Fliesstext Dokumentation und Notation nonverbaler Kommunikation
   
Standpunkte und Perspektiven der Verhaltensbeschreibung
Die Beschreibung des sogenannten nonverbalen, sichtbaren Verhaltens erfolgt nacheinander von verschiedenen Standpunkten und mit verschiedenen Perspektiven.
 
Die Standpunkte der Beschreibung:
Grundsätzlich lassen sich drei Typen von Standpunkten/Positionen unterscheiden, aus denen eine Beschreibung nonverbalen Verhaltens im Rahmen der Kommunikativen Sozialforschung vorgenommen wird:
- Die Position der (verschiedenen) Beteiligten (Normalposition)
- Die (mehr oder weniger zu konstruierende) Vogelperspektive
- Die Position eines außenstehenden, unbeteiligten Betrachters der Interaktion.
Um diese Positionen überhaupt einnehmen zu können, ist eine Datenerhebung mit mehreren Kameras (Positionen der Beteiligten) erforderlich. Zusätzlich sollten Feldnotizen und ggf. Skizzen zur Vogelperspektive gemacht werden.
 
Beschreibungsperspektiven:
Bei der Beschreibung des sichtbaren Verhaltens sind mindestens drei Perspektiven oder Wahrnehmungsprogramme zu unterscheiden:
- Die formale morphologische Beschreibung.
- Die soziale Paraphrasierung.
- Die psychologische Deutung.
 
Die formale morphologische Beschreibung
Die formale morphologische Beschreibung erfolgt aus dem Blickwinkel eines unbeteiligten Wissenschaftlers. Legt man das Ablaufschema der Kommunikativen Sozialforschung zugrunde, so gehört diese Beschreibung in die Phase der Datendokumentation. Sie hat die gleiche Aufgabe wie die Transkription des verbalen Verhaltens bei den Gesprächsanalysen. (Vgl. das Kap. 8 in dem Skript 'Methoden der Kommunikativen Sozialforschung'). Wie diese die Tonaufzeichnungen noch einmal selektiv in ein neues Medium transformieren, so soll auch die morphologische Beschreibung das Videomaterial, welches ja selbst schon eine selektive Dokumentation der Ursprungssituation ist, vereinfachen. Es soll eine intersubjektiv verlässliche Datenbasis entstehen. Die Auswerter sollen wissen, auf was genau sie sich beziehen, wenn sie mit ihren Paraphrasen und Deutungen einsetzen. Dies ist bei dem nur schwach sequenzierten Videomaterial nicht immer gegeben.
Für diese strikt kodierende Beschreibung wurden in der Nonverbalforschung in den vergangenen mehr als 30 Jahren Notationssysteme und Termini entwickelt. Die Grundidee dieser Notationssysteme ist es, die Gestik und Mimik, das instrumentelle und lautsprachliche Verhalten des Menschen in verschiedene Dimensionen zu zerlegen.
Die gründliche Beschreibung von Siegfried Frey, die aus der Berner psychologisch-verhaltenswissenschaftlichen Arbeitsgruppe (Mario von Kranach, Kalbermatten, H.-P. Hirsbrunner usf.) hervorgegangen ist, unterscheidet 113 Dimensionen, wobei neun Dimensionen für die Kodierung des akustischen Mediums verwendet werden. Die nachstehende Abbildung gibt einen Überblick über die bei morphologischen Beschreibungen zu berücksichtigenden Körperteile.
 
Abb.: Dimensionen menschlichen Verhaltens als Informations- und Kommunikationsmedium (Frey)
 
I. d. R. wird bei der Beschreibung der Stellung und Bewegung der einzelnen Körperteile von einer Nullstellung ausgegangen und dann notiert man die im empirischen Material vorfindlichen Abweichungen. Bei den Körperbewegungen sind vor allem drei Klassen von Veränderungen zu berücksichtigen. Die Bewegung kann
- sagittal (Heben, Beugen),
- rotational (Drehung) oder
- lateral (Seitkippung)
sein. Zur Veranschaulichung sei das Kodierungsschema für die Kopfpositionen von
S. Frey (ebd.) angeführt.
 
Abb. Kodierungsschema für Kopfpositionen (Frey)
 
Weitaus schwieriger als die Bewegung der Gliedmaßen lässt sich die Mimik formal morphologisch beschreiben. Die genauesten Kodierungssysteme gehen hier von den Gesichtsmuskeln und den verschiedenen Zuständen ihrer Erregung und Hemmung aus. Dies setzt physiologische Kenntnisse voraus, die nebenbei kaum angeeignet werden können. (Vgl. z. B. P. Ekman/W. V. Friesen: Facial Action Coding System. Palo Alto (Consulting Psycologists Stress) 1978) Etwas einfachere Systeme werden von Adam Kendon verwendet. Die nachstehende Abbildung vermittelt einen Eindruck von dem Notationssystem, mit dem er Kopfbewegungen und Mimik beschreibt.

