Konstruktivität des Films
   
Durch die gesteigerte Geschwindigkeit, Flüchtigkeit und Fragmentierung als Merkmalen des damaligen ästhetischen und gesellschaftlichen Moments - das alles infolge seiner technischen Beschaffenheit - nahm der Film organisch eine zunehmend konstruktiv(istisch)e Entwicklung. Die veränderte Raum- und Zeit-Wahrnehmung und der fiktive Charakter des Spielfilms erzwangen komplexe Balancemechanismen an der Seite der industriellen Produktion, z. B. die streng vorkonstruierten Akten wie Casting, Aufteilung in Drehtage und Szenen, Kulissenbau, weiterhin die strenge Hierarchie im Team und Personenkult-Bildung wie auch die früher unbekannte Sterilität des Studios.
Abb: Produktionsplan für einen Drehtag von "Mississippi Burning" mit präziser zeitlicher Planung der Crew, der Schauspieler, der Hintergründe und Statistiken und der zu verwendenden Gegenstände, wie z. B. Waffen und FBI-Ausweise.
 

Die gesteigerte Fiktionalität des Films wurde durch neue filmtechnische Verfahren, die ohnehin reichlich aus anderen Bereichen schöpften (z. B. die Filmmontage aus der photographischen Collagetechniken usw.), noch intensiviert. Die unlogischen, unkausalen Konstrukte orientierten sich anfangs an den wenigen verwertbaren Konventionen der traditionellen Medien wie Bühnenkünste und Literatur, aber auch Musik und Malerei und natürlich der frühen Performance-Kunst (z. B. Dada). Bald erstellten sie, im Laufe der oft multimedial angesetzten künstlerischen Bewegungen, eigene Muster wie Rückprojektion, Objektivmasken, Stopptrick, Rücwärtslauf, verschiedene Simultanitätsverfahren und Schnitttechniken wie z. B. Zeitraffer. Die Kamera war aber nicht nur das am besten geeignete Medium, um Bewegung festzuhalten, sie begann sich schon früh auch ‚selber' zu bewegen. Bereits um 1900 wurde sie mit der Eisenbahn kombiniert; Oskar Messter gelang es 1915 eine halbautomatische Fliegerfilmkamera zu bauen; Guido Seeber koppelte im Ersten Weltkrieg eine Kamera mit dem Maschinengewehr des Flugzeugs und steigerte paradigmatischerweise die Treffgenauigkeit der Schützen. (Vgl. zum Thema Verkehr und Kino: Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. München u. Wien 1986, S. 19-36 bzw. Ders.: Rasender Stillstand. Essay. München u. Wien 1992, S. 52-54.)

Mov: Filmaufnahmen aus einem Kampfflugzeug (Quicktime, 1,1 Mb)

Die Annäherung der Kamera-Aufnahmen and die menschliche Seh- und später Hörweise ist vielleicht die anschaulichste Zuspitzung der Verschmelzungsphänomens Mensch-Maschine. Das Wahrnehmungs- und Produktionsmuster wurde - wie schon bei der Laterna Magica - ‚spiegelweise' umgekehrt. Das natürliche Auge wurde durch die maschinelle Variante dessen ersetzt, was wiederum zu einer intensiveren Reflexion über die Entmenschlichung im Techno-Paradigma führte. Der Körper emanzipierte sich allmählich zu den Bedingungen seiner physischen, technisierten Umgebung:

"Ich bin das Kinoauge. Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann. Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit. Ich bin in ununterbrochener Bewegung, ich nähere mich Gegenständen und entferne mich von ihnen, ich krieche unter sie, ich klettere auf sie, ich bewege mich neben dem Maul eines galoppierenden Pferdes, ich rase in voller Fahrt in die Menge, ich renne vor angreifenden Soldaten her, ich werfe mich auf den Rücken, ich erhebe mich zusammen mit Flugzeugen, ich steige und falle zusammen mit fallenden und aufsteigenden Körpern." (Dziga Vertov: Schriften zum Film. Zit. nach: Paul Virilio: Krieg und Kino, S. 35f.)

