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George Devereux und die psychoanalytische Interpretation der Spezifik der Sozialwissenschaften |
Die Leistung des epochalen Werks von G. Devereux 'Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften' (zuerst Den Haag/ Paris 1967) liegt auf einem anderen Gebiet als jene der Hermeneutik. Er beschäftigt sich zentral mit der Beziehung zwischen dem Forscher und seiner Umwelt (und nicht seinen Mitforschern!) und sucht dabei nach den Besonderheiten, die sich ergeben, wenn diese Umwelt nicht als tot, sondern als lebendig gleich dem Forscher erlebt und untersucht wird. Ihm geht es also um die Spezifik sozialwissenschaftlicher Informationsgewinnung und insbesondere der Beobachtung. Die paradigmatische Situation der organisierten und zielgerichteten Datengewinnung über psychische und soziale Phänomene ist für ihn die Therapie, und zwar ihrer psychoanalytischen Ausprägung. Er wendet mit anderen Worten die Erfahrungen, die S. Freud und er selbst in therapeutischen Kontexten (i. w. S.) gemacht haben, auch auf die Erforschung menschlichen Verhaltens an. Seine erkenntnistheoretische Grundannahme lautet - in die Sprache der Informationstheorie übersetzt -, dass jeder Mensch über Programme verfügt, mit denen er die Informationen über seine Umwelt auswertet und weiterverarbeitet. Der wichtigste Teil dieser Programme sind Selbstmodelle, Annahmen über die eigenen Strukturen, Verhaltensweisen, Werte etc. Diese 'Maßstäbe' werden auch auf die Mitmenschen 'übertragen'. Man erfährt und misst sie an den Selbst- und Idealbildern. "Der Mensch konstruiert sich", schreibt Devereux, "ein mehr oder weniger bewusstes und teilweise idealisiertes Selbst-Modell, das ihn dann als eine Art Prüfstein, Standard oder Richtlinie für die Einschätzung anderer Lebewesen und sogar materieller Objekte dient." (S. 192) Das Aufregende ist nun, dass diese Identitätskonzepte den Menschen, auch den Therapeuten und Forschern, zum größten Teil nicht bewusst sind. Gute Sozialforscher unterscheiden sich von weniger guten dadurch, dass sie ihre Selbstmodelle besser in Rechnung stellen können: Voraussetzung kontrollierten Fremdverstehens ist in jedem Fall die Kenntnis des eigenen 'Reiz-Wertes'. (S. 49) Auszuschalten sind solche 'Reiz-Wirkungen' auf die Personen, die der Forscher beobachten will, grundsätzlich nicht (S. 18 ff.). Daraus zieht die psychoanalytische Sozialforschung den Schluss, dass es wenig Sinn macht, durch allerlei experimentelle situative und methodische Vorkehrungen den Kontakt des Forschers zu seinen 'Versuchspersonen' zu mindern, sondern dass es darauf ankommt, ein Forschungssetting zu schaffen, in dem die Einflüsse des Forschers auf sein Gegenüber in Rechnung gestellt werden können. Die Situation verkompliziert sich weiter dadurch, dass man nicht nur davon ausgehen muss, dass der Beobachter seine Untersuchungsobjekte, sondern dass diese auch den Beobachter beeinflussen - wie dies ja auch alle interaktionistischen Schulen, allen voran G.H. Mead, annehmen. Nicht nur der Beobachter beobachtet die Versuchspersonen, sondern diese treten in der gleichen Rolle wie der Wissenschaftler auf und beobachten auch diesen! Dieses wechselseitige Beobachten und Reagieren kann nicht ohne Einfluss auf die Programme beider Seiten bleiben. Es kommt darüber hinaus oft vor, dass die 'Bilder', die der eine Interaktionspartner auf den anderen "überträgt", von diesem unbewusst angenommen und zum Ausgangspunkt seines Handelns und Wahrnehmens gemacht werden. Selbst wenn man im Normalfall seine Wertmaßstäbe ganz gut kennt, steht man in solchen, wie die Psychoanalyse sagt "Gegenübertragungs"-situationen auf unsicherem Boden: Man merkt gar nicht, dass man seine üblichen Typisierungen verlassen hat und kennt die veränderten nicht, die an einen herangetragen wurden, die man dann unwillkürlich akzeptiert hat und die nun den Ablauf der Interaktion und Wahrnehmung steuern. Die Angst des Sozialforschers vor solchen Situationen besitzt demnach gute Gründe und die Flucht in rückkopplungsarme Methoden, die Interaktion und damit die Gefahr solcher Verwicklungen ausschließen sollen, kann auf Verständnis rechnen. Wenn man freilich über die Folgen dieser, interaktive Rückkopplungen minimierenden Anstrengungen (Einwegscheibe, standardisierte Fragebogen, teilnahmslose Beobachtung ....) nachdenkt, denn erscheint der kommunikativen Sozialforschung der Preis zu hoch: Das erste, was die so behandelten 'Versuchspersonen' - bewusst oder unbewusst - merken, ist, dass die Forscher Angst vor einer intensiveren Interaktion mit ihnen haben. Das zweite ist, dass sie sich selbst als genau das nicht wahrgenommen und behandelt fühlen, als dass sie eigentlich untersucht werden sollen: als soziale Wesen, die der Interaktion bedürfen, um sich als solche zu artikulieren und zu entwickeln. Devereux und andere Sozialforscher vermuten, dass sich die Beobachteten unter diesen Umständen anders, weniger sozial und menschlich verhalten als im normalen Alltag. Die Ergebnisse hätten danach nur einen sehr begrenzten Geltungsbereich. Weiter ist zu berücksichtigen, dass der Beziehungsabbruch natürlich auch von den Forschern bemerkt wird und sie