 

Abb. Notationsbeispiel nach dem Schema von A. Kendon
Parital extract from the film-transcript showing a long utterance exchange
 
Für die meisten Belange sind, wie die Geschichte der Nonverbal-Forschung u. E. zeigt, solche differenzierten Zerlegungen des menschlichen Verhaltens nicht notwendig. Die Datenberge, die sich in den 70er und 80er Jahren in den großen Nonverbal-Projekten aufgehäuft haben, sind kaum überschaubar. Andererseits lassen sich die gesicherten Ergebnisse dieser Projekte über kommunikative Phänomene auf wenigen Seiten zusammenfassen. Viele Mikrobewegungen sind offenbar nicht informativ für die Beteiligten in kommunikativen Interaktionen. Als Grundregel sollte der Kommunikationswissenschaftler im Auge behalten, dass nonverbales Verhalten nur so genau beschrieben werden muss, wie es für die Beteiligten in der Kommunikation orientierungsrelevant und handlungsleitend ist.
In diesem Sinne reichen zur morphologischen Beschreibung oftmals schon einfache anschauliche Schematisierungen des Bewegungsverhaltens aus. Kommunikationsforscher haben einen anderen Objektbereich als Verhaltenswissenschaftler /Ethologen und Psychologen. Andererseits muss der Kommunikationsforscher in Abgrenzung vom Verhaltensforscher immer mindestens zwei Kommunikatoren und deren Beziehung berücksichtigen. Eine Analyse z.B. der Mimik und Gestik einer Person ohne Rücksicht auf deren Wirkung auf andere Personen erfüllt für sich noch nicht die Bedingungen einer Kommunikationsanalyse.
Wir geben nachfolgend ein Beispiel für die Schematisierung für Armbewegungen aus der Normalperspektive und gehen dabei von zwei Personen, A und B (vgl. die Tabelle) aus. Ähnlich lassen sich die Beinhaltungen kodieren.
 
Abb. Kodierung der Armhaltung
 
Am günstigsten dürfte es letztlich sein, wenn man mäßig schematisierte Umrisszeichnungen der relevanten Aspekte des Videomaterials vornimmt. Möglicherweise lassen sich hier nach der Digitalisierung von visuellen Daten neue Wege finden. Die Abbildung 16 im Kapitel 'Die Analyse nonverbaler Kommunikation in Institutionen' von Adam Kendon zeigt, wie anschaulich man Gestik und Körperhaltung durch Umrisszeichnungen wiedergeben kann.
Lassen sich solche Schemazeichnungen nicht anfertigen, sollten alle wichtigen Sequenzen durch Fotos (vom Video, Videoprint) dokumentiert werden - was eine bloß fototechnische Formalisierung bedeutet. Insbesondere die Ausgangs- und Endstellen der Mikroanalyse müssen in dieser Weise erfasst werden.
Bei der formalisierten Beschreibung nonverbaler Kommunikation sollte man darauf achten, dass bei der Notation der Veränderungen im leiblichen Verhalten und der Bewegung im Raum durch einfache Symbole die Anschaulichkeit nicht verloren geht. Ein eher abschreckendes Beispiel liefern die sehr genauen Kodierungen von R. L. Birdwhistell (Kinesics and Context, Harmondsworth 1971; Vgl. die Kopie im Skript 'Methodenlehre', S. 86 B) und die Zahlenkolonnen von Frey et. al. Ein etwas weniger komplexes System hat E. T. Hall für die Notation der verschiedenen Informationsmedien ("Kanäle") entwickelt. Hieraus sei ein Ausschnitt in der folgenden Abbildung vorgestellt:
 
Abb. Multikanal-Notationssysteme für proxemisches Verhalten nach E. T. Hall
 
Je nach den Untersuchungsinteressen lässt sich sein System weiter vereinfachen. Bei der Beschreibung kommunikativer Interaktion reicht es in der Regel aus, wenn man die Fußstellung, die Stellung des Beckens, der Schultern und des Kopfes der Interaktionsbeteiligten notiert. Die Blickrichtung braucht i. d. R. nur dann gesondert angegeben zu werden, wenn sie von der Kopforientierung abweicht. Ein Beispiel für die morphologische Beschreibung von zwei Interaktionspartnern in diesen Dimensionen gibt das das nachfolgende Schema.
 
