Die Ausdifferenzierung der visuellen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung
   
Synästhetische Wahrnehmungsprozesse entsprechen dem Entwicklungsstand der Arbeitsteilung. In allen vorindustriellen Epochen (mit entsprechend niedrig entwickelter Arbeitsteilung) muss man also davon ausgehen, dass die interne Differenzierung des psychischen Apparates wenig ausgeprägt war. Das heißt, die bildhaften Darstellungen lassen sich nicht eindeutig auf visuelle Eindrücke zurückführen, sondern sie sind das Ergebnis komplexer psychischer Informationsverarbeitungsprozesse, in die auch Informationen aus ganz anderen Sinnesquellen eingehen. Es gibt keine direkten Beziehungen zwischen den wahrgenommenen Lichtreflexen der Umwelt und den Strukturen der Abbildung. Vorerfahrungen, Wissen, Wünsche, Ideologien bestimmen die Verarbeitung der visuellen Informationen. Voraussetzung und Folge jeder Normierung von beliebigen psychischen, sozialen und anderen Prozessen ist ihre Isolierung aus dem Gesamtzusammenhang der Aktivitäten. Es spricht viel dafür, dass die Technisierung der verschiedenen Phasen des Informationsverarbeitungsprozesses den stärksten Anstoß zu solchen Differenzierungen bietet.
 
In der Fachliteratur wird dieses Problem unter vielerlei Überschriften behandelt: Die Semiotik unterscheidet zwischen einem ,icon', einem Abbild also mit hoher morphologischer Ähnlichkeit zu den abgebildeten ,Dingen', und dem ,Symbol', das nur eine ,konventionelle, soziale' Beziehung zu den ,gemeinten' Gegenständen besitzt. Die Kunstgeschichte unterscheidet zwischen einer realistischen Malerei und stilisierten bis hin zu abstrakten Abbildungen. Die Schrifthistoriker gehen davon aus, dass die Schriftzeichen am Anfang ,piktographisch' gewesen seien, also versucht hätten, den Gegenständen zu ähneln und dann aber schrittweise abstrahiert wurden. Jeder Schreiber mußte in den späteren Phasen die ,Zeichen' für die Dinge mühsam lernen. Was er dabei lernte, sind natürlich die sozialen Normierungen, die die betreffende Kulturgemeinschaft vorgenommen hat.
 
Die informationstheoretische Betrachtensweise läßt diese Unterscheidungen in einem neuen Licht erscheinen. ,Naturalistische' oder ,realistische' Abbildungen entstehen dann, wenn der Prozessor möglichst ausschließlich optische Informationen prozessiert. Alle Stilisierungen sind darauf zurückzuführen, dass zusätzliche soziale Informationen, die zum Beispiel aus gehörten sprachlichen Vereinbarungen stammen, in die Abbildung mit eingeflossen sind. Man könnte so gesehen die stilisierten Abbildungen als ,multimediale' Produkte bezeichnen. Ihr Gegenteil, die naturalistischen (fotorealistischen) Abbildungen, erscheinen vor diesem Hintergrund als ein Ausdifferenzierungs- oder Spezialisierungsprodukt: Von den vielfältigen Informationen, die der Mensch aus den vielfältigsten Quellen bezieht, werden eindimensional, nur optische Informationen, bei der Bilderstellung berücksichtigt. Erst bei dieser ausdifferenzierten Form der Informationsverarbeitung macht es Sinn, von einer Bildreproduktion zu sprechen. In den anderen Fällen werden eben nicht nur Bilder sondern auch ganz andere Informationstypen in mehr oder weniger schöpferischer Weise integriert und präsentiert.
 
Bei Bildverarbeitung im Sinne der Dürer-Perspektive fordert die soziale Standardisierung bis in die frühe Neuzeit hinein eigentlich nicht eine Ausdifferenzierung der Sinne, sondern im Gegenteil, ihre ganzheitliche Behandlung, was in der Literatur zuweilen auch positiv hervorgehoben wird.
 

 

www.kommunikative-welt.de Geschichte ©Michael Giesecke