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Reflexion des Forschungsprozesses |
Quelle: Gerber,
Dieter/Scherer, Brigitte, Empirische Forschungsarbeit Organisationsdiagnose:
Beforschung städtischer Betriebe, Studienarbeit EVFH Hannover 2001,
Postgradualer Studiengang 'Supervision', Ltg. Prof. Dr. Kornelia Rappe-Giesecke. |
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Am Ende einer Organisationsdiagnose
eines städtischen Unternehmens, in deren Rahmen erhebliche Probleme
zwischen Stadtverwaltung, Organisationsleitung und Mitarbeitern festgestellt
wurden, reflektiert das Forscherteam den Forschungsprozess. |
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„In was waren wir
da hineingeraten? Denn schließlich mussten wir am Ende doch einsehen,
dass wir immer wieder mitagiert hatten. Uns imponierte die wiederholte
Heftigkeit der Inszenierungen und die Kraft, der Sog, der von ihnen ausging,
so dass es uns oft in den konkreten Situationen misslang, eine kritische
Distanz zu wahren. So wie wir uns schon vor jeder persönlichen Begegnung
mit dem System uns dazu gedrängt sahen, „Grenzen“ nicht
einzuhalten, so geschah das immer wieder im Laufe des Prozesses. Jetzt
– im Nachhinein – verfolgt man die Geschichte immer wiederkehrender
Inszenierungen und Grenzverletzungen, verwundert es zugleich wenig. Die
Grenzüberschreitungen im System gegenüber Kunden und Kundinnen,
die Grenzüberschreitungen oder Grenzzumutungen des Bürgermeisters
gegenüber dem Leiter der Organisation und dessen eigenen gegenüber
den Mitarbeiter/innen spiegelten sich hier wieder. Vor allem spiegelten
sich aber die unklaren Grenzen, die unsicheren Rahmenbedingungen, innerhalb
derer das Subsystem sicher hätte handeln können. Was uns lange
verwundert hatte, nämlich die Heftigkeit, mit der wir involviert
wurden, sind wir doch beide gut geübt im Einnehmen einer reflexiven
Distanz, schien nun eine Erklärung gefunden zu haben. In unserer
Zwischenreflexionen in diesem Bericht sprachen wir von den „defensiven
Routinen", wie sie Chris Argyris beschreibt, jenem Schutzmechanismus,
der vor Gesichtsverlusten schützen und zu kontraproduktiven Ergebnissen
führt. Reicht dieses theoretische Konzept aber schon aus. um diese
heftige Dynamik zu verstehen? Stichhaltiger schien uns der Gedanke an
Bions Containing-Funktion . Gibt es keinen sicheren Rahmen, so können
Unsicherheit und Angst nicht produktiv verarbeitet werden, die Folgen
sind Ausgrenzungen und Spaltungsprozesse. Wenn man von der emotionalen
Qualität dieser Inszenierungen ausgeht, zum Beispiel bezogen auf
die Wechselbäder, die uns bereitet wurden, könnte man auch an
Borderline-Strukturen denken, die ja auf der psychischen Ebene ebenfalls
mit unsicheren Strukturen zu tun haben. Was fangen wir aber mit einer
solchen individualpsychologischen Kategorie hier an. Können Systeme
auch borderline Dynamiken entfalten? Das hieße - verfolgen wir die
Analogie etwas weiter -, das System städtischer Betrieb bewegte sich
am Rande eines (katastrophischen) Zusammenbruchs. Dazu passten die nicht
nur fantasierten maroden Gasleitungen im Untergrund. Dazu passte auch
die Verleugnungsstruktur einer ganz realen Zukunftsunsicherheit gegenüber,
die für sich allein genommen keineswegs solche bedrohlichen Ausmaße
hätte annehmen müssen. Je mehr aber vermieden werden musste.
sich realistisch und kreativ mit Zukunft und Veränderung auseinanderzusetzen,
desto bedrohlicher dürfte diese Zukunft erschienen sein und um so
heftiger musste sie dann wiederum abgewehrt werden. So konnte das System
kaum Impulse von Außen aufnehmen, um sich erhaltend zu verändern,
es steuerte - zumindest auf der abgewehrten emotionalen Ebene - auf eine
„Katastrophe" zu. Aber auch auf der ganz handfesten Seite,
konnte festgehalten werden, dass der Betrieb, würde sich an dieser
Interaktionsstruktur nichts verändern, kaum eine wirkliche Chance
hätten, sich auf dem Markt zu behaupten. Betrachtet man nun die Art unserer zurückhaltenden, moderaten und um Vermittlung bemühten Rückmeldung nochmals, so kann man auch hier auf den Gedanken kommen, dass wir uns an den defensiven, vermeintlich schützenden Routinen beteiligt haben. Nehmen wir aber unsere Diagnose, dass es sich im Falle unseres Betriebes um eine der Borderline-Struktur ähnliche Dynamik handelt, ernst, so kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass unsere Zurückhaltung zunächst völlig angebracht war. Unsrer Rückmeldung - so vermuten wir - versandete, sie konnte vom System nicht genutzt werden. Der Leiter, der bei unserem letzten Zusammentreffen bereits andeutete, dass er sich „umschaut", hat kurz danach den Betrieb verlassen. Der Betrieb ist noch heute ohne Leiter, der Stellvertreter hat bislang die kommissarische Leitung inne. Hat der Kapitän das „sinkende" Schiff verlassen? Wir denken, dass die Zukunft eines eigenständigen städtischen Betriebes in hohem Maße davon abhängt, ob klare und haltende Strukturen und widerspruchsfreie Rahmenbedingungen geschaffen werden können, die Entwicklung erst möglich machen. |
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Interventionsarchitektur |
