Leitfaden Erhebung und Interpretation affektiver Daten
   
Quelle: Rhein, Rüdiger/Weber, Stefan, Diagnose der Organisation der Erstausbildung in einer Versicherung, Studienarbeit EVFH Hannover, Postgradualer Studiengang ‚Supervision’. Ltg. Prof. Dr. Kornelia Rappe-Giesecke, 2001.

Nach dem ersten Kontakt- und Sondierungsgespräch mit den Mitarbeitern der Abteilung Erstausbildung beschreibt das Forscherteam (SW und RR) seine Affekte.

Affekte des Forscherteams

Auf dem Weg zur Organisation
SW: das Ziel muss um jeden Preis erreicht werden, Versagensängste
RR: wenn etwas nicht geht, dann geht es nicht, Gelassenheit; gleichwohl die Sorge, auf absehbare Zeit keinen neuen Termin zu finden

Beim Aufenthalt im Gebäude
SW: Die Größe und Schönheit des „Palastes" betäubte für einen Augenblick, bestach und ließ mich für einen kurzen Moment einen Umhang des Geschmeichelt-Seins spüren. Weitere Affekte waren die Angst vor der Größe der Organisation („David gegen Goliath"), außerdem löste der Überfluss Verachtung aus und ließ Vermutungen zur Verschwendung aufkommen.

Beim Gespräch mit dem Team
RR: Das ausführliche Referieren der Aufgaben der Abteilung durch Frau G.-K., Frau W. und auch Herrn B. empfand ich beinahe als erschlagend, als verwirrend und - im ersten Moment - als durchaus beeindruckend.
SW: Ich empfand Angst vor der Angst der Abteilung in Bezug auf die Anonymisierung der Interviews, und fühlte mich verwirrt, als Frau G.-K. das operative Geschäft der Abteilung darstellte, außerdem bekam ich Angst, dass wir keine Steuerungsfunktion mehr haben würden.

Beim Mittagessen
SW: Die Episode beim Mittagessen hatte vor allem mich betroffen, ich war in die Schusslinie geraten, während RR „ungeschoren davonkam". Ich hatte Angst vor der Direktheit von Frau N., ein Gefühl von Ohnmacht, Abhängigkeit, und Schuldgefühle als Macho ertappt worden zu sein.
RR: ich hatte Sorge um SW; Angst vor seiner Demontage durch Frau N. und Frau G.-K

Interpretation
Während wir als Beratersystem aufgrund der erschwerten Anreise von SW alle Hebel in Bewegung setzten, das Treffen mit der Organisation möglich zu machen, reagierte diese (vertreten durch Frau W.) auf die telefonische Mitteilung über unsere Situation mit Gelassenheit und hatte keine großen Schwierigkeiten, den Termin um eine Stunde zu verschieben. Das Apercu eines Dozenten im Studium, es gebe keine Zufälle, sondern nur unentdeckte Zusammenhänge, diente uns als heuristische Folie, uns durch den Zwischenfall nicht verunsichern zu lassen, sondern eine neue Sicht auf die Organisation zu gewinnen: was bedeutet es, wenn man den Zwischenfall als (zwar nicht geplante, wohl aber stattgefundene) Intervention auffasst? Es lässt sich dann möglicherweise auf den Umgang der Organisation (die ja eine Versicherung ist!) mit unvorhergesehenen Zwischenfällen schließen:
Es kann durchaus vermutet werden, dass der Umgang des Rat suchenden Systems mit dem so genannten Zwischenfall der Anreise eine Spiegelung der Dynamik innerhalb der Organisation darstellte. Wollte eine Versicherung aus jeder äußeren Katastrophe eine innerlich miterlebte Katastrophe machen, wäre sie handlungsunfähig.

