Bewegte Bilder
   

Der Cinématographe Lumière enthält alle prinzipiellen Elemente, die filmtechnisch bis heute Bestand haben: Für die Filmaufnahme wird ein perforierter Zelluoidstreifen am Bildfenster vorbeigeführt. Jedes Bild steht vor dem Bildfenster zur Belichtung kurzzeitig vollkommen still, wobei die ruckweise Fortbewegung des Films über einen Greifermechanismus mit Exzenterscheibe erfolgt. Während der Transportzeit verhindert eine zwischen Objekt und Bildfenster rotierende Sektorenblende, dass Licht auf dem Film fällt.

Da die Arbeitsweise des Greifens bei häufiger Vorführung einer Kopie deren Perforation zerstört, verwendet der Deutsche Oskar Messter von 1896 an das für Filmprojektoren bis heute gebräuchliche vierarmige Malteserkreuz. Dabei beträgt das Kreuz die Antriebsbewegung auf eine Transportwalze, deren Zähne in die nunmehr acht Perforationslöcher des Filmbildes eingreifen. Dadurch vermindert sich die Belastung der einzelnen Projektionslöcher gegenüber der ursprünglichen Anzahl von zwei Löchern je Bild erheblich.

Das Geniale am Malteserkreuz -System ist, da der Mechanismus den Film in seinem optimalen Zeitverhältnis abwechselnd bewegt und festhält. Eine Antriebswelle rotiert mit gleichmäßiger Geschwindigkeit. Zu Beginn einer Umdrehung greift der Stift der Stiftscheibe in den Schlitz des Malteserkreuzes, das durch eine Achse mit der Transportwalze verbunden ist. Solange der Stift in das Kreuz eingreift, bewegt sich der Film.

Spätestens von diesem multifunktionalen Entwicklungsstand dieses ,filmischen' Mediums an entbrannte die bis heute währende Diskussion um die synthetische Wirklichkeit und ihr Verhältnis zu einer anderen ,Realität'. Schon die Gebr. Lumière hatten die naturgetreue' Wiedergabe der Filme gelobt und diese Lebensnähe tauchte werbewirksam auf Plakaten oder auch in den Interviews der Regisseure auf. (Erich von Stroheim, 1895-1957: "Der Film ist das einzige Mittel, das fähig ist, das Leben wiederzugeben, wie es ist." Hadorn/Cortesi S. 200)

Während beim Theater die Illusion durch das besondere Bühnensetting immer wieder als solche bewusst wurde, setzte sich die Idee fest, der Film bilde die Wirklichkeit naturgetreu ab. Das muss zunächst einmal paradox erscheinen, wenn man sich klar macht, dass der Film fortgesetzt konstruktive Akte verlangt. Aber es scheint so zu sein, als ob man die alte Idee, dass das Auge nur passiv Informationen von außen empfängt, auch auf seine Technisierung in die Filmkamera und die Projektionsgeräte überträgt.

Zwar ist der Grad dieser Konstruktivität bei den einzelnen Gattungen unterschiedlich, bei den ,Dokumentarfilmen' geringer als bei den Spielfilmen und bei den Trickfilmen wiederum höher, doch alle diese Gattungen sind auf das Schneiden des Rohmaterials und auf Montage der Schnitte angewiesen. Die Kamera und die Materialität der Medien zwingt uns, ihre Blickrichtung und ihre Geschwindigkeit auf. Während uns etwa die Fotographie es noch erlaubt, unser Wahrnehmungstempo selbst zu bestimmen, verlieren wir diese Freiheit beim Film. [6]

 
Film, ein Multimedium

Die allmähliche Dynamisierung des Bildes durch Medien wie die bereits im 17. Jh. entwickelte Laterna Magica, das Mutoskop vom Ende des 18. Jh. oder typische Spielzeuge der ersten hälfte des 19. Jhs. wie Lebensräder und Bildertrommel verdichtete sich entscheidend in den 1890-er Jahren und reifte zum Film.

Dokumentation: Metropolis

Gut dreißig Jahre dauerte es noch bis sich Film als ein Massenmedium etablieren und endgültig institutionalisieren konnte. Den Filmenthusiasten, die auf das frische künstlerische und informative Potenzial des blühenden Mediums pochten wiedersetzten sich in den Anfangsjahren des Kinos die s. g. Kinoreformer. Als Gegner der unbegrenzten Ausschöpfung des jungen Mediums - und damit des menschlichen Schöpfungs- und Wahrnehmungspotenzials - warnten sie sowohl vor der negativen ideologischen Wirkung als auch vor dem durch Filmkonsum möglichen Gesundheitsschaden.

Die technische Überlastung der Sinne wie auch die offenbar ansteigende inhaltliche Sittenwidrigkeit des Films verdürben vor allem die Kinder: Zerstreutheit, Oberflächlichkeit, Nervosität, Gefühlsverwirrung und schließlich Hysterie waren wissenschaftlich festgestellte Folgen und die stärksten Gegenargumente des Kinobooms. Der Film hatte anfangs überwiegend dokumentarischen, schon bald aber zunehmend fiktiven, phantastischen Wert. Die multikulturelle Orientierung des Stummfilms spielte - samt seines kabarettistischen Ursprungs - mit der allgemeinen Blick-, ja Erfahrungserweiterung des damaligen westlich sozialisierten Menschen gut ineinander.


[6] Hans Scheuser: Das große Flackern. Agenda 4/1992, S. 21-23, hier 23.
 

www.kommunikative-welt.de Geschichte ©Michael Giesecke