darauf, je nach Veranlagung, mit Schuldgefühlen, Voyeurismus, Arroganz etc., jedenfalls mit gestörter Wahrnehmungskraft reagieren. Als Ausweg schlägt Devereux vor, die Grundsituation sozialwissenschaftlicher Erfahrungsgewinnung neu und anders als in den traditionellen Naturwissenschaften zu bestimmen. Die Erkenntnis, dass wir aufgrund der gemeinsamen Menschlichkeit immer, wenn wir andere Menschen erforschen, auch etwas über uns selbst (als Menschen) erfahren, wir also im Anderen uns erforschen und umgekehrt, braucht nicht nur wie von der Empirischen Sozialforschung als Hürde auf dem Galopp zur Objektivität erlebt zu werden, sondern sie lässt sich auch produktiv wenden. An die Stelle der herkömmlichen Annahme, dass "die Grundoperation der Verhaltens-wissenschaft die Beobachtung eines Objekts durch einen Beobachter" ist, "muss die Vorstellung treten, dass es um die Analyse der Interaktion zwischen beiden geht, wie sie in einer Situation stattfindet, in der beide zugleich für sich Beobachter und für den anderen Objekt sind". (S. 309) Es geht also darum, die Forschung als selbstreferentiellen Prozess zu gestalten - ein Grundzug auch der Kommunikativen Sozialforschung. Aber nicht nur im Hinblick auf die Berücksichtigung von Interaktion und speziell den dabei auftretenden Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen erweist sich die psychoanalytische Sozialforschung als ein Vorläufer der Kommunikativen Sozialforschung. Letztere hat auch das komplexe Menschen- und Forscherbild übernommen. Die Psychoanalyse hat den Menschen von Beginn an als ein - heute würden wir sagen: - 'Ökosystem' betrachtet, in dem drei ganz unterschiedliche Systemtypen zusammenwirken: das durch die Lebensgeschichte geprägte psychische System (Ich), das durch die Übernahme sozialer Normen entwickelte 'Über-Ich', was den Menschen zu einem Element des ihn umgebenen Sozialsystems macht und das biologische System ('Es'), das im Verlauf der Stammesgeschichte die Trieb- und Affektstruktur des Menschen geprägt hat. Sie - und ebenso übrigens auch die Sozialpsycholgie in der Nachfolge von G.H. Mead - ist immer davon ausgegangen, dass es dem spezifischen evolutionären Emergenzniveau der Menschheit unangemessen ist, diese ganzheitliche Sichtweise aufzugeben und etwa nur das Psychologische, nur das Soziale oder nur das Biologische am Menschen zu untersuchen. Diese ganzheitliche Forderung hat sich bislang im Wissenschaftsbetrieb allerdings kaum einlösen lassen. Für jede der drei Systematisierungsmöglichkeiten hat sich eine spezielle Disziplin, eben die Psychologie, die Soziologie und die Biologie bzw. Ethologie herausgebildet. Vor dem Hintergrund des system- und des informationstheoretischen Paradigmas sind in letzter Zeit die Aussichten gewachsen, die ganzheitliche Sichtweise tatsächlich zu praktizieren. So wie wir davon ausgehen, dass Computer über mehrere Prozessoren verfügen, die einkommende Ergebnisse/ Informationen nach je eigenen Programmen verarbeiten und die Ergebnisse dann ggf. noch einmal austauschen und kombinieren können, so kann man sich vorstellen, dass der Mensch über mehrere Sinnesorgane und Prozessoren verfügt, z. B. das von Freud angenommenen 'Ich', 'Es' und 'Über-Ich', die Informationen gewinnen und verarbeiten können. Devereux unterscheidet sich nun - und da liegt er ganz auf der Linie des Begründers der Psychoanalyse - von anderen Sozialforschern dadurch, dass er das triebhafte 'Unbewusste', das 'Reich der Affekte' zum 'wichtigsten Sinnesorgan' Prozessor erklärt. "Der ideale Psychoanalytiker", und auch der Sozialforscher, "kanalisiert absichtlich Reize", die von den Interaktionspartnern ausgehen, "direkt in sein eigenes Unbewusstes". (335) Er zensiert diese Reize/ Informationen nicht durch seine bewussten Programme, sondern lässt sie auf sein Gefühl wirken und sammelt so affektive Daten. Diese auf diese Weise ausgelösten emotionalen Daten sind reicher, als wenn er bloß rational registrierte, was ihm seine äußere Umwelt - die Umwelt außerhalb seiner Haut - anbietet. ![]() |
Die Begründung für die Bedeutung des Unbewussten und der Triebe und der Affekte bei Devereux dürfte letztlich darin liegen, dass auf diesem Feld die Unterschiede zwischen dem Beobachter und seinem Gegenüber eben aufgrund ihrer 'gemeinsamen Menschlichkeit' am geringsten sind (Der Dialog von 'Unbewusst zu Unbewusst' wird als ein symbiotischer Dialog von gleich zu gleich geschildert, in dem deshalb' keine Desolidarisierung' und 'Fremdheit' stört). Ich sehe keine Notwendigkeit für eine solche Hierarchisierung. Wichtig ist aber für die Kommunikative Sozialforschung, dass sie |
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die Psychodynamik und die emotionalen Beziehungen sowohl innerhalb des Forschungssystems als auch in dem Verhältnis zwischen dem Forschungssystem und seiner Umwelt berücksichtigt. |
Zweitens misst sie auch |
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den affektiven Daten und |
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biogenen Faktoren wie Alter und Geschlecht bei den Forschern und bei ihren Versuchspersonen Bedeutung zu. Üblicherweise werden solche Faktoren und deren Typisierungen nur bei den Vps erhoben! |