SW: Der äußerliche Eindruck beim Aufenthalt im Verwaltungsgebäude führte bei mir zu Fragen nach dem Wozu: Womit verdienen die Menschen in der Organisation ihr Geld? Worin liegt der Nutzen dessen was sie tun und darstellen? Was ist der Sinn, was der Zweck der VERSICHERUNG? Gibt es innerhalb der Abteilungen in der Organisation eine Notwendigkeit, so etwas wie eine Daseinsberechtigung herstellen zu müssen?
Dies sind Fragen, die dazu führen die eigene Haltung in Bezug auf Überfluss, Einfluss, Größe und Ohnmacht zu überprüfen.
RR: Die ausführliche Darstellung der Arbeitsaufgaben der Abteilung wirkte auf mich beeindruckend, und dies sollte wohl auch so sein.

Eine Primary Task war nicht sofort zu erkennen. Es schien kein gemeinsames Ziel, keine gemeinsame Vision zu geben. Gleichwohl entstand der Eindruck, die Arbeit der Abteilung könnte von weniger Menschen geschafft werden. Es war nicht klar, ob die Organisationsdiagnose dazu dienen könnte deutlich zu machen, dass es einen Personalüberschuss gibt.

SW: Noch pointierter formuliert: alles, was in dieser Abteilung gemacht wird, ist unwichtig;
der Arbeitsdruck ist selbst erzeugt, um Geschäftigkeit darzustellen.
Aus unserer Sicht bestand die Abteilung aus ängstlichen Menschen, die viel Zeit damit verbrachten, nicht miteinander zu arbeiten. Die Abteilung wirkte nicht wie ein Team. Es schien keine Offenheit und keine Gesprächs-, bzw. Streit- oder Diskussionskultur zu bestehen.
Wir schienen als Beratersystem in dieser ersten Phase von der Dynamik der Organisation verschlungen worden zu sein. Die freundliche Einladung zum Mittagessen war so etwas wie „der Gang zur Schlachtbank". Fast wären wir verspeist worden, kamen aber noch mit einem blauen Auge davon.
Zumindest ging es beim Mittagessen sehr stark ums Persönliche, die Aufgaben und Funktionen traten in den Hintergrund.
Die Dynamik zwischen Männern und Frauen wirkte nicht gleichberechtigt sondern vernichtend konkurrierend.
Noch auf dem gemeinsamen Rückweg diskutierten wir, unter dem Eindruck des Erlebten beim Mittagessen, das Verhältnis von Männern und Frauen in der Abteilung, die „Demontage von SW als Mann" als Probedeutung, die Position von Herrn B. sowie Kastrationsszenarien als Probedeutung.
Da sich in Führungspositionen üblicherweise Männer befinden, wäre zu fragen, ob die Frauen in der Abteilung etwas agieren. Zumindest wäre zu fragen, welche Rolle Männer und Frauen in der Abteilung oder in der Organisation insgesamt spielen.

Verwundern mag die Tatsache, dass die Abteilung - besetzt mit hoch ausgebildeten Mitarbeiter/innen - nicht in der Lage war, eine Lösung des arbeitsorganisatorischen Problems herbeizuführen. Dies kann sich eigentlich nur erklären, wenn man Verstrickungen oder Lähmungen auf der Beziehungsebene unterstellt.
Es wäre auch an dieser Stelle denkbar, dass die ausschließliche Defizitorientierung unserer Betrachtung eine Spiegelung darstellt, immerhin hat eine Versicherung in der Regel mit Katastrophen zu tun.
Diagnostisch relevant mag ferner sein, dass wir die ersten beiden Termine, nämlich die Vorgespräche mit der Leitung und mit dem Team, ohne Rückkopplung mit der Studiengangsleitung durchgeführt haben; äußerlich ließ sich dies auf die Schnelligkeit von Frau N. zurückführen, mit der sie die Terminabsprachen mit uns forciert hat. Möglicherweise drückt sich hierin auch der unbefangene, oberflächliche Umgang der Organisation mit konzeptioneller Arbeit aus.

(1) Weisbord, Marvin, Organisationsdiagnoise. Ein Handbuch mit Theorie und Praxis, Bratt-Institut für neues Lernen, Goch 1983.
 
Beispiele zur Organisationsdiagnose Erstausbildung in einer Versicherung

 
 
 

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