der Fähigkeit, dem Chaos etwas Positives abzugewinnen, immer wieder gegeben.[6]

Eine gezielte Beschäftigung mit dem Chaos-Quadranten ist Naturwissenschaftlern wie z. B. Benoît B. Mandelbrot [7], Edward A. Feigenbaum oder Hermann Haken leichter gefallen als Sozial- und Kulturwissenschaftlern.

Insgesamt kann man besonders in den Human- und Kulturwissenschaften ein deutliches Defizit im Bereich der Strukturauflösungs- und Chaostheorien – und damit einhergehend in den einschlägigen empirischen Analysen – feststellen. Das Versagen der Sozialwissenschaften angesichts des Zerfalls des sozialistischen Herrschaftssystems – kaum jemand hat ihn vorausgesehen, niemand den Ablauf modellieren können - ist ein Beispiel. Ein weiteres wäre die Hilflosigkeit der Humanwissenschaften gegenüber Tod und Sterbehilfe; ein drittes die Unternehmensberatung, die erst langsam Auflösungs- und radikalen Umstrukturierungsprozessen einen höheren Stellenwert zubilligt.

Ein viertes Beispiel ist das Ringen um ein Verständnis der gegenwärtigen Transformationsphase der postindustriellen Gesellschaft.

 

 
[1]  Vgl. Hermann Haken: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken. Stuttgart 1981 u.ö. sowie ders. (Hg.): Chaos and Order in Nature. Berlin/Heidelberg 1981, Vgl. auch Jürgen Kritz: Chaos und Struktur, Systemtheorie, Bd. 1. München 1992.
[2]  Edgar H. Schein: Unternehmenskultur: Ein Handbuch für Führungskräfte. Frankfurt 1995.
[3]  Gilbert J. B. Probst: Selbstorganisation. Ordnungsprozesse in sozialen System aus ganzheitlicher Sicht. Berlin/Hamburg 1987
[4]  Vgl. z. B. Werner Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive. Opladen 1993, hier insbesondere 45ff.
[5]  Vgl. Jürgen Ebeling: Organsationstransformation. In: Agogik Nr. 1, 1993, S. 45f oder Linda S. Ackermann: Development, Transition or Transformation. The Question of Change in Organizations. In: O. T. - Practioner Nr. 4, 1986, S. 1-8.
[6]  Vgl. Reinhard Koselleck und Paul Widmer (Hg.): Niedergang. Stuttgart 1978.
[7]  Die fraktale Geometrie der Natur. Basel, Boston 1987, zuerst 1977

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