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Es bleibt aber ja die
Frage, wie hätten wir weitergearbeitet, wenn wir einen Beratungsauftrag
erhalten hätten? Die grundständige Ambivalenz zwischen geforderter
Selbständigkeit und der durch die Betriebssatzung festgelegte Unselbständigkeit
hätte wohl der wichtigste Ausgangspunkt werden müssen. Das bedeutet,
dass die Beratungsarbeit nicht einfach auf den Betrieb begrenzt hätte
werden können. sondern zuallererst wären deren existentielle
rechtlichen Grundlagen und ihre Umsetzung zu betrachten gewesen. Setzen
wir mal voraus, der Bürgermeister und die Stadtverwaltung hätten
sich ebenfalls auf einen solchen Prozess eingelassen, so hätten wir
darin den eigentlichen Ansatzpunkt eines Veränderungsprozesses gesehen,
der in Richtung Eigenverantwortung und selbständiger Behauptung auf
dem Markt hätte führen können. Das heißt, in einem
gemeinsamen Prozess wären Rahmenbedingungen und Zuständigkeiten
zu überprüfen gewesen und Vereinbarungen über Verantwortungsbereiche
hätten ausgehandelt und festgelegt werden müssen. Die Gestaltung
einer produktiven Interventionsarchitektur
wäre wohl mit der folgenden Zielorientierung und Priorität sinnvoll
gewesen: |
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Analyse
und Überarbeitung der bestehenden Geschäftsgrundlagen (Betriebssatzung
etc.) und Entwicklung einer Kooperationsvereinbarung zwischen dem
Betrieb, der öffentlichen Verwaltung und den politischen Organen
und Gremien. Ein Teilziel im Rahmen einer solchen Kooperationsvereinbarung
wäre z.B. die gemeinsame Erarbeitung und Aushandlung von verlässlichen
Verfahrensregeln, die dem Betrieb einen stabilen und orientierenden „Entwicklungs-
und Gestaltungskorridor" eröffnen. Hierzu bedarf es eines gemeinsamen
Auftrages von Politik und Verwaltung. Die Bearbeitung eines solchen
Auftrages verlangt auch aufgrund der besonderen rechtlichen Relevanz aus
unserer Sicht die Vernetzung und Kooperation mit einem weiteren externen
Berater mit verwaltungs- und / oder rechtswissenschaftlichen Kompetenzen. |
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Die Stabilisierung
und Unterstützung der Leitung des Betriebes in ihrer Rolle
„zwischen Baum und Rinde" hätte eine weitere Priorität
sein können. Das Ziel dieses Führungs-Coachings wäre die
Förderung und Optimierung der vorhandenen Kompetenzen und eine Anleitung
zur Selbstreflexion durch Interventionsangebote wie z.B. Rollenanalyse
und ggf. Rollenverhandeln. Aspekte der Mitarbeitermotivierung und -Beteiligung
könnten weitere Themen in der Maßnahme sein. |
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In Form von Projektgruppen oder
einer Organisationsentwicklungsmaßnahme schließlich hätte
die Mitarbeiterbeteiligung ihre Umsetzung finden können. |
Zur Selbstreflexion des Forschungsteams |
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Ganz zum Schluss möchten
wir noch ein Phänomen beleuchten, dass unsere gemeinsame Kooperation
im Forschungsteam betrifft. Stets bei allen Absprachen, Reflexionen, bei
der Aufteilung der Arbeit und selbst beim gemeinsamen und wechselweisen
Schreiben dieser Hausarbeit funktionierte unsere Kooperation reibungslos
und ohne Konflikte. Warum scheint uns dies aber erwähnenswert? Nun
gehen wir ja im Normalfall davon aus. dass sich Konflikte im beforschten
System im Beratersystem widerspiegeln können. Was heißt das
dann in unserem Falle? Gab es in diesem System keine Konflikte? Das kann
mit Sicherheit verneint werden. Wir habe einige davon beschrieben, wir
haben aber auch beschrieben, wie zuverlässig, kooperativ und reibungslos
- „Hand-in-Hand" - das von uns beforschte Subsystem arbeitete.
Spiegelte sich also diese Kooperation bei unserer Kooperation wider? Oder
sollte man das Spiegelungsphänomen lieber nicht all zu viel strapazieren
und davon ausgehen, dass Beraterteams manchmal auch gut kooperieren, obwohl
im beforschten System allerhand los ist. Wir neigen zu letzterer Annahme
und möchten sie noch begründen. Spiegelungsphänomene können
unseres Erachtens nur dann im Forschungs- bzw. Beratersystem wirksam werden,
wenn die psychosoziale Dynamik oder Problematik eine Entsprechung findet.
Stimmt aber unsere Diagnose einer borderline ähnlichen Dynamik in
unserem beforschten System, dann ist es nicht verwunderlich, dass diese
Art der Dynamik in unserem Team nicht wirklich zum Tragen kommen konnte,
sind wir doch beide gut strukturiert und weit entfernt von einer solchen
psychischen Dynamik.
Nachtrag des Bearbeiters (2004): Der Projektbericht über den Erstkontakt ist für den Leser mindestens ebenso irritierend, wie das Forscherteam ihn ursprünglich empfunden hat. |
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Beispiele zur Organisationsdiagnose städtischer Betriebe |
(1) Vgl. Argyrsi, Chris, Defensive Routinen und
eingeübte Inkompetenz, in: Fatzer, Gerhard (Hrsg.), Organisationsentwicklung
und Supervision. Erfolgskriterien bei Veränderungsprozessen. TRIAS-Kompass
1, Zürich: EHP Organisation, S. 109 – 148. (2) Vgl. Bion, Winfried, Erfahrungen in Gruppen und anderen Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971. |