Kinematographische Wirklichkeit
   
Der Stummfilm verkoppelte sich schon sehr früh mit Musik und die Zwischentitel steigerten den multimedialen Anspruch des Kinoerlebnisses um eine Weiteres. Die Musik sprach durch Rhythmus und Melodie überwiegend die Emotionen an und suggerierte die Stimmung, wobei die Zwischentitel für die möglichst eindeutige Entfaltung der Fabel sorgten. Weitere beachtliche multimediale Dürchbrüche verbuchte der Stummfilm - als Konkurrenzmedium des Theaters - auch im Bereich der Gestik und Mimik, also der Schauspielkunst. Die pantomimyschen Ausdrucksformen mussten einen Grossteil des Verbalen ersetzten, besonders noch die sublimsten Nuancen menschlicher Kommunikation - ein wesendlicher Beitrag zur allgemeinen körperlichen Emanzipation der Zeit.
 
Was die massenweise Rezeption im Kino anbelangt, erfuhren die synästhetischen Potenziale des neuen Mediums durch den Aufstieg des Tonfilms in den späten 20-er Jahren wohl die entscheidende Blockade. Der Hollywood Film erschien ‚wahrheitsgetreuer', Geschichten konnten (wieder) linear, stringent erzählt werden. Der Anspruch auf simultane Wahrnehmung verlagerte sich auf filmische Avantgarden (Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Konstruktivismus). Vertreten überwiegend durch formalistisch-politische künstlerische Bestrebungen und aus der Öffentlichkeit zum ‚Experiment' gebannt, bekam die filmische Innovation stärkeren Aufschub erst mit dem Autorenfilm und unabhängigen Produktionen der späten 60-er und 70-er Jahre. Als die amerikanische Stummfilmindustrie 1927 ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte, erkannte man, dass die sinkenden Zuschauerzahlen nur mit dem Tonfilm, der schon seit 1924/25 ausgereift war, entgegenzutreten waren. Interessanterweise wurde vor allem in Europa, aber auch in den USA der Tonfilm anfangs nur zurückhaltend begrüßt:
Abb: Annonce (Ausstellungskatalog ‚Weimarer Republik', Zwanziger Jahre, S. 439/S. 463.)
 
Der Tonfilm revidierte im Sinne eines neuen Realismus die vertraute, aus dem Theater bekannte literarische Rede. Vom Text (als Figurenrede und Narration wie auch Drehbuch) koppelte sich Film später nur noch ausnahmsweise ab (z. B. in der radikalen Videokunst). Auch Musik etablierte sich als die übliche Begleiterin und schuf sogar eigene Genres wie z. B. den Filmmusical oder etwas später den Videoclip.
 

 

www.kommunikative-welt.de Geschichte ©Michael Giesecke