Abb. Notation der Körperhaltung in dyadischer Kommunikation
 
Eine weitere Möglichkeit der Notation von Bewegungen im Raum aus der Vogelperspektive lehnt sich an Tanzpartituren an, dabei werden die Figuren, die die Interaktionspartner im Laufe der Zeit 'malen' durch einfache Pfeile nachgezeichnet.
Große Erfahrungen in der Beschreibung der Bewegungen mehrerer Personen haben Choreographen. In der Geschichte des Balletts haben sich zahlreiche Notationssysteme herausgebildet, die jeweils spezifische Stärken und Schwächen besitzen. Am bekanntesten dürften die Kodierungen von Rudolf von Laban sein
(z.B. Choreutik. Grundlagen der Raumharmonielehre des Tanzes. Wilhelmshaven 1991, The Mastery of Movement (rev. by Lisa Ullmann). Plymouth 1988 (Reprint der 4. Aufl.)) In den letzten Jahren nutzt man auch dreidimensionale elektronische Modellierungen, um die Bewegungen von TänzerInnen zu modellieren. Merce Cunninghams entsprechende Experimente sind auch im web zugänglich.
 
Abb. Ausschnitt aus einer Tanzpartitur
 
Die verschiedenen morphologischen Beschreibungen des sichtbaren Verhaltens müssen untereinander und mit dem Videomaterial koordiniert werden. Im Normalfall nimmt man eine Zeitachse, die auch in das Videomaterial eingeblendet wird, als Leitgröße und Vergleichsmaßstab. Die morphologischen Beschreibungen erfolgen auf Kodierleisten, deren Maßstab gleich sein soll. Sie können dann bei der Auswertung nach Bedarf nebeneinander gelegt/kopiert werden. I. d. R. enthält jede Kodierleiste nur die Kodierung eines Informationsmediums.
Eine vollständige morphologische Beschreibung enthält auch die Notation des verbalen und des instrumentellen Verhaltens. Das verbale Verhalten kann entsprechend der Transkriptionsregeln sehr genau oder als einfache literarische Umschrift erfolgen. Das instrumentelle Verhalten wird am besten umgangssprachlich beschrieben/
erläutert. Diese Erläuterungen fallen oftmals mit den Paraphrasen aus der sozialen Perspektive überein.
Ein einfaches Beispiel für die Aneinanderreihung solcher Kodierleisten hat schon die Abbildung "Notation der Körperhaltung in dyadischer Kommunikation" gegeben. In der nachfolgenden Abbildung "Notation von Blickverhalten und Mundbewegung" sind das Blickverhalten und die Stellung des Mundes von zwei Personen dokumentiert. Diese Gegenüberstellung ermöglicht es, die Synchronisation des Verhaltens zu untersuchen. In der Abbildung "Ausschnitt aus der Kodierung des Kundengespräches" sind die Kopf- und Schulterhaltung in der Kodierleiste zusammengefasst, die Körperorientierung aufgeführt, Erläuterungen zum instrumentellen und anderen Verhalten gegeben und außerdem die verbalen Äußerungen aufgeführt.
 
Abb. Notation von Blickverhalten und Mundbewegung
 
Die morphologischen Beschreibungen unterscheiden sich, je nachdem ob wir das menschliche Verhalten als Informations- oder als Kommunikationsmedium untersuchen. Wird es nur als Informationsmedium betrachtet, dann kodieren wir jeweils nur das Verhalten einer Person. Wir als Wissenschaftler sind dann die Betrachter, für die das Verhalten informativ ist. Entsprechend nehmen wir dann auch den Betrachterstandpunkt ein. (Rekonstruktives Herangehen!)
Untersuchen wir kommunikatives Verhalten, haben wir es mit mindestens zwei Personen zu tun. Wir müssen dann das informative Verhalten aller Beteiligten parallel darstellen. Dies ist in den vorgestellten Kodierbeispielen geschehen.
Es ist zu beachten, dass wir als Kommunikationswissenschaftler selbst beim isolierten Beschreiben nur einer Person immer berücksichtigen, dass wir es mit einer Interaktionsbeziehung zu tun haben. Informativ ist jegliches Verhalten immer nur für einen Beobachter - und möglichen Kommunikationspartner!
Synchronisations- und Rückkopplungsphänomene lassen sich demgegenüber nur erfassen, wenn das beobachtete Verhalten als Kommunikationsmedium betrachtet wird.

 

Gliederung

 

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