Zwecks Verdichtung und Illusionierung verlangen die visuellen Effekte des Films beim Zuschauer ebenso hoch konstruktive Akten wie beim ‚Produzenten'. Schnelle Schnittfolgen, subjektive Kamera (Guckloch-Perspektive, Traumsequenzen), die Bildteilung und die Rückblende brachen schon im frühen 20. Jh. mit den Perspektiven- und Blickkonventionen und zwangen zur Umschulung der visuellen Wahrnehmung. Die oft manipulativ eingesetzte Filmmusik und audielle Spezialeffekte kulminierten im Videoclip des ausgehenden 20. Jhs. Auf die heutigen Bestrebungen zur Virtual Reality erinnerte die Suche nach gesteigerter fiktiven Erfahrung, nach totaler Immersion. Im Kino experimentierte man schon früh mit Einsatz von Duftgeneratoren, bald bemühte man sich noch mit komplexen Klimaanlagen (Luftfeuchtigkeits- und Wärme Effekte) und Gleichgewichtssimulation (3D-Kino, Flugsimulatoren).

Mov: Eine computergenerierte Landschaft (interaktiver 'Virtual Reality Raum' als 360° Quicktime Datei,155Kb)

Ein gewisser Erfolg der Immersionstechnologie wird beim heutigen Entwicklungsstand jedoch höchstens in realitätsferneren Bereichen der Freizeitindustrie verbucht. Offenbar reicht für den Durchnittsbenutzer zur Zeit der bimediale Hightech noch völlig aus. Die dreidimensionale Tontechnik ist in letzter Zeit nicht nur in den Kinos, sondern generell dem westlichen Jedermann gut Heimkino und Surround-Systeme koppeln sich aber wiederum am stärksten mit der entertainerischen Film- und Computerspielindustrie. Multisensorische Sinneserfahrung mit echter Rückkopplung wäre zur Zeit vielleicht im Schnittbereicht vom interaktiven Fernsehen und Computernetzen (samt VR) als zukünftiger multimedialer Kommunikationsplattform erst anzuvisieren. Und doch gewinnt - als besonderer, isolierter Ort - das Kino durch seine soziale Räumlichkeit immer wieder den Kampf gegen die Inflation der Reize. Als Alternative zum Wohnzimmer-gebundenen Multimedia Entertainment bietet er dem psychisch und physisch überforderten Individuum den vielleicht geselligsten Fluchtpunkt.

Als (gewöhnlicherweise) bimediales, chemisch-physikalisches Speichermedium ist Zeluloid gut geeignet, (wie auch immer) Flüchtiges in der Benjaminschen Reproduzierbarkeit festzuhalten. Diese gründet in dem relativ konstanten Charakter des Speichers, wobei das Fernsehen - obwohl durchaus speicherbar - eher auf die Dynamik der Informationsvermittlung setzt. Durch elektronische Kodierung gewinnt die jeweilig vermittelte Bild/Ton Sequenz an der postmodernen Qualität des Ephemeren und verfolgt damit die allgemeine Tempobeschleunigung, die Verflüchtigung der Eindrücke. Gute Filme schaut man sich gerne mehrmals an, wobei ‚typische' Fernsehsendungen (ausgenommen im Fernsehen vermittelte, oft aufs Videoband aufgenommene Filme, Videoclips etc.) für den Konsum am multikanal Fließband bestens geeignet sind.

Auch die begrenzten Rückkopplungsmöglichkeiten (Einwirkung der Zuschauer auf das Produkt) des Fernsehens im Sinne vom Zappen sind beim Film umso geringer. Nicht nur die Form also, auch der Bedeutungsgehalt der im Fernsehen ‚direktübertragener' Information ist von der Filmischen getrennt zu behandeln, obwohl die beiden oft ineinander fließen. Dabei war es vor dem Fernsehen-Zeitalter genau der Film, der die dynamische dokumentative Berichterstattungsfunktion der Tages- und Wochenzeitung, wie auch des jährlichen Almanachs etc. - zwar nur teilweise, immerhin mit steigernder Präzision und multimedialer Kredibilität - übernommen hat.

* Einzelne Daten wie auch die Filmausschnitte der Kapitel über Film entstammen der Webseiten des Projekts "
Visuelle Zeitenwende"der interdisziplinären studentischen Arbeitsgruppe der Humboldt Universität Berlin (1997).

 

 

www.kommunikative-welt.de Geschichte ©Michael Giesecke